RAINER MARIA RILKEArgwohn JosephsUnd der Engel sprach und gab sich Mühan dem Mann, der seine Fäuste ballte:Aber siehst du nicht an jeder Falte,dass sie kühl ist wie die Gottesfrüh.Doch der andre sah ihn finster an,murmelnd nur: Was hat sie so verwandelt?Doch da schrie der Engel: Zimmermann,merkst du's noch nicht, dass der Herrgott handelt?Weil du Bretter machst, in deinem Stolze,willst du wirklich den zur Rede stelln,der bescheiden aus dem gleichen HolzeBlätter treiben macht und Knospen schwelln?Er begriff. Und wie er jetzt die Blicke,recht erschrocken, zu dem Engel hob,war der fort. Da schob er seine dickeMütze langsam ab. Dann sang er lob.
Joseph sieht die Verwandlung, die sich an Maria vollzieht. Er sieht aber nicht den, der sie verwandelt.
Blind für Gott laufen wir manches Mal durchs Leben, sehen nur die „harten Fakten", die mühsam gezimmerten Bretter und Balken, sehen das Ärgerliche, Ungewohnte, Unverstandene – nicht aber den, der in alldem Gutes, Wunderbares, Heiliges wirkt.
Auch im Schweren wirkt Gott. Auch das Ärgerliche und Unverstandene muss ihm dienen. Wenn wir das glauben, können wir lobsingen – jeden Tag, wenigstens ganz leise.
Quelle: Wunderbare Weihnachtszeit. Ein Hausbuch. Herausgegeben von Adolf Haslinger. Residenz Verlag, Salzburg / Wien 1991. S. 14. Orthographisch angepasst an die Neue Deutsche Rechtschreibung.
ich freue mich über Deinen ersten Adventsbeitrag in diesem Jahr mit Rilkes Gedicht aus seinem Zyklus "Marien-Leben", den er auf Schloss Duino in der Nähe von Triest schrieb. Von dort aus führt ein romantischer "Rilke-Weg" am Rande der Steilküste zur Stadt, den ich vor ein paar Jahren bei schönstem Wetter entlang ging.
Ich wünsche Dir eine gesegnete Adventszeit und grüße Dich.
Hans-Jürgen
vielen Dank für deine Rückmeldung. Was du schreibst, wusste ich nicht. Schön, dass du den Rilke-Zyklus dann sozusagen hautnah erleben konntest.
Auch dir eine gesegnete Adventszeit und viele Grüße
Klaus