Mittendrin in der Kirchengemeinde
Warum in der Gemeinde keiner isoliert sein sollte
Klaus Straßburg | 06/03/2023
Gestern war ich im Gottesdienst. Es gibt schon längst keine Corona-Regeln mehr: weder Masken noch Abstand noch Singverbot. Alle sitzen nebeneinander, unterhalten sich vor dem Gottesdienst angeregt miteinander und singen im Gottesdienst aus vollem Hals mit. Corona existiert nicht mehr.
Oder doch? Es mag ja verrückt sein, aber ich praktiziere im Gottesdienst immer noch die Covid-19-Distanz. Das bedeutet: Ich komme etwas früher, nehme mir einen Stuhl aus der Reihe und verdrücke mich in die hinterste rechte Ecke, direkt neben der Heizung, wo keiner mehr sitzt – außer mir eben. Die Gemeinde sehe ich dann vor mir, alle mit dem Rücken zu mir, rechts neben und hinter mir ist die Wand und links neben mir – gähnende Leere.
Das ist meine Covid-19-Distanz. Kann sein, dass du jetzt denkst: Was ist das denn für'n komischer Typ? Aber ich fühle mich so einfach besser. Vor allem, wenn ich an die singende Gemeinde denke und die Millionen Aerosole, die dann in die Luft gepustet werden. Ich sage mir: Dann sitze ich lieber mutterseelenallein hinten in der Ecke. Jedenfalls noch, bis der Winter vorbei ist.
Ach so, ich muss vielleicht hinzufügen, dass die Gemeinde keine von denen ist, in denen sonntags eigentlich überall gähnende Leere herrscht. In vielen Gemeinden hat man ja die freie Platzwahl, wenn man auf Distanz gehen will. 20 "Gemeindeglieder" verteilen sich im riesigen Kirchenschiff. Da muss man nicht lange nach einem Platz suchen, auf dem man isoliert ist.
In meiner Gemeinde ist das anders. Die ist ziemlich gut gefüllt. Außerdem hat sie keine Bänke, sondern Stühle. Das hat den Vorteil, dass ich mir einen Stuhl greifen und ihn in die Ecke versetzen kann. Außerdem finde ich Stühle sowieso bequemer als die meisten Kirchenbänke. Und Bequemlichkeit im Gottesdienst ist mir wichtig.
Ein weiterer Vorteil meines Platzes in der Ecke ist, dass er sich genau neben dem Heizkörper befindet. Ich hasse Gottesdienste, in denen ich frieren muss. Unser Gottesdienstraum ist zwar nicht kalt, aber in diesem Jahr auch nicht so richtig warm. Die Gemeinde will Gas sparen wegen des überflüssigen Krieges, den der doofe Putin vom Zaum gebrochen hat. Deshalb habe ich auch gestern kalte Füße bekommen – trotz des nahen Heizkörpers. Aber kalte Füße sind bei mir ziemlich normal.
Da saß ich also gestern hinten in der Ecke und schaute mir an, wie sich der Saal langsam füllte. Ich bilde mir ein, dass einige etwas irritiert guckten, als sie mich dort hinten in der Ecke so distanziert sitzen sahen. Aber das war mir egal. Und plötzlich habe ich doch tatsächlich eine Frau entdeckt, die eine Maske trug. Kaum zu glauben! Eine weitere Person aus dem Team "Vorsicht". Sie löste das Problem zwar auf andere Weise als ich. Aber immerhin fühlte ich mich nun nicht mehr so als Außenseiter.
Ich muss allerdings zugeben, dass der isolierte Platz auch einen gravierenden Nachteil hat. Denn wenn man die Covid-19-Distanz nicht praktiziert (oder das Problem so löst, dass man eine Maske trägt), dann kann man sich neben andere Gemeindeglieder setzen. Und wenn man neben anderen Gemeindegliedern sitzt, kann man mit denen reden, solange der Gottesdienst noch nicht angefangen hat. Manchmal auch ein leises Wort während des Gottesdienstes. Ich hatte keine Gemeindeglieder neben mir. Also konnte ich auch mit keinem Reden.
Überhaupt hatte ich während des Gottesdienstes das Gefühl, nicht so ganz dazuzugehören. Ich war zwar dabei, aber nicht so richtig. Ich nahm am Gottesdienst teil, war aber von der Gemeinde isoliert. Ich war eher ein Beobachter als ein Teil der Gemeinde. Es ist ein Unterschied, ob man mittendrin sitzt oder allein in der Ecke.
Es gibt Menschen, die sitzen immer in der Ecke. Jedenfalls symbolisch gesprochen. Sie nehmen am Gottesdienst teil, sind aber von der Gemeinde isoliert. Sie reden mit keinem, sondern streben nach dem Gottesdienst strikt dem Ausgang zu und verschwinden nach Hause. Sie wollen gar keinen Kontakt.
Eigentlich hat Gemeinde ja etwas mit Gemeinschaft zu tun. Eine Gemeinde ist also nicht die Summe vieler Einzelner, die voneinander isoliert sind. Sondern eine Gemeinde ist eine Gemeinschaft von Leuten, die etwas miteinander gemein haben und gemeinsam etwas erleben und tun. Die Menschen einer Kirchengemeinde teilen einen Glauben miteinander, hören gemeinsam das Evangelium und bezeugen es gemeinsam.
Eigentlich kann es in einer Kirchengemeinde also keine isolierten Menschen geben. Nun kann es sein, dass jemand deswegen isoliert ist, weil er von den anderen Gemeindegliedern nicht beachtet wird. Dann macht die Gemeinde etwas falsch.
Ich muss ehrlich sagen, dass mir die Gemeinschaft mit den anderen Glaubenden mindestens ebenso wichtig ist wie die Verkündigung des Evangeliums. Oder anders gesagt: Wenn die Gottesdienste in meiner Gemeinde auch noch so schön und die Predigten noch so gut wären – die Gemeinde könnte mir mal den Buckel runterrutschen, wenn mich in ihr niemand beachten würde.
Beachten hat etwas mit achten zu tun: Wir achten jemanden, wenn wir ihn be-achten, also ihn wahrnehmen, freundlich zu ihm sind, mit ihm reden, ein offenes Ohr für seine Nöte haben und ihm in Krisen helfen. Das sollte für eine Kirchengemeinde selbstverständlich sein.
Ist es aber leider nicht. Das ist ein Grund dafür, dass sich viele Menschen in Kirchengemeinden nicht wohlfühlen.
Andererseits gibt es aber auch viele Menschen, die zwar die Gottesdienste der Kirchengemeinde besuchen, ansonsten aber von ihr in Ruhe gelassen werden wollen. Oder sogar Menschen, die vielleicht einmal im Jahr (wenn überhaupt) einen Gottesdienst besuchen (wenn du jetzt an Weihnachten denkst, liegst du richtig). Sie wollen aber Mitglieder der Kirche sein. Sie sagen dann: "Glauben kann ich auch allein. Dazu brauche ich die Kirche nicht."
Äh – ich würde sagen: Knapp daneben ist auch vorbei. Natürlich muss sich jeder allein entscheiden, ob er glauben will oder nicht. Aber dass er sich überhaupt entscheiden kann, liegt daran, dass es eine Kirchengemeinde gab, die das Evangelium verkündet hat. Ohne Gemeinde gäbe es also keinen Glauben.
Und wenn sich jemand für den Glauben entschieden hat, ist es in unserer glaubensarmen (um nicht zu sagen gottlosen) Welt nicht so einfach, auch dabei zu bleiben. Denn wenn man nur Kontakt zu Menschen hat, die mit dem Glauben nichts am Hut haben, trägt man bald denselben Hut. So sind wir Menschen nun mal: Wir passen uns unserer Umgebung an. Und auch der stärkste Glaube kommt irgendwann in eine Krise. Und dann? Wenn niemand da ist, mit dem man dann über seine Glaubenskrise reden kann, hat man schlechte Karten.
Darum ist es wichtig, wirklich in der Gemeinde drin zu sein. Nur in der Gemeinde hört man das Evangelium und lernt dazu. Dann kann der Glaube sogar wachsen. Ein Glaube aber, der irgendwo auf dem Stand des Konfirmandenunterrichts stehengeblieben ist, weil er danach nichts mehr dazugelernt hat, ist irgendwie unterbelichtet.
Nur in der Gemeinde findet man auch Unterstützung in Glaubenskrisen. Es macht viel aus, mit einem Christen oder einer Christin reden zu können, die auch schon ähnliche Krisen durchgemacht haben. Man erfährt Trost und Hilfestellung, damit der Glaube nicht schwindet.
Nur in der Gemeinde kann man schließlich seinen Glauben mit Wort und Tat bezeugen. Denn die Gemeinde schafft mehr als der Einzelne. "Einsam bist du klein. Aber gemeinsam werden wir Anwalt des Lebendigen sein", heißt es in einem Lied.* Gemeinsam kann man mehr Menschen erreichen als einer allein. Für die Verkündigung des Evangeliums wird jeder mit seinen Begabungen gebraucht.
Die Gemeinde hilft also dabei, den eigenen Glauben zu vertiefen, an ihm auch in Krisenzeiten festzuhalten und dem Auftrag Gottes gerecht zu werden, dass der Glaube weitergegeben wird. Wenn man keiner Gemeinde angehört, ist die Gefahr riesengroß, dass der Glaube nach und nach versandet. Und den Auftrag Gottes kann man als Einzelkämpfer auch kaum erfüllen.
Womit ich wieder beim gestrigen Gottesdienst bin, in dem ich allein in meiner Distanz-Ecke saß. Denn nach dem Gottesdienst bin ich aufgestanden und habe mich ins Getümmel gestürzt. Ich habe mit verschiedenen Leuten gesprochen. Es gab Kaffee, Tee und Plätzchen. Dieses Nachspiel des Gottesdienstes ist mir genauso wichtig wie der Gottesdienst selbst. Gestern habe ich jemanden neu kennengelernt, habe von einer Not erfahren, habe über das nächste Thema für ein Bibelgespräch geredet, und es gab auch einiges zu lachen. Auch das gehört für mich zur Kirchengemeinde.
Diese Gemeinschaft mit anderen Christinnen und Christen kann ich nur empfehlen. Ohne eine solche Gemeinschaft droht unser Glaube zu verarmen. Am Ende verschwindet er womöglich ganz. Übrig bleibt vielleicht nur die Gewohnheit. Aber was ist ein Glaube, der zur bloßen Gewohnheit geworden ist?
Natürlich suche ich mir meine Gesprächspartner in der Gemeinde aus. Ich kann nicht mit jedem. Aber das muss ich ja auch nicht. Hier geht es dann ganz nach Sympathie. Und es macht wirklich Spaß, nach dem Gottesdienst mit sympathischen, gleichgesinnten Menschen zu sprechen. Es weitet den Horizont, immer wieder neue Christinnen und Christen kennenzulernen. Man hört zu, fühlt sich ein und erfährt, dass es nicht nur im eigenen Haus, sondern in anderen Häusern auch Nöte gibt. Man ist ganz einfach nicht allein mit seinem Glauben. Was gibt es Schöneres?
Darum kann ich nur Mut machen, ganz in die Gemeinde einzutauchen und richtig mitzumachen. Sei kein Zuschauer, sondern ein Teil der Gemeinschaft – außer, du übst Covid-19-Distanz. Aber selbst einer wie ich schafft es ja, nach dem Gottesdienst jede Distanz abzulegen.
Sei also mittendrin und lass dich stärken und trösten, wenn dein Glaube schwach ist. Lerne im Glauben dazu, und du wirst wunderbare neue Einsichten gewinnen. Bring dich ein und erlebe, dass du eine sinnvolle Aufgabe übernehmen kannst und ein Mitarbeiter Gottes wirst.
Natürlich muss man eine Gemeinde finden, die das alles zulässt. Es gibt ja auch Gemeinden, die ihre Gottesdienstbesucher nach dem Segen sofort in die Kälte entlassen (falls es nicht schon in der Kirche kalt war). Da gibt es kaum eine Gesprächsmöglichkeit, von Kaffee und Plätzchen ganz zu schweigen. So eine Gemeinde könnte mir mal den ... – ach, das hab ich ja schon gesagt.
Wenn du in so einer Gemeinde bist, kannst du ja vielleicht mal eine andere ausprobieren. Jedenfalls wird es ein Gewinn für dich sein, wenn du mit netten Leuten nach dem Gottesdienst noch ein Schwätzchen halten kannst und auf diese Weise richtig in die Gemeinschaft hineinwächst. Und für die Gemeinde wird es ein Gewinn sein, einen so wichtigen und begabten Menschen wie dich in ihren Reihen zu haben.
Denn jeder ist in Gottes Augen wichtig und begabt. Darum ist es purer Verschleiß, wenn du dich von der Gemeinde isolierst und ein Außenseiter bleibst. Du bist für etwas Besseres gedacht.
* * * * *
* Text: Friedrich Karl Barth und Peter Horst.
Foto: congerdesign auf Pixabay.
Du beschreibst ein interessantes Phänomen : das Gemeindeleben. Ich bin häufig in zwei Gemeinden aktiv. Einmal als Chorsänger und ein zweites Mal als interessierter "Predigtkonsument". In keiner der beiden Gemeinden fühle ich mich - ehrlich gesagt - wirklich zu Hause und " aufgehoben" . So ist das wohl auch in vielen Kirchengemeinden. Ein/e jede/r auf eigene Art und Weise.....
Viele Grüsse
Michael
das finde ich wirklich schade. Es ist wohl nicht so einfach, eine Gemeinde zu finden, die sich neuen "Gästen" offen und kommunikativ zuwendet und die außerdem auch noch zu einem "passt". Das Problem kann also auf beiden Seiten liegen: Zum einen an einer Gemeinde, die in sich relativ verschlossen ist (was bei landeskirchlichen Gemeinden leider oft der Fall ist), und zum anderen an unseren vielleicht überzogenen individuellen Ansprüchen an "Passgenauigkeit" (was bei manchen dazu führt, immer wieder die Gemeinde zu wechseln, weil sie nie zufrieden sind). Aber "zu Hause" und "aufgehoben" sollte man sich schon irgendwie fühlen, da stimme ich dir voll zu.
Es ist wohl ein großes Geschenk, dass ich so eine Gemeinde hier vor Ort gefunden habe. Ich muss aber dazu sagen, dass es keine landeskirchliche Gemeinde ist, sondern eine evangelisch-freikirchliche - aber eine ausgeprochen offene, entgegenkommende und theologisch keineswegs fundamentalistische (wie man oft bei freien Gemeinden vermutet).
Viele Grüße
Klaus
selbstverständlich aus einer Flasche getrunken haben.
Ich zähle es zu meinen eigenen Errungenschaften im praktischen Glauben, über dieses Unbehagen hinaus gekommen zu sein und "Nähe" im Gottesdienst mit wem auch immer wenn nicht als angenehm so doch als tolerabel und notwendig empfunden zu haben. Ich empfinde es als schlimm dass man darüber bis vor kurzem nicht mehr offen reden konnte.