Eine interreligiöse Feier als Radiogottesdienst
Klaus Straßburg | 18/01/2022
In Berlin soll ein House of One entstehen, ein Haus des einen Gottes. Unter einem Dach sollen eine Synagoge, eine Kirche und eine Moschee ihren Platz haben. In dem Gebäude sollen jüdische, christliche und muslimische Gläubige einander begegnen, kennenlernen, sich austauschen, beten und interdisziplinär über die drei Religionen lehren. Das Haus soll aber offen sein auch für jene, die den drei Religionen fernstehen.
Die Initiative für dieses Projekt ging von einer evangelischen Kirchengemeinde in Berlin aus. Eine jüdische Gemeinde und eine „muslimische Dialoginitiative" schlossen sich an. Mehrere kirchliche Institutionen sind Unterstützer und Förderer des Projekts.
Weitere Informationen zu dem Projekt sind auf dessen Website abrufbar. Auch Wikipedia berichtet über das Projekt und die bisher aufgetretenen Probleme. Der Deutschlandfunk berichtet über Kritik, die am House of One geäußert wird. Dort kann man auch etwas zu den Kosten lesen: „Von den 47 Millionen Euro, die der Bau kostet, zahlt die Bundesregierung 20 Millionen und das Land Berlin 10 Millionen. Kirchensteuern fließen nicht in das Bauwerk."
Am vorletzten Sonntag wurde im Deutschlandfunk um 10.05 Uhr, also zu der Zeit, zu der sonst ein evangelischer oder katholischer Gottesdienst übertragen wird, eine interreligiöse Feier des House of One ausgestrahlt. Von dieser Feier, die auch nachhörbar ist, möchte ich berichten. Doch zuvor möchte ich noch einen Blick auf die Charta des House of One werfen, die ebenfalls im Internet verfügbar ist.
1. Das Konzept des House of One
Die Initiatoren des House of One haben ihr Konzept in einer Charta niedergelegt. Die Präambel der Charta stellt eine Art theologische Grundlegung dar. Demnach sollen
Juden, Christen und Muslime ihre Gottesdienste feiern und [...] einander kennenlernen, den Dialog und Diskurs miteinander suchen: ein Haus des Gebets und zugleich ein Haus der interdisziplinären Lehre über die Religionen [...].
Es ist die Hoffnung der Initiatoren, dass es gelingt,
das je Eigene der Religionen in großer Offenheit und Öffentlichkeit zu leben, [...] in verschiedenen Perspektiven diesem je Eigenen und Fremden nachzudenken und gemeinsam für andere da zu sein [...].
Dieses Füreinander-da-sein stellen sich die Initiatoren so vor, dass
die Vertreter der drei Religionen so miteinander umgehen, dass nach Religion fragende und suchende Menschen es als Bereicherung wahrnehmen, hinzukommen und sie so (drei) erste Antworten hören [...].
Worin die Initiatoren das Gemeinsame der drei Religionen erblicken, wird in der folgenden Passage deutlich:
Judentum, Islam und Christentum verbindet der Glaube an einen „welttranszendenten Schöpfer, der Menschen zur Weltverantwortung und zum Eintreten für eine gerechte Welt frei macht." [...] In ihrer Orientierung an der Richtschnur kanonischer Schriften, in ihrer – durchaus unterschiedlichen – Bezugnahme auf biblische Gestalten wie Noah, Abraham oder Ismael sind die drei Religionen einander verwandt. Dem genauen Blick eröffnen sich vielerlei gegenseitige Anknüpfungspunkte und strukturelle Parallelen.
Die Unterzeichner der Charta sehen aber auch das die drei Religionen Trennende, das
nicht zu verwischen, sondern im Gegenteil mit dem „Lob der Differenz" (Navid Kermani) zu würdigen ist [...].
Auf die Präambel folgen noch drei weitere Abschnitte. Der erste beinhaltet einen allen drei Religionen gemeinsamen „Bestand von Grundwerten", der zweite benennt das, was abzulehnen ist, und der dritte formuliert die gemeinsamen Verabredungen sowie das Vorgehen in Konfliktfällen.
An gemeinsamen Grundwerten werden genannt: Gewaltlosigkeit, „Ehrfurcht vor allem Leben", Solidarität im Sinne von Respekt und Rücksichtnahme, „ein Leben in Wahrhaftigkeit", eine „Repräsentation der je eigenen Religion" und Gleichberechtigung aller drei Partner. Abgelehnt wird, die anderen Religionsgemeinschaften herabzuwürdigen oder zu verunglimpfen und wissentlich falsche Behauptungen über die anderen Religionsgemeinschaften zu verbreiten. Außerdem werden abgelehnt „Handlungen, die unmittelbar politischen Zwecken dienen".
Die Unterzeichner der Charta betonen also die „strukturellen Parallelen" der drei Religionen, nicht ihre Unterschiede. Sie möchten vielmehr die bestehenden Differenzen loben. Unten wird deutlich werden, dass dieses Lob offensichtlich darin gründet, dass den Unterzeichnern zufolge die Differenzen zur gegenseitigen Bereicherung und Gotteserkenntnis beitragen. Durch die umfangreiche Aufzählung von ethischen Grundwerten im ersten Abschnitt der Charta entsteht auch der Eindruck, dass es den Unterzeichnern vorrangig um ethische Übereinstimmungen geht und weniger um solche, die das Gottesverständnis betreffen.
Aufgrund des Lobs der Differenzen ist es den Unterzeichnern auch kein Problem, den Fragenden und Suchenden „(drei) erste Antworten" zu geben – also drei Antworten, die aber immer nur erste und das heißt vorläufige, unzulängliche Antworten sein können. Das damit zusammenhängende Problem der Möglichkeit von Gotteserkenntnis werde ich ebenfalls noch unten ansprechen.
In der Charta wird mehrfach hervorgehoben, dass im House of One jüdische, christliche und muslimische Glaubende das je Eigene ihrer Religion leben und repräsentieren sowie je ihre Gottesdienste feiern sollen. Das gemeinsame Beten, Loben Gottes und Predigen in einer interreligiösen Feier geht aber darüber hinaus. Wenden wir uns also dieser Feier zu.
2. Die interreligiöse Feier
Wie die Initiatoren des House of One sich die Konkretion ihres Konzepts vorstellen, ist an der interreligiösen Feier abzulesen, die am letzten Sonntag zur Gottesdienstzeit im Deutschlandfunk übertragen wurde.
Mitverantwortung für die Feier trägt jedoch auch die Evangelische Kirche in Deutschland (EKD): Die redaktionelle Verantwortung lag beim Senderbeauftragten der EKD für das Deutschlandradio, Pfarrer Frank-Michael Theuer, und die kirchliche Leitung der Feier hatte die Rundfunkbeauftragte, Pfarrerin Barbara Manterfeld-Wormit.
Die Feier wurde von dem Rabbiner Andreas Nachama, dem Pfarrer Gregor Hohberg und dem Imam Kadir Sanci gehalten. Weitere Personen wirkten mit. Im Wechsel wurden Gebete aller drei Religionen gesprochen, Texte aus deren heiligen Schriften zitiert und Gesänge aus allen drei Religionen vorgetragen.
Im Zentrum der Feier standen drei Predigten, deren Thema jeweils die Suche des Menschen war. Die Predigten gibt es hier zum Nachlesen. Die gehaltenen Predigten weichen aber von den gedruckten Fassungen ab, besonders beim evangelischen Pfarrer.
3. Die Predigt des Rabbiners Andreas Nachama
Die erste Predigt hielt der Rabbiner Andreas Nachama. Er stellt gleich zu Beginn seiner Predigt fest:
Seit es uns Menschen gibt, sind wir auf der Suche. Auf der Suche nach Gott und auf der Suche nach dem Anderen.
Nachama verweist auf die Torastelle Ex/2Mo 24,9-11, wo es heißt, dass Mose und andere „Vornehme" aus dem Volk Israel, über 70 an der Zahl, Gott gesehen, gegessen und getrunken haben. Nachama zufolge deute das darauf hin, dass sie nicht nur Gott, sondern einander gesehen hätten, einander begegnet seien.
Sodann stellt Nachama fest, dass dieses Sehen Gottes im Widerspruch zu Ex/2Mo 33,20 stehe: Dort sagt die Bibel, dass kein Mensch überleben kann, der Gott gesehen hat. Diese Stelle drücke die Verborgenheit und Unbegreiflichkeit Gottes aus.
Der Rabbiner zitiert noch weitere Bibelstellen, löst den Widerspruch zwischen den beiden genannten Bibelstellen aber nicht auf. Das Ende seiner Predigt lautet so:
Eins, eins ist sicher: Auch wir suchen Ihn, den ganz anderen, und Dich, unseren Nächsten [...]. Da der Mensch im Abbild Gottes geschaffen wurde, ist [...] „der Andere" auch immer ein Funken von dem „ganz Anderen": nämlich von Gott. [...] Darin unterscheidet sich das Reinziehen eines Burgers von einem wirklichen Essen und Trinken: ein Gastmahl, ein Kiddusch [der Segensspruch vor der jüdischen Feiertagsmahlzeit], ein Abendmahl, gefeiert mit Anderen, mit Dir, meinem Nächsten oder Dir, meinem Hörer am Radio, mit allen, die wir suchen, allen, die in Seinem Abbild geschaffen sind.
Was Nachama sagen will, ist offenbar dies: Im Mitmenschen sieht man immer auch einen Funken Gottes, der an sich unerkennbar ist. Er beruft sich dabei auf die beiden jüdischen Denker Martin Buber und Emmanuel Lévinas. Buber sah in der echten, tiefen Begegnung mit einem Du eine Begegnung mit Gott. Auch nach Lévinas kann uns im fremden „Antlitz des Anderen" das Göttliche begegnen, kann „ins Denken einfallen".
Anders gesagt: Gott bleibt uns verborgen. Etwas Göttliches aber begegnet uns im Mitmenschen, wenn wir uns wirklich auf ihn einlassen, ihn nicht in ein fertiges Schema pressen, sondern ihn in all seiner Andersartigkeit ihn selbst sein lassen.
Ich möchte dazu Folgendes sagen: Auch der christlichen Theologie ist die Verborgenheit und Unbegreiflichkeit Gottes nicht fremd. Sie sieht das Problem aber weit differenzierter, als es Nachama hier darstellt. Man kann von einer spannungsvollen (mit einem philosophischen Begriff: dialektischen) Verborgenheit und Unbegreiflichkeit Gottes sprechen, so wie es auch die beiden von Nachama genannten, sich widersprechenden Bibelstellen ausdrücken.
Der christliche Glaube geht davon aus, dass sich Gott uns in Jesus Christus und in den biblischen Schriften offenbart hat. Diese Offenbarung bedeutet aber nicht, dass Gott nunmehr „entblößt", von uns durchleuchtet und vollständig begriffen vor uns liegt. Gott begegnet uns, obwohl er sich uns offenbart hat, immer wieder neu und überraschend. Er kann sich uns auch entziehen, so dass wir ihn nicht mehr verstehen. Dass Gott uns offenbar ist, bedeutet also nicht, dass sein Geheimnis gelüftet wäre. Es bedeutet nicht, dass wir Gott ergründet haben, so wie man die chemische Zusammensetzung von Wasser ergründen kann.
Wir können dankbar sein dafür, dass Gott sich uns als der Liebende offenbart hat: Denn Jesus Christus hat als der große Liebende gelebt, dessen Liebe so weit ging, dass er den Tod nicht gescheut hat. Dennoch begegnet uns der liebende Gott immer wieder fremd, unverständlich, anders, als wir es erwartet haben. Unser Glaube aber besteht darin, dass wir ihn trotzdem als den liebenden Gott glauben.
Sichtbarkeit und Unsichtbarkeit Gottes, Offenbarung und Verborgenheit, Erkenntnis und Unbegreiflichkeit sind hier spannungsvoll miteinander verbunden. In dieser Spannung begegnet uns Gott auch in den biblischen Schriften – und in Jesus Christus. Es ist daher aus christlicher Sicht unangemessen, Gott in allen Menschen zu suchen – er ist ja in dem einen Menschen Jesus Christus erschienen. Dieser eine und einzigartige Mensch ist das Abbild Gottes (Eph 2Kor 4,4; Kol 1,15; Hebr 1,3). In allen anderen Menschen begegnet uns immer eine durch das Böse bis zur Unkenntlichkeit verzerrte und entfremdete Gestalt von Gottes Ebenbild.
4. Die Predigt des Pfarrers Gregor Hohberg
Pfarrer Hohberg konzentrierte sich auf den Gedanken, dass viele Menschen auf der Suche nach Gott sind – auch er selbst. Andere Menschen suchen ein Ziel, suchen den Sinn ihres Lebens und ihren Ort im Leben, oder sie suchen das Glück. Etliche suchen „ohne Gott", von anderen sagt Hohberg:
Sie würden gerne an ihn glauben, aber wissen nicht wie und wo. Ja, wo bist Du, Gott? Ich suche Gott, weil ich erlebe, dass Gott nicht fassbar ist, dass ich ihn nicht habe. Mein Glaube an Gott kann schwanken, kann sich verirren. Darum bleibe ich auf der Suche. Weitersuchen hilft. „Sucht, so werdet ihr finden", sagt Jesus.
Auch Hohberg betont also die Unbegreifbarkeit Gottes. Außerdem weist er darauf hin, dass der menschliche Glaube schwankt und sich bezüglich der Erkenntnis Gottes irren kann. Deshalb sei das Weitersuchen wichtig. In diesem Zusammenhang taucht auch das einzige Bibelzitat seiner Predigt auf, der Satz Jesu: „Sucht, so werdet ihr finden."
Meiner Meinung nach zeigt sich an dieser Stelle deutlich, wie man aus richtigen Fakten falsche Konsequenzen ziehen kann. Denn all das, was Hohberg sagt, ist nicht falsch. Es wird aber falsch, wenn man daraus den Schluss zieht, dass uns Menschen nichts anderes bleibt als das Suchen. Das Jesus-Zitat jedenfalls macht deutlich, dass dem Suchen auch ein Finden verheißen ist. Vom Finden allerdings weiß Hohberg nichts zu sagen. Es bleibt für ihn problematisch.
Es muss auch problematisch bleiben, wenn man allein auf unsere menschlichen Möglichkeiten abhebt. Aufgrund unseres eigenen Vermögens ist uns Gott tatsächlich unbegreiflich, und unser Glaube bleibt schwankend und irrtumsfähig. Wir müssen aber auch gar nicht auf unser eigenes Vermögen setzen, um Gott zu erkennen, einen starken Glauben zu entwickeln und jeden Irrtum auszuschließen. Dies alles will uns Gott selber nämlich schenken. Das ist gemeint, wenn die Theologie davon spricht, dass Gott sich uns offenbart, also zu erkennen gibt, und dass er uns durch den heiligen Geist Glauben und Erkenntnis schenkt. An uns liegt es nur, diese Offenbarung gelten zu lassen und das Geschenk des Glaubens und der Erkenntnis anzunehmen.
Dass wir auch dann, wenn wir das alles gelten lassen und annehmen, Gott weder ergründen noch perfekt im Glauben oder von jedem Irrtum befreit sein werden, habe ich bereits oben zur Predigt des Rabbiners aufgezeigt.
Wie schon bei Rabbiner Nachamah fehlt also auch bei Pfarrer Hohberg eine differenzierte, spannungsvolle Sicht auf das Verhältnis zwischen Erkenntnis und Unbegreiflichkeit Gottes. Das ist für einen Pfarrer insofern erstaunlich, als der dialektische Umgang mit diesem Problem eigentlich theologisches Allgemeingut ist.
Mit folgenden Worten drückt Hohberg aus, wie sich das Suchen Gottes bei ihm gestaltet:
Ich könnte in Kirchen, Moscheen und Tempeln suchen, die wurden ja in seinem Namen errichtet. In einigen brennt ein ewiges rotes Licht zum Zeichen seiner Gegenwart. Aber wie bemerke ich diese Gegenwart? [...] Immer wieder sonntags kommen Menschen in einer Kirche zusammen, beten und singen, hören aus der Bibel Gottes Wort. Wie selbstverständlich singen wir unsere Lieder, beten unsere Gebete und reden von Gott, als wüssten wir ganz genau, wovon wir sprechen. Manchmal ist Gott mitten unter uns. Für einen Moment spüren wir Trost und Verbundenheit. Aber festhalten können wir ihn nicht. In der Selbstverständlichkeit des Glaubens ist Gott schwer zu finden. Immer zieht er weiter. Ein Wanderer hin zu anderen Welten. Und so geht auch meine Suche weiter. [...] Ich begegne Menschen, deren Glaube mir fremd ist. Ist Gott in ihrer Glaubenswelt zu finden? Ich weiß es nicht, aber ich kann erzählen, was ich im House of One erlebe.
Es bleibt nach Hohbergs Worten unsicher, wie man Gottes Gegenwart in „Kirchen, Moscheen und Tempeln" bemerken kann. Er scheint aber vorauszusetzen, dass Gott dort gegenwärtig ist.
Das Singen, Beten und Reden von Gott im christlichen Gottesdienst sieht Hohberg offenbar kritisch; denn dabei werde „wie selbstverständlich" gesungen, gebetet und von Gott geredet, „als wüssten wir ganz genau, wovon wir sprechen." Aber: „In der Selbstverständlichkeit des Glaubens ist Gott schwer zu finden." Gott ziehe vielmehr immer weiter zu anderen Welten. Dieses Bild könnte bedeuten: Gott wandelt sich, begegnet uns immer neu und anders. Darum müssen wir weitersuchen.
Auch diese Sicht der Dinge ist eine Reduktion von Komplexität: Gott ist nach biblischer Aussage ewig derselbe (Hebr 13,8), zugleich aber begegnet er in der Geschichte immer wieder neu und überraschend. Ich habe oben bereits darauf hingewiesen. Im Alten Testament wird oft darauf hingewiesen, dass Gott sich etwas gereuen lässt und sein geplantes Verhalten ändert. Man kann sogar sagen: Gott hat eine Geschichte, so wie auch der Mensch Jesus Christus eine Geschichte hat.
Man wird also beides zusammendenken müssen: dass Gott ewig derselbe ist und dass er sich wandelt. In der Beschreibung Gottes als Liebe (1Joh 4,8.16) trifft beides zusammen. Denn die Liebe bleibt sich nur dann treu, wenn sie sich verändert. Oder anders ausgedrückt: Jede Veränderung Gottes ist nichts anderes als ein Ausdruck seiner Liebe.
Darum hat man Gott gefunden, wenn man ihn als Liebe glauben kann. Diese Liebe Gottes ist gewiss nichts Selbstverständliches. Dennoch kann sie einem Menschen im Glauben zu etwas werden, was ihm immer wieder neu gewiss, fraglos und insofern selbstverständlich wird. Die Kritik an der Selbstverständlichkeit, mit der wir im Gottesdienst singen, beten und von Gott reden, trifft uns also nur, wenn wir das (mit Hohbergs Worten) so tun, „als wüssten wir ganz genau, wovon wir sprechen". Dies aber kann man keineswegs allen Christinnen und Christen unterstellen, die Gottesdienst feiern.
Hohberg fragt, ob Gott in der Religiosität anderer Menschen zu finden ist. Auch dies müsse aber ungewiss bleiben. Dennoch erzählt er dann vom Projekt House of One und den dort stattfindenden Begegnungen.
Ich verzichte darauf, alles besser wissen zu wollen oder alles verstehen zu können. [...] Jeder von uns hat Fragen an den anderen. So fragt der Muslim die Jüdin: Wieso hat Gott das Volk Israel zu seinem Volk gemacht? Und ich frage die Muslima: Wieso konnte Mohammed Gott verstehen? Oder der Rabbiner fragt uns: Wie kann ein Mensch zugleich Gott sein? All das sind Glaubensgeheimnisse. Von Menschen nicht aufzudecken. [...] Wir können kein abschließendes Urteil über ihren Wahrheitsgehalt fällen.
Auf den Besitz der Wahrheit zu verzichten, das weitet meine Gottessuche, und das erleichtert mir die unvoreingenommene Begegnung. Wir können wechselseitig, offen und öffentlich von unserem Glauben reden, ihn bezeugen. Es gibt keinen Grund zu verheimlichen, was uns trägt und prägt. [...] Ich erzähle von meinem Glauben, meiner Suche nach Gott und meinen Momenten, in denen ich seine Nähe fühle, mich gehalten und behütet erlebe. [...]
Koran und Thora, die vier edlen Wahrheiten und das Friedensgebet der Vereinten Nationen [...] – der Himmel ist vielsprachig. Der Glaube der Muslima oder des Juden zeigen mir andere Seiten von Gott. [...] Der oder die Andere verweisen auf das ganz Andere, das wir nicht fassen können. Wo also ist Gott? Gott ist in der Suche. Auf der Suche treffe ich andere. Das Suchen, das auf dem Weg sein, verbindet alle Suchenden. So können wir eine Gemeinschaft bilden und unsere Weggeschichten teilen. Das trägt uns auf dem Weg zu Gott.
Am Ende seiner Predigt kommt Hohberg auf die Erkenntnis der Wahrheit zu sprechen. Er nennt unergründliche Glaubensgeheimnisse, über deren Wahrheitsgehalt wir angeblich kein abschließendes Urteil fällen können. Eines dieser Glaubensgeheimnisse bestehe darin, wieso Gott das Volk Israel zu seinem Volk gemacht hat.
Die Antwort auf diese Frage ergibt sich eindeutig aus 5Mo/Dtn 7,6-8: „Dich [Israel] hat der Herr, dein Gott, aus allen Völkern, die auf Erden sind, für sich erwählt, dass du sein eigen seist. Nicht weil ihr zahlreicher wäret als alle Völker, hat der Herr sein Herz euch zugewandt und euch erwählt – denn ihr seid das kleinste unter den Völkern –, sondern weil der Herr euch liebte [...]". Nimmt man diese Aussage ernst, dann handelt es sich keineswegs um ein unergründliches Glaubensgeheimnis.
Ein weiteres Glaubensgeheimnis besteht laut Hohberg darin, wieso Mohammed Gott verstehen konnte. Vorausgesetzt ist offensichtlich, dass Mohammed Gott verstanden hat, dass ihm also der Koran Wort für Wort offenbart wurde. Damit stellt Hohberg Mohammed zumindest in die Reihe der alttestamentlichen Propheten, und er stellt letztlich den Koran der Bibel gleich.
Das letzte von Hohberg genannte Glaubensgeheimnis ist, wie ein Mensch zugleich Gott sein könne. Jesu Gottheit kann man tatsächlich als Glaubensgeheimnis bezeichnen – nicht aber als eins, über das sich überhaupt keine Aussagen machen lassen. Zweitausend Jahre Christentumsgeschichte haben eine Fülle von Gedanken über dieses Glaubensgeheimnis hinterlassen – ohne alle Fragen zu beantworten, aber doch so, dass es vernünftig dargestellt und bezeugt werden kann. Eine Leerstelle jedenfalls – wir müssen darauf verzichten, alles verstehen zu können – hinterlässt die Theologie nicht.
Wie oben bereits beschrieben, ist es für Hohberg fraglich, ob Gott in der Religiosität anderer Menschen zu finden ist. Dennoch benennt er jetzt konkret, wodurch ihm „andere Seiten Gottes" gezeigt werden: durch „den Glauben der Muslima oder des Juden", durch „Koran und Thora", und er fügt noch die vier edlen Wahrheiten des Buddhismus und das Friedensgebet der Vereinten Nationen hinzu. Hohberg geht also offensichtlich von einer Wahrheit aus, die weit über die in den biblischen Texten bezeugte hinausgeht. Oder aber er setzt voraus, dass in buddhistischen, jüdischen, christlichen und muslimischen heiligen Schriften und in den entsprechenden Religionen jeweils dasselbe bezeugt wird. Das aber ist religionswissenschaftlich nicht haltbar.
Wenn man all die genannten heiligen Schriften und Religionen als Ausdruck der göttlichen Wahrheit ansieht, ist es nur konsequent, auf einen dezidiert christlichen Standpunkt zu verzichten. Die Frage ist allerdings, ob der Verzicht auf eine eigene Glaubensgewissheit es tatsächlich erleichtert, dem Andersdenkenden respektvoller und unvoreingenommener zu begegnen.
Meine Behauptung ist, dass dies nicht der Fall ist. Denn der Verzicht darauf, etwas besser wissen zu wollen als das Gegenüber, ist demjenigen eher möglich, der sich seines eigenen Standpunkts gewiss ist. Der Glaubensstreit beginnt ja dort intolerant zu werden, wo es um das eigene Leben geht. Das eigene Leben aber findet seinen Halt im eigenen Glauben. Wo dieser ungewiss bleibt, wo das Leben also keinen Halt im gewissen Glauben findet, ist die Gefahr groß, dass der Glaubensstreit zu einem Streit auf Leben und Tod wird. Umgekehrt ist es dem Menschen, der fest in seinem Glauben steht, leichter, sich einem Andersdenkenden ohne Angst zu öffnen und ein respektvolles Gespräch mit ihm zu führen.
Darum verbindet das gemeinsame Suchen, das Hohberg wichtig ist, nur so lange, wie der gemeinsame Grundkonsens herrscht, dass man über das Suchen nicht hinauskommt, dass man also nicht findet. In der Gemeinschaft der Suchenden darf niemand finden. In dem Moment, in dem einer der Suchenden vorgibt, er habe gefunden, was alle gemeinsam suchen, hat die Gemeinschaft der Suchenden ein Ende – oder alle Suchenden übernehmen das, was der eine gefunden hat.
Christlich gesehen gründet die Gemeinschaft zwischen Menschen daher nicht im gemeinsamen Suchen, sondern in der Liebe Gottes zu allen Menschen. Diese grundlegende Anerkennung aller Menschen, ob sie suchen oder nicht und wo auch immer sie suchen, stiftet Gemeinschaft. Es ist eine Gemeinschaft, die nicht in menschlichen Verhaltensweisen ihren Grund hat, sondern in der Zuwendung und im sich offenbarenden Wort Gottes.
5. Die Predigt des Imam Kadir Sanci
Damit es nicht zu lang wird, gehe ich jetzt nur noch kurz auf die Predigt des Imams ein.
Imam Kadir Sanci stellt zu Beginn seiner Predigt fest, dass auch Muslime auf der Suche sind. Doch unmittelbar danach geht er dazu über zu verkündigen, was er bereits gefunden hat. Er zitiert dazu mehrere Suren des Korans.
Seine Hauptfrage ist: „Wie haben wir Gott vorzustellen?" Seine Antwort lautet,
dass Gott weder einen Teilhaber noch einen Gleichrangigen noch ein Gegenteil oder ein Gegenüber hat. Nichts ähnelt Ihm oder ist mit Ihm gleich. Sichtbarkeit in unserer Welt bedeutet, vergleichbar zu sein. Und Gott ist frei davon und bleibt in diesem Leben für uns verborgen.
Die daran anschließende Frage ist: Wie aber kann man Gott erkennen, wenn ihm nichts vergleichbar ist? Antwort:
Das Universum, die Erde und der Mensch besitzen jeweils eine Gestalt, die im vollen Umfang Gottes Namen und Attribute reflektieren. Aber Reflexionen können nicht dem Bild gleichgesetzt werden. Sie können auch nicht im wahrsten Sinne ein Ebenbild Gottes darstellen. [...]
Die Sonne spiegelt im Spiegel und in der Glasscherbe. Auch wenn wir in ihnen die Schönheit der Sonne sehen können, bleiben sie ein Spiegel oder eine Scherbe. Den direkten Blick in die Sonne verkraften unsere Augen nicht und brauchen die Reflexionen; [...] Ja, die Lebewesen und in besonderer Weise die Menschen sind ein Spiegel des Allbarmherzigen Erbarmers:
Wir sehen. Daher wissen wir, dass Gott der absolut Sehende ist. Wir hören. Daher wissen wir, dass Gott der absolut Hörende ist. Wir fühlen Liebe. Daher wissen wir, dass Gott der absolut Liebende ist. Wir fühlen Barmherzigkeit. Daher wissen wir, dass Gott der Allbarmherzige Erbarmer ist.
Gotteserkenntnis gibt es nach Sanci dadurch, dass die Eigenschaften Gottes in seiner Schöpfung und vor allem in den Menschen gespiegelt werden. Wir können Gott also nicht direkt erkennen, sondern nur indirekt über Spiegelungen seines Wesens. Von daher ist es ausgeschlossen, dass es „im wahrsten Sinne ein Ebenbild Gottes" auf Erden gibt. Denn Gott ist keinem Irdischen ähnlich oder gleich.
Damit gibt Sanci anschaulich die muslimische Sicht wieder und widerspricht deutlich der christlichen Aussage, Jesus sei als Sohn Gottes Gott gleichzusetzen. Der Imam vertritt also einen dezidierten muslimischen Standpunkt. Er nimmt damit als einziger der drei Prediger eine Position ein bezüglich der Erkennbarkeit und der Eigenschaften Gottes. Es ist eine Position, die mit der biblischen nicht in Einklang zu bringen ist.
6. Fazit
Menschen wollen Antworten. Fragen haben sie schon genug. Christinnen und Christen sind beauftragt, ihren Glauben zu bezeugen und, soweit möglich, Antworten zu formulieren (Mt 28,19f). Es ist zu wenig, wenn sie nur ihre Unwissenheit und Antwortlosigkeit kundtun. Auch drei vorläufige, also fragliche Antworten sind zu wenig. Dass unser Erkennen nur Stückwerk ist (1Kor 13,9), bedeutet nicht, dass wir gar nichts erkennen, weil wir von Gott erkannt sind (Gal 4,9), erwählt als diejenigen, denen sein Geist Erkenntnis schenkt (1Kor 12,8b).
Suchenden Menschen hilft es nicht, dass wir ihnen sagen, wir wüssten auch nichts Sicheres, würden selbst schwanken und könnten zeitlebens nicht finden. Jesus hat den Suchenden das Finden verheißen (Mt 7,7f; Lk 11,9f).
Es hilft auch niemandem, das Singen, Beten und Reden von Gott im christlichen Gottesdienst als falsche Selbstverständlichkeit zu kritisieren. Im Glauben kann Gott einem Menschen gewiss und in diesem Sinne selbstverständlich werden – ja, ein glaubender Mensch kann, wenn Gottes Geist ihn stark macht, eine solch tiefe Gewissheit erlangen, dass Gott ihm „mehr als selbstverständlich" ist (Eberhard Jüngel).
Geht man davon aus, dass Gott in allen drei Religionen gleichermaßen zu finden ist, dann relativiert man die Bedeutung Jesu Christi. Er steht nach den neutestamentlichen Schriften im Mittelpunkt des Glaubens. Jesus sagte laut dem Johannesevangelium: „Wer mich gesehen hat, der hat den Vater gesehen" (Joh 14,9). Von einer prinzipiellen Unerkennbarkeit Gottes kann also keine Rede sein. Und in der Apostelgeschichte heißt es: „In keinem andern ist die Rettung; denn es ist auch kein anderer Name unter dem Himmel den Menschen gegeben, durch den wir gerettet werden sollen" (Apg 4,12). Das Christentum hat seinen Namen von Christus, weil es in ihm den Retter der Welt erkannt hat. Wer das durch einen allgemeinen Gottglauben, den es in vielen Religionen gibt, ersetzt, macht Jesus Christus zu einem Religionsstifter oder Offenbarungsempfänger unter vielen anderen.
Damit soll nicht gesagt sein, dass Gott nicht auch in anderen Religionen wirken und Menschen zum Glauben leiten kann. Es soll aber festgehalten werden, dass die vielen Religionsstifter, Offenbarungsempfänger und Propheten nicht mit Jesus Christus auf eine Stufe zu stellen sind.
Die EKD sorgt sich wegen ihres Mitgliederschwunds. Es kann jedoch nicht verwundern, dass Menschen in der Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft keinen Sinn mehr sehen, wenn diese Religionsgemeinschaft ihnen vor lauter eigener Ungewissheit nichts mehr zu sagen hat; wenn sie den Eindruck erweckt, es sei gleichgültig, ob man jüdischen, christlichen, muslimischen oder vielleicht auch buddhistischen Glaubens sei. Eine christliche Kirche, die sich auf solche Theologie einlässt, macht sich selbst überflüssig.
Weil die EKD Mitverantwortung für die Rundfunkübertragung der interreligiösen Feier trägt, werde ich den Senderbeauftragten der EKD für das Deutschlandradio, Pfarrer Frank-Michael Theuer, auf diesen Artikel hinweisen. Ich bin gespannt, ob ich eine Antwort erhalte und werde hier weiter darüber berichten.
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ich habe deinen Text aufmerksam studiert, der ja doch anspruchsvoll aber gut verständlich deine Positionen zum Ausdruck bringt .
Mir sind dabei einige Formulierungen aufgefallen, die ich allerdings nicht so eindeutig wie sie bei dir beschrieben werden selbst nachvollziehen kann:
“Es ist unangemessen Gott in allen Menschen zu suchen – er ist ja in dem einen Menschen Jesus Christus erschienen. Dieser eine und einzigartige Mensch ist das Abbild Gottes.”
So wie dieser Satz dort steht, empfinde ich Deine folgende Ausdeutung fast als “ausschliessend” – so als ob du hier deine Wahrheit gegenüber allen anderen, mögliocherweise abweichenden Deutungen unbedingt verteidigen willst. Meine Frage: Geht es Dir hier um eine persönliche Glaubens-Wahrheit? Hier vermisse ich einen Zusatz, der das deutlichen machen könnte.
Deine “strikte” Deutung deckt sich mit deiner Kritik an einer Theologie, die kritisiere, dass man nur um gemeinsamen Suche verharre und sich nicht zu einem Finden (von Wahrheiten) bekenne. Ich verstehe zwar deine Position, aber mir fällt auch hier auf, dass du deine Meinung so formulierst, als wolltest / müßtest du eine wahre Position verteidigen. Mich stört, um es offen zu sagen, etwas der Ton, in dem du hier den Sachverhalt kritisierst.
Dabei schreibst du ja selbst sehr schön, unsere Glaube bleibe “irrtumsfähig”. Muß das nicht auch für die jeweils eigenen, sehr bewusst gewählten Formulierungen gelten?
Ich werde immer hellhörig und (ich sage bewußt nicht misstrauisch) wenn ich (unterschwellig) höre, dass ich dieser oder jenem Glauben diese oder jene Wahrheit entspricht : es ist doch immer eine F o r m v on Wahrheit, der ich jetzt und hier vertraue und dieser glaube, die aber eben auch ihre Zeit hat.
Sehr gut gefallen hat mir dagegen deine Formulierung , dass "Gott ewig derselbe ist und dass er sich wandelt. Beides müssen wir zusammendenken. “ Jede Veränderung Gottes ist nichts anderes als Liebe” - an dieser Stelle mußte ich sinngemäß an Maren Lehmanns aktuellen Begriff der Ordnung von Freiheit denken, die sich nur zeigt, wenn und indem sie für Veränderungen offen steht.
“ Wo der Halt im eigene Glauben ungewiss bleibt, ist die Gefahr groß, dass der Glaubensstreit zu einem Streit auf Leben und Tod wird” schreibst du: das mag im globalen Maßstab zutreffen.
Aber ist der Glaubensstreit gerade im kleineren Maßstab – etwa in einer Predigt oder in einem Gespräch unter Wenigen nicht darauf angelegt, dass unterschiedlichen Meinungen notwendig im Streit liegen. Und kann man einen Streit nicht sogar als Chance sehen, indem man sich selbst im Licht einer anderen Position wahrnimmt.
Jesus sei, so heißt es in der Bibel, der “Retter der Welt”. Aber zur Rettung gehört doch auch die Fähigkeit offfen streiten zu können und die e i g e n e Wahrheit als die e i n e Seite dieser Wahrheit anzusehen ....
Ich hoffe, ich habe jetzt meine Kritik an einigen deiner Äußerungen halbwegs angemessen formuliert – sie sind natürlich nicht theologisch abgesichert sondern sind eher spontan notiert ...
Viele Grüße
Michael
vielen Dank für deine Rückmeldung und die wichtigen Fragen, auf die ich gern eingehe.
Im Grunde geht es in allen deinen berechtigten Fragen ja um die Frage nach der Wahrheit bzw. den Wahrheiten. Ich möchte deshalb vorausschicken, dass ich keineswegs davon ausgehe, allein die Wahrheit zu besitzen, auch wenn sich das für dich vielleicht so anhörte. In allen theologischen Thesen, die ich in diesem Blog vertrete, kann ich nur das wiedergeben, was ich derzeit als wahr erkannt zu haben meine – besseres Wissen vorbehalten.
Das gilt übrigens für alle theologischen Äußerungen, auch in der Wissenschaft. In einer theologischen Abhandlung wird aber nicht nach jedem theologischen Satz darauf hingewiesen, dass dieser Satz nur das wiedergibt, was der Verfasser gegenwärtig erkannt zu haben meint, sondern das wird selbstverständlich vorausgesetzt. Und dann wird beispielsweise eine Dogmatik oder Glaubenslehre breit entfaltet, welche die „Lehren" enthält, die der Verfasser zum Zeitpunkt der Abfassung für wahr hält – nicht mehr und nicht weniger. Dabei ist klar, dass niemand ewige Wahrheiten vertritt.
Im Grunde ist es so bei allen Gesprächen zwischen Christinnen und Christen. Jede/r kann dann nur das kundtun, was er aktuell für wahr hält. Aber das sollte er auch kundtun; andernfalls kann ja kein Gespräch zustande kommen.
Ich habe das alles umfassender und in der nötigen Dialektik dargelegt in meinen Artikeln Geschenkte Wahrheit und Persönliche Gedanken über das christliche Schreiben sowie auch im Artikel Theologie der Wandernden. Du findest alle drei Artikel auf der Themenseite unter dem Stichwort „Wahrheit". Es wäre wohl sinnvoll und würde deine Kritik wahrscheinlich entschärfen, wenn du zumindest die ersten beiden Artikel einmal lesen würdest. Alle drei Artikel bilden sozusagen das Vorzeichen aller anderen Artikel, die ich schreibe, und in allen drei Artikel findest du sogar viele Formulierungen, die auch die drei Prediger in der interreligiösen Feier benutzen (wir bleiben Suchende, wir sind auf dem Weg, wir können uns irren etc.).
Wenn ich trotzdem eine Kritik an diesen Predigten übe, dann geht es mir nicht darum, „meine Wahrheit unbedingt zu verteidigen". Meine Wahrheit gibt es gar nicht. Es gibt für mich nur die Wahrheit, die ich gegenwärtig erkannt zu haben meine. Darum muss ich auch nichts verteidigen. Schon gar nicht bedarf es Gottes Wahrheit, von uns Menschen verteidigt zu werden. Sie soll allerdings von uns bezeugt werden, so gut und so deutlich wir es können. Das versuche ich in diesem Blog – besseres Wissen immer vorbehalten.
Ich lerne übrigens durch die Kommentare auch immer dazu und habe von ihnen schon wertvolle Anstöße bekommen.
Wenn es um die Wahrheit bzw. die Wahrheiten geht, stellt sich immer die Frage: Wie viele Wahrheiten gibt es? So viele Wahrheiten, wie es Menschen gibt? Oder so viele, wie es Religionen gibt? Aber gibt es nicht auch innerhalb der Religionen unterschiedliche „Wahrheiten"? Wenn es aber so unzählig viele Wahrheiten gibt, dann gibt es doch letztlich keine Wahrheit mehr, und es wird beliebig, was man als Wahrheit vertreten kann. Das mag zwar dem postmodernen Lebensgefühl entsprechen, aber es führt dazu, dass sich jeder Mensch seine persönliche Wahrheit über Gott selber zimmert, und – vielleicht stimmst du mir darin zu – das kann nicht zielführend sein.
Erleben wir es nicht gerade gesellschaftlich, dass dort, wo es die Wahrheit nicht mehr gibt, alles, auch die abstrusesten Fake News, für Wahrheit ausgegeben und gehalten werden?
Ich halte es deshalb für wichtig, an dem Begriff der einen Wahrheit – auch gesellschaftlich – festzuhalten. Auch theologisch gibt es meiner Meinung nach nur eine Wahrheit – man mag sie Gottes Wahrheit nennen oder auch Jesus Christus, der nach dem Johannesevangelium gesagt hat, er selbst sei die Wahrheit (Joh 14,6). Es geht mir nicht darum, meine Wahrheit zu verteidigen, sondern die eine Wahrheit zu bezeugen, die nach dem biblischen Zeugnis Jesus Christus ist. Jesus Christus braucht keine Verteidiger; aber er möchte Zeugen und Zeuginnen der Wahrheit, die er ist. Ich „muss" hier gar nichts verteidigen, auch nicht meine Position; ich möchte aber das bezeugen, was ich gegenwärtig als wahr erkannt habe.
Es schließt sich also nicht aus, sondern geradezu ein, dass wir Christinnen und Christen einerseits uns irren und immer nur eine unvollkommene Wahrheit erkennen können („wir erkennen nur teilweise", 1Kor 13,9), dass wir aber andererseits die Wahrheit, die wir erkannt haben, nicht verschweigen, sondern bezeugen sollen – im Vertrauen darauf, dass Gott selbst uns die Wahrheit zu erkennen gibt (Joh 16,13) und unsere Worte in Dienst nimmt, so dass er selbst sich durch unsere unvollkommenen Worte bezeugt (Apg 2,4). Meine Kritik besonders an der evangelischen Predigt war, dass sie dieses Zeugnis praktisch unmöglich gemacht hat, indem sie jedes Finden der Wahrheit ausgeschlossen hat.
Wenn jemand der Ansicht ist, dass ich mit meinen Thesen falsch liege, dann bitte ich darum, gegen meine Position zu argumentieren, um mir zu helfen, besseres Wissen zu erlangen, und mich zu überzeugen – und zwar aufgrund biblischer Belege und aufgrund von Argumenten, die zeigen, dass eine andere Position weiterführender oder hilfreicher ist als meine.
Dieser Blog sucht den guten Streit der Meinungen. Es geht um den Streit dessen, was Menschen als wahr erkannt zu haben meinen; den gibt es aber nur, wenn Menschen auch kundtun, was sie als wahr erkannt zu haben meinen. Theologie ist der gute Streit um die Wahrheit.
Dabei bleibt jede Position irrtumsfähig. Ja, wir bleiben sogar immer auf der Suche. Diese in den Predigten vertretene These ist ja nicht falsch. Aber falsch finde ich, daraus den Schluss zu ziehen, dass wir niemals finden könnten. Doch auch wenn wir meinen, gefunden zu haben, müssen wir uns immer wieder von anderen Positionen in Frage stellen lassen. Der Streit um die Wahrheit dient ja dazu, Irrtümer aufzudecken.
Das bedeutet nicht, dass man nur dann miteinander in einen Dialog treten kann, wenn man selbst keine Position vertritt, sondern durchweg unsicher ist. Im Glaubensstreit geht es darum, dass die Streitenden von einer klaren Position aus argumentieren. Das wollte ich sagen, als ich von der Gefahr sprach, dass der Streit aggressiv wird, wenn jemand diese Position und den damit verbundenen Halt im Glauben nicht hat. Der seiner selbst Ungewisse kämpft nicht nur um Thesen, sondern um sich selbst. Das bringt meiner Meinung nach die Gefahr mit sich, intolerant zu werden und nur eine begrenzte Dialogfähigkeit zu besitzen.
Ich hoffe, dass ich deine Fragen damit einigermaßen beantworten konnte. Andernfalls lass es mich bitte wissen. Wenn dich weiterhin der Ton stört, in dem ich schreibe, dann bitte ich dich darum, mir konkrete Formulierungen zu benennen. Ich würde dich aber doch bitten, einmal die oben genannten Artikel zum Thema „Wahrheit" zu lesen. Vielleicht haben sich dann schon manche Fragen erledigt.
Viele Grüße
Klaus
danke für diesen ausführlichen und ausgezeichneten Überblick. Als ich nur den Titel gelesen habe, war mein erster Gedanke: Das kann nichts werden! Aber über den reinen Austausch von Artigkeiten zwischen liberalen Vertretern der jeweiligen Religionsgemeinschaft, den ich eigentlich erwartet hatte, ging es durchaus hinaus. Viele interessante Gedanken.
Nur hätte meiner Meinung nach die EKD nicht als Ausrichter dieser Veranstaltung auftreten sollen. Darin stimme ich mit dir überein.
Für mich selber habe ich auch vor längerer Zeit schon darüber nachgedacht, warum ich einen christlichen Weg zum Glauben gehe und keinen anderen.
Das Judentum empfinde ich als exklusiv und zu sehr am Buchstaben des mosaischen Gesetzes hängend. Jesus war Jude, kannte die Details bestens, hat aber eine entschiedene, liebende und den Menschen zugewandte Lesart vertreten und gelebt, mit allen Konsequenzen.
Die internationale Öffnung durch Paulus ist eine weitere Komponente, die mir dieses Denken zugänglich macht. Dass man von Jesus überhaupt noch spricht (damals zunächst sehr lokal wirksam gewesen, weltlich gescheitert, früh und wie ein Verlierer gestorben, nichts Schriftliches hinterlassen) ist fast paradox, durchaus ein Wunder, und bestätigt im Nachhinein, dass er wohl doch recht hatte.
Beim Islam sehe ich nicht, dass er noch eine Steigerung bringt. Jesus wird zwar als Prophet wertgeschätzt, aber Mohammed eben als der endgültige Prophet. An dieser Stelle kann ich nicht folgen. Mohammed war weltlich viel erfolgreicher, auch als politischer und militärischer Führer, aber genau diese Art von Machtdimension ist eher ein Rückschritt, ganz abgesehen von dem relativ engen Regelwerk, was z. B. halal ist und was nicht.
Einen positiven Eindruck auf mich hat der Islam des 12. Jahrhunderts in Cordoba auf mich gemacht. Allein wenn man sich die Moschee ansieht, die hinterher zu einem christlichen Gotteshaus verschlimmbessert wurde. Aber auch in der berichteten Großzügigkeit in der Toleranz gegenüber Christen und Juden und der Förderung von Kultur und Wissenschaften. Die christliche Kirche hinkte dem damals hoffnungslos hinterher.
Heute prägen für mich macht- und missionsorientierte, oft gewaltbereite Vertreter des Islam wie im Iran oder Afghanistan das Bild, weniger dramatisch, dennoch nicht ohne, auch die verlängerten Arme Erdogans in Deutschland. Die durchaus positive Wahrnehmung mancher kluger liberaler Muslime kann das für mich nicht ausgleichen.
Ich weiß sehr genau, warum ich Jesus als Maßstab nehme mich als Christen bezeichne, auch wenn ich in vieler Hinsicht nicht mit christlich-kirchlicher Lehre übereinstimme. Trotzdem könnte ich, wenn ich den Einfluss und das Geld hätte, eine solche Feier ausrichten. Eine offizielle christliche Kirche kann sich das aber meiner Meinung nach nicht erlauben. Das ist ein weiterer Schritt in ihre Bedeutungslosigkeit.
Viele Grüße
Thomas
vielen Dank für deine ausführliche Stellungnahme mit vielen interessanten Gedanken, denen ich nur zustimmen kann. Besonders angesprochen hat mich, was du zur internationalen Öffnung durch Paulus sagst und zu dem überraschenden Umstand, dass man über Jesus angesichts seiner historischen Bedeutungslosigkeit heute überhaupt noch spricht.
Ebenso sehe ich einen entscheidenden Unterschied zwischen Jesus und Mohammed in der von dir genannten Machtpolitik. Mohammed hat Kriege geführt, was von Jesus undenkbar ist. Dass man dennoch so tut, als stünden beide auf einer Stufe, als sei es gleich, ob man Jesus oder Mohammed als endgültigen Propheten anerkennt (wenn man Jesus schon nur als Propheten verstehen will), verschlägt mir eigentlich die Sprache. Die Gewalt, die von Mohammed ausging, wird dann einfach mal so unter den Teppich gekehrt. Das Gegenargument, das dann immer gebracht wird, nämlich dass die Kirche doch auch sehr gewalttätig gewesen sei (und in gewissen Formen heute noch ist), ist ja kein Argument gegen Jesus, sondern eins gegen die Kirche - und zwar ein berechtigtes.
Mir geht es da wie dir: Ich nehme mir Jesus als Maßstab und kann mir nicht vorstellen, ihn einem Heerführer und politischen Eroberer gleichzusetzen.
Viele Grüße
Klaus
ich möchte nur daran erinnern, dass in den Zeiten Israels mit allen anderen Göttern, die es so gab und noch gibt, kein inter-religiöser Dialog gesucht wurde noch erwünscht war. Ganz im Gegenteil. Andere Anbetungs- bzw Gehorsamsformen und Bezugspunkte zur Anbetung einer Gottheit wurden ausgelöscht, da deren ethische und moralische Werte- und Lebensvorstellungen inklusive Prioritäten inakzeptable waren.
Klar, Gutes gibt es überall zu finden ... aber zur Heiligkeit bedarf es deutlich mehr.
Wer will schon - im nächsten Leben - die gleichen Probleme wie - in diesem Leben - haben?? Fortschritt ist somit weit mehr als nur "Technik" und "Innovation" ...
vielen Dank für deinen wichtigen Hinweis. Was im alten Israel auf jeden Fall vermieden werden sollte, war die Religionsvermischung. Ich denke, das hat für uns heute auch noch Bedeutung. Dass man respektvoll miteinander spricht, um sich besser zu verstehen und Vorurteilen oder Verunglimpfungen entgegenzuwirken, finde ich aber wichtig. Natürlich sollten dabei auch die Unterschiede nicht eingeebnet werden! Dies ist leider heute eine gewisse Tendenz, die ich im Artikel kritisiert habe. Dann kommt es doch wieder zur Religionsvermischung, die vermieden werden sollte.
Es ist schon merkwürdig, dass es Menschen so schwer fällt, respektvoll miteinander zu reden und dennoch die jeweiligen Unterschiede zur Geltung kommen zu lassen. Das meinte ich mit der Gefahr, die sich auftut, wenn man seines eigenen Glaubens nicht sicher ist: Dann ist es wohl ein Problem, sich der Infragestellung des eigenen Glaubens durch den Andersglaubenden auszusetzen.
das Reden, so wie du es beschreibst, ist wichtig und notwendig.
Das ging ja schon mit der Verkündung der Guten Botschaft einher.
Mit unterschiedlichen Standpunkten kann etwas reifen, sofern alle das gleiche Ziel haben.
Es wurde damals wie heute geredet mit dem Ziel zu retten und zu gewinnen für das Gute.
Aber wie das so mit den Menschen und Strukturen ist,
die streiten sich gerne über die Definition, was eigentlich Gut ist und was alles dafür notwendig ist, anstatt sich dem heiligen Geist einer göttlichen Definition unterzuordnen.
Dann würden sie nicht aus Kleinigkeiten trennende "rettungsrelevante" Großigkeiten machen.
Zwischen - kann und muss - besteht immer ein Unterschied, den es deutlich zu machen gilt.
Ich denke ein möglicher Respektsverlust hat auch viel mit Verlustängsten zu tun.
Und ein Infragestellen sollte immer auf einer guten Begründung beruhen,
statt mit ständig Relativierendem zu verunsichern und alles in Zweifel zu ziehen.
ja, mit ständigem Relativieren kann nur verunsichert werden. Vielleicht ist dieses Relativieren aber auch ein Anzeichen der eigenen Unsicherheit und der Verlustängste. Was nur relative Bedeutung hat, um das muss man sich, sollte man es verlieren, ja nicht so viele Gedanken machen.