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Holder Knabe ohne himmlische Ruh'

Christsein verstehen
Veröffentlicht von in Festzeiten · 23 Dezember 2019
Tags: WeihnachtenAußenseiterEinsamkeitSohn_Gottes

Holder Knabe ohne himmlische Ruh‘
Klaus Straßburg | 23/12/2019

Die Geräusche der Stadt waren in unendliche Ferne gerückt. Diffuses Mondlicht drang durch die schmale Gasse. Sie hatte die Dunkelheit gesucht und sich auf einer niedrigen Mauer niedergelassen. Allein zu sein war ihr lieber als all die gehaltlosen Gespräche, die sich um Belangloses drehten. Was sie wirklich bewegte, verstand schon seit langem niemand mehr. So hatte sie das Schweigen gelernt. Es fröstelte sie, und sie verschränkte die Arme vor ihrer zu dünnen Jacke. Mit leisem Aufprall zerplatzten die Regentropfen auf ihrer Jacke. Das gefielt ihr. Es hatte etwas Natürliches und Ehrliches. Wie auch die Einsamkeit und Dunkelheit dieses Ortes. Von irgendwoher hörte sie den lieblichen Gesang von „Stille Nacht, heilige Nacht“. Wie aus einer vergangenen Heimat klang das Lied zu ihr herüber. In ihrer Kindheit hatte es ein Stück Geborgenheit für sie bedeutet. Jetzt aber passte es nicht mehr, erweckte eher Unwohlsein. Das war nicht mehr ihre Welt. Die Welt, in der jetzt sie lebte, war so ganz anders. Anders als die Welt derer, vor denen sie geflohen war, weil sie ihre Lügen und Selbsttäuschungen nicht mehr ausgehalten hatte. Ist es das Lied, das eine irreale Welt beschreibt? fragte sie sich. Oder bin ich es, die die reale Welt verloren hat?

Stille Nacht, heilige Nacht!
Alles schläft, einsam wacht
Nur das traute hochheilige Paar.
Holder Knabe im lockigen Haar,
Schlaf in himmlischer Ruh!
Schlaf in himmlischer Ruh!

„Himmlische Ruh!“ Ja, früher war Weihnachten ein Stück erfülltes Sehnen nach Ruhe und Frieden gewesen. Jetzt aber war ihr der Himmel entglitten. Was bedeutete jetzt noch diese „heilige Nacht“?


1. Das Lukasevangelium

Das Kind von Bethlehem wurde nicht im Wohnort der Eltern und unter liebevoller Fürsorge der Familie geboren. Wie das Lukasevangelium in Kapitel 2,1-7 berichtet, mussten die Eltern aufgrund eines Befehls des Kaisers Augustus in den Geburtsort des Vaters reisen. Der Kaiser wollte durch eine Erfassung der Eigentumsverhältnisse die zu zahlenden Steuern ermitteln. Die Entfernung zwischen Nazareth und Bethlehem beträgt etwa 150 Kilometer. Für die hochschwangere Maria muss die Wanderung eine Tortur gewesen sein. Von einem Esel, der ihr die Reise erleichterte, ist nicht die Rede. Wie lange die Eltern für die Fußwanderung brauchten und welche Qualen sie vor allem für die werdende Mutter mit sich brachten, kann man nur spekulieren. Als sie schließlich in Bethlehem ankamen, suchten sie vergeblich nach einer Herberge. Zu viele Menschen waren unterwegs, um in ihre Geburtsorte zu reisen. Alle Unterkünfte in den Gasthäusern waren schon belegt. So wurde das Kind in einem Stall oder einer Höhle geboren, die auch den Tieren als Schutzraum diente. Maria legte ihren Sohn in die Futterkrippe, die wohl kein Holzgestell war, sondern ein gemauerter Futtertrog oder eine Grube im Lehmboden, in die das Futter geschüttet wurde.

Machen wir uns klar, dass unter diesen Umständen der Sohn Gottes (Lk 1,35), der Retter („Heiland“, Lk 2,11), der Herrscher („Herr“, Lk 2,11) auf die Welt kam. Schauen wir auf die geschichtlichen Verhältnisse, so ist dieser Herrscher schon vor seiner Geburt den Befehlen des herrschenden Kaisers ausgesetzt. Dabei geht es um Steuern, also ums Geld. Die Macht des Geldes macht auch vor dem Sohn Gottes keinen Halt. Die Schwangerschaft ist nicht von Fürsorge und Ruhe für die werdende Mutter geprägt, sondern von unmenschlichen körperlichen Anstrengungen. Schließlich gibt es für die Eltern und das Baby nur einen Platz bei den Tieren, also fern von den Orten, an dem die Menschen sich aufhalten. Schon hier wird deutlich, was der erwachsene Jesus später erfahren musste: Er wird ausgegrenzt, ausgeschlossen von der Gemeinschaft, ins Abseits gestellt. Das Unmenschliche trifft auch ihn.

Die ersten, die dem Retter ihre Aufwartung machten, waren nach Lk 2,8-20 keine wohlhabenden und angesehenen Bürger, sondern arme und misstrauisch beäugte Hirten. Sie waren im Sommer monatelang unbeaufsichtigt auf Wanderschaft mit den ihnen anvertrauten Tieren. Das nährte den Verdacht, dass sie etwas vom Ertrag der Herde unterschlagen könnten. Den religiösen Autoritäten galten Hirten deshalb als räuberische und betrügerische Gesellen, ähnlich den Zöllnern. Weil sie ihre Herden nicht verlassen durften, konnten sie auch am religiösen Leben nicht teilnehmen. Andererseits vertraute man guten Hirten sein Vieh an und setzte darauf, dass sie ihrer Aufgabe treu nachkamen. Jedenfalls wurde die Geburt des von Gott Gesalbten (griechisch „Christus“, Lk 2,11) als erstes gesellschaftlichen Außenseitern und nicht frommen Vorbildern verkündet.

Der Sohn Gottes kommt nicht in die Welt der Reichen und Frommen. Im Gegenteil: Seine Welt sind die Armen, die Vorverurteilten, die Verachteten, die Benachteiligten. Also jene, die ein schweres Dasein haben und vom gesellschaftlichen und religiösen Leben weitgehend ausgeschlossen sind. Deren Nähe hat später auch der predigende Jesus gesucht. Er gesellte sich nicht so sehr zu den scheinbar Frommen, sondern gerade zu den „Sündern und Zöllnern“ (Lk 5,27; 15,1f), also zu solchen, denen man als gläubiger Mensch tunlichst aus dem Weg ging.

Matthäus erzählt die Geschichte in seinem Evangelium anders. Wie es historisch genau gewesen ist, muss offen bleiben. Darum geht es auch gar nicht in erster Linie. Sondern es geht darum, was uns diese Geschichten für unser Leben und für Gottes Beziehung zu uns zu sagen haben.


2. Das Matthäusevangelium

Nach Matthäus waren nicht Hirten, auch nicht Könige oder Weise, sondern Magier (griechisch mágoi, Mt 2,1) die ersten, die das neugeborene Kind anbeteten. Als Magier galten in der Antike gelehrte Astrologen, Wahrsager und Traumdeuter, denen geheimes Wissen und Zauberei nachgesagt wurde. Im Alten Testament wird diese Praxis ausdrücklich verurteilt (5Mo/Dtn 18,9-11; 2Kön 9,22). Die Magier aus der Weihnachtsgeschichte kamen wohl aus Babylonien, also aus dem heidnischen Ausland. Es waren demnach Ungläubige, die den „neugeborenen König der Juden“ suchten (Mt 2,2). Ihre Sterndeutung hat ihnen die Geburt des neugeborenen Königs angezeigt. Wie viele es waren, wird nicht gesagt.

Als Herodes, der herrschende König, von diesem Neugeborenen hört, fährt ihm der Schreck in die Glieder. Er fürchtet um seine Macht. Mit ihm erschrickt die ganze Stadt Jerusalem. Vielleicht fürchteten die Bürger den ungezügelten Zorn des Herrschers, der nun losbrechen würde. Der König fragt die jüdischen Oberpriester und Schriftgelehrten nach dem Geburtsort des Messias (deutsch „der Gesalbte“, griechisch „Christus“, Mt 2,4). Sie verweisen auf das Alte Testament, wonach der Messias in Bethlehem geboren wird (Mi 5,2). Herodes teilt den Magiern den Geburtsort mit und bittet sie, ihm auf dem Rückweg zu berichten, wo genau das Kind zu finden ist. Die heidnischen Magier ziehen daraufhin los in Richtung Bethlehem. Die gläubigen Oberpriester und Schriftgelehrten bleiben zu Hause. In Bethlehem angekommen, verehren die Magier das Kind und machen ihm kostbare Geschenke. Von Krippe und Stall erzählt Matthäus nichts. Im Traum empfangen die Magier eine Weisung Gottes, Herodes nichts über den genauen Geburtsort mitzuteilen. So ziehen sie auf anderem Weg in ihre Heimat zurück (Mt 2,12).

Es ist schon erstaunlich, dass Ungläubige, ja ausdrücklich im Alten Testament Verurteilte, in dieser Weise dem neugeborenen Messias huldigen, während die vermeintlich Gläubigen kein Interesse an ihm zeigen. Offenbar soll gesagt werden, dass Gott auch Ungläubigen den Weg zum Messias weisen kann. Und unverhohlen ist die Kritik an den Herrschenden und scheinbar Frommen. So ist es auch heute noch: Ungläubige werden von Freude erfüllt (Mt 2,10), Gläubige bleiben gleichgültig, und die Mächtigen fürchten um ihre Macht. Der Messias kommt für sie alle; doch wer sich rufen lässt, ist nicht vorhersehbar und immer wieder überraschend. Dabei überbietet der Messias doch alle menschliche Gelehrsamkeit, Weisheit und Macht, wie die gelehrten Magier, die vor ihm niederfallen, zeigen.

Die Angst des Herodes führt zur rasenden Brutalität. Der Sohn Gottes (Mt 2,15) darf nicht leben. Alle männlichen Säuglinge in Bethlehem und Umgebung werden umgebracht (Mt 2,16-18). Joseph und Maria flüchten mit dem Kind nach Ägypten (Mt 2,13-15). Der Kindermord zeigt, wozu die Ablehnung Gottes führt: Wer den „Gott mit uns“ (hebräisch Immanuel, Mt 1,23) nicht anerkennt, macht sich selbst zum Gott, zum Herrn über Leben und Tod. Seine Angst muss alle ausschalten, die sich ihm in den Weg zu stellen drohen. Und sogar der „Gott mit uns“ leidet unter denen, die sich selbst zum Gott machen. Die Angst blieb auch nach dem Tod des Herodes bestehen. Joseph fürchtete nun die Gewalt von Herodes‘ Sohn, der nach ihm regierte. Erst ein von Gott eingegebener Traum konnte ihn beruhigen (Mt 2,22f).


3. Erzählte Frohbotschaft

Gibt es eine frohe Botschaft in diesen Geschichten? Oder ist das alles eher deprimierend und grausam?

Wir müssen die frohe Botschaft im Deprimierenden und Grausamen suchen. Denn der Sohn Gottes kommt in das Elend dieser Welt hinein, um den Elenden nahe zu sein. Und mit dem Sohn kommt Gott selbst: Das Kind wird durch die „Kraft des Höchsten“ gezeugt (Lk 1,35). Der „Sohn des Höchsten“ wird in Ewigkeit herrschen (Lk 1,32f). Das kann man nur von Gott sagen. Darum trägt Jesus auch den Namen „Gott mit uns“.

Der Gott, der mit uns ist, hat keinen Platz in der Welt. Er geht in die Fremde, in die Einsamkeit, in der man ihm mit Gleichgültigkeit und Unverständnis begegnet. Ohne Verwandte, ohne die damals so wichtige Großfamilie mögen sich Maria und Joseph grenzenlos verloren gefühlt haben. Aber in dem Kind war Gott bei ihnen. So ist Gott bei allen, die sich heute fremd, verloren und einsam fühlen. Die ohne Familie und Freunde sind. Oder die ihre Familie um sich haben und dennoch einsam sind. Gott ist bei denen, die in der Gosse liegen so wie der Erlöser im Futterkrog. Die ausgeliefert sind an Mächtigere, die bevormundet werden, die kein eigenes Leben führen dürfen. Er ist bei denen, denen ihr Leben unsäglich schwer geworden ist. Für die niemand sorgt. Die nicht ernst genommen werden, sondern ausgegrenzt, ausgeschlossen aus der Gemeinschaft. Die verfolgt werden und flüchten müssen, so wie das Kind mit seinen Eltern.

All diesen gilt, was der Engel den Hirten verkündigte: „Fürchtet euch nicht! Denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die dem ganzen Volk widerfahren wird; denn heute wurde euch ein Retter geboren, welcher der Messias ist, der Herr in der Stadt Davids“ (Lk 2,10f). Der Retter ist der, der schon als Säugling entweder mit Gleichgültigkeit behandelt wird (durch die Oberpriester und Schriftgelehrten), ins Abseits gestellt wird (im Stall) oder verfolgt wird (durch Herodes). Nur einige ebenso ausgegrenzte Hirten und ein paar religiös gänzlich unannehmbare Magier erkennen, dass er der Retter ist. Die Armen, die Vorverurteilten, die Verachteten und Benachteiligten finden den Weg zu ihm. Ihnen allen gilt die Freudenbotschaft. Es kann geschehen, dass Ungläubige mit Freude erfüllt werden (Mt 2,10), während die Gläubigen gleichgültig bleiben und die Mächtigen um ihre Macht fürchten. Gerade der Gott, der das Deprimierende nicht scheut und sich dem Grausamen aussetzt, ist der Gott an der Seite der Deprimierten und grausam Behandelten. Es gibt keinen Gott in der romantischen Idylle eines weihnachtlichen Stalles. Das Kreuz wirft seine Schatten auf diesen Stall voraus.


4. Heilige Nacht?

Ihre Gedanken trugen sie weit weg in die vergangenen Jahre, in denen sich so viel verändert hatte. Es gab die Sehnsucht nach Liebe, die falschen Entscheidungen, das Suchen nach Verständnis, die immer neuen Enttäuschungen. Die Familie bemerkte nicht einmal ihre Fremdheit. Freunde hatten sich abgewandt, neue Beziehungen hatten Hoffnung geweckt und waren zerbrochen. Geblieben war die Sehnsucht nach „himmlischer Ruh“. Jetzt, in dieser Weihnachtsnacht, war sie besonders groß und unerfüllt.

Der Regen war stärker geworden, ihre Hose wurde langsam durchnässt, aber das bemerkte sie gar nicht. Sie ließ ihre Gedanken fließen, und die ungestörte Einsamkeit war ihr Freund dabei. Der Erlöser im Stall von Bethlehem - schlief er in himmlischer Ruh? Er war doch in diese Welt mit all ihren Widrigkeiten hineingeboren, war ein verletzbarer, sich nach Liebe sehnender Mensch, ein entbehrendes und schreiendes Kind. Was war eigentlich heilig in jener Nacht, in der Gottes Sohn in einem Stall zur Welt kam, ausgeschlossen von einer würdevollen Geburt, den Tieren gleich, und bald darauf verfolgt, ein Flüchtlingskind? Und doch war es der Erlöser, der Retter, der Sohn Gottes, jedenfalls sagt es die Bibel so. Vielleicht bestand das Heilige ja gerade darin, dass Gottes Sohn in diese Dunkelheit hineinkam, dass er die Tiefe nicht scheute, dass er so armselig und verletzlich wurde. Sollte er dann nicht gerade bei den Armen und Verletzten sein? Sollte er sie, die keiner verstand, nicht verstehen? War er auch hier, bei ihr, der Außenseiterin, die sich fremd fühlte in dieser Welt? War er so real wie die Dunkelheit, die Regentropfen, das Lied aus der Ferne und ihre Gedanken?

Es schien ihr, als würde es wärmer bei diesem Gedanken. Was für eine Idee: Gottes Sohn hier bei ihr, neben ihr auf der Mauer. Beinahe hätte sie sich zur Seite gewandt, um zu sehen, ob da jemand war. Aber nur der Regen prasselte weiter. Nein, die Weihnachtsgeschichte ist keine Idylle, dachte sie noch. Die anderen haben eine Idylle aus ihr gemacht. Das ist eine Lüge, eine gefährliche Selbsttäuschung. Die Weihnachtsgeschichte ist wie eine Kerze in finsterer Nacht, wie Freundschaft in der Einsamkeit, wie Hoffnung, wo noch nichts besser geworden ist. Wie leise Freude in der Verzweiflung.

Es war eine merkwürdige Freude, die sie verspürte, ganz tief innen, nur für sie allein, ungeteilt, aufbauend und stärkend und zugleich leise und flüchtig. In diesem Moment war für sie Weihnachten geworden.


* * * * *




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