Heilendes Wasser?
Klaus Straßburg | 12/12/2021
In der Nähe von Herchen, einem Ort an der Sieg zwischen Bergischem Land und Westerwald, gibt es einen sogenannten „Heilbrunnen", der eigentlich eine Quelle ist. Auf dem Foto seht ihr, wie sie heute aussieht. Von der Quelle ist nicht mehr viel zu sehen, denn man hat sie von allen Seiten einbetoniert, übermauert und die ersten Meter des Bachlaufs durch viel Beton und Steine begradigt.
Neben der Quelle gibt es eine Info-Tafel mit einem Foto aus früherer Zeit.
Damals hatte man offensichtlich noch nicht so viel Beton eingesetzt. Außerdem sieht man auf dem Foto ein altes, urwüchsiges Holzkreuz, das heute nicht mehr steht und durch ein neueres, weniger rustikales Kreuz ersetzt wurde.
Die Info-Tafel erklärt, dass die Quelle durch eine Sage aus dem 13. Jahrhundert berühmt wurde. Ich gebe die Sage hier mit den Worten auf der Tafel wieder. Die Sage handelt von dem erblindeten Burgfräulein Mathilde:
Ihr Vater, Guntram von Grenz, ein wilder Raubritter und gefürchteter Tyrann, hauste auf der Festung Grenz bei Dierdorf. Einmal ließ er einen armen Köhler (Kohlenbrenner) wegen eines geringen Wildfrevels blenden. Daraufhin verlor auch des Ritters Tochter Mathilde ihr Augenlicht. Nachdem ihre Mutter vor Kummer gestorben und ihr Vater in einer Schlacht gefallen war, belagerten Feinde die nun schutzlose Burg. In dieser Notlage riet ihr väterlicher Beschützer, Pater Anselm, Mathilde zur heimlichen Flucht in das Kloster nach Herchen. Auf dem Weg dorthin traf sie mit ihren Begleitern unweit von Obersaal auf eine Quelle im dichten Wald. Kaum hatte Mathilde ihre Augen mit dem frischen Quellwasser benetzt, konnte sie wieder sehen. Aus Dankbarkeit für die göttliche Fügung ließ die Äbtissin des Klosters in Herchen die Quelle mit Steinen einfassen und daneben ein Kreuz errichten.
Oberhalb der Quelle befindet sich diese Gedenktafel:
Die Inschrift lautet:
O crux ave,
spes unica
Erichtet
1801
Der lateinische Text lautet zu Deutsch:
Sei gegrüßt, o Kreuz,
einzige Hoffnung
Daneben liegt eine weitere Gedenktafel mit folgender Aufschrift:
Ehre, Liebe u. Dank
dem hl. Herzen Jesu
Hier bin ich gesund geworden
17.3.1963
Auf der Info-Tafel wird noch darauf hingewiesen, dass das Burgfräulein Mathilde nicht die einzige war, die durch das Quellwasser Heilung erfuhr. Die Gedenktafel bestätigt das.
Während meiner Rast neben der Quelle habe ich mich gefragt, wie ich mich zu diesen Heilungserzählungen stellen soll. Ich will gar nicht in Frage stellen, dass an dieser Stelle Menschen eine Heilung erfahren haben. Ich glaube aber nicht, dass das Quellwasser eine außergewöhnliche Qualität hat, die es von anderem Quellwasser unterscheidet und heilende Wirkung entfaltet.
Eine solche Sicht würde mich an magische Praktiken erinnern, die unter anderem davon ausgehen, dass Gegenstände heilende Wirkungen entfalten können. Esoterisch veranlagte Menschen glauben zum Beispiel an die heilende Kraft bestimmter Steine oder Bachblüten.
Magie wird gemeinhin so verstanden, dass Menschen durch geheimnisvolle Praktiken versuchen, in den Weltlauf einzugreifen. Der unverfügbare Weltlauf oder auch Übernatürliches soll dadurch dem Menschen verfügbar gemacht werden.
Im Alten Testament werden Zauberei, Zeichendeuterei, Wahrsagerei und Okkultismus ausdrücklich verboten (5 Mo/Dtn 18,10f). Stattdessen soll Israel auf Propheten hören, die Gottes Ratschlüsse verkünden (5Mo/Dtn 18,15f). Magie gerät somit in Konflikt mit dem Glauben an Gottes Handeln in der Welt.
Magische Praktiken sind auch heute nicht selten, wie beispielsweise Astrologie, Wahrsagerei, Okkultismus, Heilungsrituale oder Bachblütentherapien zeigen.
Ich glaube, wie gesagt, nicht, dass das Quellwasser der beschriebenen Quelle eine heilende Zusammensetzung aufweist. Ich glaube auch nicht, dass Gott jede Berührung mit diesem Wasser segnet, so dass jeder kranke Mensch, der mit diesem Wasser in Berührung kommt, geheilt wird. Das würde Gott festlegen und seine Wirksamkeit an einen bestimmten Gegenstand (das Wasser) oder einen bestimmten Ort (die Quelle) binden. Gott ist aber frei in seinem Handeln.
Ich will jedoch nicht ausschließen, dass am Ort der Quelle Heilungen stattgefunden haben. Man könnte das auf psychische Prozesse zurückführen, die sich in den kranken Personen vollzogen haben. Das wäre aber vielleicht doch zu einfach. Denn auch heute finden unerklärliche Heilungen statt, wenn auch nicht unbedingt an bestimmten Orten. Jedenfalls gibt es Heilungsprozesse, die auch von Ärzten nicht erklärt werden können. Man spricht dann von „Spontanheilungen".
Entscheidend ist meiner Meinung nach nicht, dass Gott an bestimmten Orten oder mit bestimmtem Quellwasser heilt, sondern dass er überhaupt heilend in der Welt wirkt. Er benötigt dazu kein Wasser und auch keinen auserwählten Ort. So etwas benötigen eher wir Menschen, um unseren Glauben an etwas Sichtbares und sinnlich Erfahrbares zu binden.
Könnte es sein, dass Gott diesem menschlichen Bedürfnis dadurch entgegenkommt, dass er manchmal bestimmte Orte oder auch Gegenstände vorzüglich für sein heilendes Handeln nutzt? Nicht, weil die Orte oder Gegenstände an sich heilig sind, sondern weil wir so schwach sind, dass uns das Glauben leichter fällt, wenn die Heilung mit einem Ort oder einem Gegenstand verbunden ist? Ich will das nur als Frage in den Raum stellen und nicht behaupten, dass es so ist.
Die Gefahr bei solchen Festlegungen ist immer, dass sich der Glaube mit magischen Vorstellungen verbindet. Doch wenn Gott heilt, hat das nichts mit Zauberei zu tun. Wir sollten deshalb nicht auf bestimmte Gegenstände, Orte oder Rituale setzen, sondern auf Gottes heilendes Handeln in der Welt, das überall und unter allen Umständen stattfinden kann. Es kann stattfinden, aber es muss nicht. Die Entscheidung, ob, wann und wie Gott heilt, liegt allein bei Gott.
Die lateinische Inschrift auf der alten Gedenktafel bezeugt in aller Kürze, worum es geht:
Die einzige Hoffnung liegt im Gekreuzigten, dem am Kreuz nicht geholfen wurde. Das bedeutet für uns: Auch wenn uns auf Erden keine Heilung widerfährt, sind wir in Gottes Hand, und die letzte, die eigentliche Heilung von allen Gebrechen erfolgt nicht in dieser, sondern in der himmlischen Welt.
Darum ist das angemessene Verhalten von Menschen, die sich nach Heilung sehnen, das Beten und nicht das Vertrauen auf irdische Gegebenheiten. Wenn uns aber schon in dieser irdischen Welt Heilung geschenkt wird, wo und wie immer es auch geschehen mag, dann sollen wir das nicht irdischen Kräften zuschreiben, sondern Gott danken – dem Gott, der auch auch durch das Handeln von Ärzten, durch moderne Medizin und Medikamente und womöglich auch durch Berührung mit ganz normalem Quellwasser heilend in der Welt wirkt.
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