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Hat die Kirchen-Bruchbude eine Zukunft?

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Veröffentlicht von in Kirche und Gemeinde · 13 Januar 2021
Tags: KircheMissionGemeindeaufbau

Hat die Kirchen-Bruchbude eine Zukunft?
Klaus Straßburg | 13/01/2021

Die Diskussion um die Zukunft der Kirche wird schon seit Jahrzehnten geführt. Im Dezember erschienen nun in der Zeitschrift theologische beiträge die kontroversen Aufsätze von zwei evangelischen Theologieprofessoren zum Thema: Heinzpeter Hempelmann (Marburg) veröffentlichte elf provozierende Thesen unter dem Titel „Warum die Kirche keine Zukunft hat", und Michael Herbst (Greifswald) antwortete darauf mit seinem Aufsatz „Grüße aus der Bruchbude" (Theologische Beiträge 51 (2020), S. 440-470; im Folgenden Seitenzahlen in Klammern).

In diesem Artikel stelle ich die Thesen beider Theologen zur Zukunft der evangelischen Landeskirchen kurz dar und gebe anschließend eine eigene Stellungnahme dazu ab. Natürlich kann ich nur einen kleinen Auszug aus der Gedankenfülle der beiden Aufsätze bieten, der notwendig subjektiv ist.

Ich beginne damit, die Thesen Heinzpeter Hempelmanns wiederzugeben, in gekürzter Fassung und zum Teil mehrere Thesen unter thematischen Gesichtspunkten zusammengefasst. Zu jeder These oder Thesengruppe liefere ich zur Erläuterung einige Gedanken des Verfassers, die mir wichtig erscheinen. Im Original beginnt jede These mit der Formulierung „Kirche hat keine Zukunft, weil", und dann folgt die Begründung. Ich lasse diese Formulierung weg und führe hier nur die jeweiligen Begründungen an.

Eine wichtige Vorbemerkung, die auch Michael Herbst in seiner Entgegnung macht (460): Theologische werden sichtbare und unsichtbare Kirche unterschieden. Die sichtbare Kirche ist die Kirche, die jedem Menschen als Institution, Organisation und Gruppe oder Bewegung vor Augen ist. Die unsichtbare Kirche hingegen besteht aus allen Glaubenden dieser Welt, egal welcher Institution, Gemeinschaft, Konfession oder religiösen Prägung sie zugehören. Die unsichtbare Kirche ist also der „Leib Christi", die „Gemeinschaft der Heiligen", wie das Glaubensbekenntnis sagt, und diese Gemeinschaft ist nicht identisch mit der Institution Kirche und den religiösen Gruppen und Bewegungen.

Heinzpeter Hempelmann spricht in seiner Kritik nicht von der unsichtbaren Kirche, sondern von der empirisch wahrnehmbaren evangelischen Kirche. Die unsichtbare Kirche hat, weil sie vom Geist Gottes getragen ist, immer eine Zukunft. Der sichtbaren Kirche aber gilt folgende Kritik des Verfassers.


1. Heinzpeter Hempelmann: „Warum die Kirche keine Zukunft hat" (440-456)

Zu Beginn stellt Hempelmann fest, dass er ein Gesamtbild der Kirche zeichnen will, ohne seitenweise Differenzierungen anzubringen. Er will sozusagen den ganzen Wald sichtbar machen und nicht nur Bäume, Äste und Blätter. Er weiß, dass er sich dadurch angreifbar macht, weiß auch darum, dass seine Thesen „korrektur- und ergänzungsbedürftig" (441) sind. Dennoch wählt er diesen Weg, weil der differenzierende Diskurs auch „eine im Endeffekt lähmende Wirkung entfalten" (440) kann.

1. Kirche hat kommunikativ ihre Anschlussfähigkeit verloren hat.

Die Kirche ist in ihrem eigenen Milieu gefangen und spricht nur noch drei Lebenswelten an: die bürgerliche Mitte, die Traditionsorientierten und einige sozial-ökologisch bewegte Menschen. Die Kirche vermittelt den Menschen: „Wenn Du Christ sein willst, in der Kirche leben willst, musst Du unsere subkulturelle Prägung annehmen und teilen" (443).

2./3./10. Kirche ist ein geschlossenes System und veränderungsunfähig. Als „Konstantinisches Kirchentum" [Staatskirche] ist sie nur noch eine historische Größe. Dennoch lebt sie selbstsicher im Bewusstsein, sie besitze eine Ewigkeitsgarantie.

Die Kirche ist hauptsächlich mit sich selbst beschäftigt. Sie organisiert ihr Überleben durch viele kleine Anpassungen an die neue Situation und verhindert damit eine grundlegende Systemänderung. Sie „hängt mental und strukturell in der Vergangenheit fest" (444) mit ihrer Gliederung nach Ortsgemeinden, ihrer behördenmäßigen Verwaltung und dem staatlichen Kirchensteuereinzug. Im Gefühl, nicht untergehen zu können, erkennt sie den Ernst ihrer Lage nicht und „verharrt im Weiterso, statt aufzubrechen, sich zu riskieren" (454).

4. Viele Christen schämen sich, zur Kirche zu gehören, und bekennen sich deshalb auch nicht gerne zu ihr.

Als Gründe des Fremdschämens nennt der Verfasser: Die Kirche engagiert sich nicht genug für die, „die materiell und geistig arm sind", ist denen nicht wirklich nah, „deren Einstellungen schlicht sind", und hat „Ekelschranken [...] gegenüber den Anschauungen im prekären Milieu" (445). Sie wird ihren eigenen ethischen Standards nicht gerecht. Beispiel: Energieverschwendung beim Aufheizen riesiger Kirchen für eine Stunde Gottesdienst, der auch im Gemeindehaus nebenan stattfinden könnte. Außerdem: Die Menschen schämen sich einer Kirche, „die in ihrer Traditionsverhaftung, [...] ihrem Hängen an alten Zöpfen und überkommenen Regeln nur peinlich ist; die seltsam wirkt, aus der Zeit gefallen, mit ihrem hohen Alter und ihrer Modernisierungsverweigerung, mit ihrem Ruch als Alte-Leute-Club und Traditionsverein" (446).

5./8./9. Kirche ist nicht (mehr) lebensnotwendig. Sie hat ihren Unique Selling Point [ihr Alleinstellungsmerkmal] verloren. Sie weiß nicht mehr, wer sie ist, und sie scheut und lehnt zutiefst ab, was sie ist.

Kirche sollte eine „Rettungsbootgemeinschaft" sein, die „allen in Not eine Zuflucht bietet" (448). Aber: Will die Kirche noch aus der Not retten oder sieht sie die Not gar nicht mehr? „Wo liefert sie eine Weltanschauung, die den Abgründen und Greueln der täglich erfahrbaren Geschichte(n) gewachsen wäre? (448f) Als „Gemischtwarenladen [...], der keine Identität mehr besitzt" (452), hat die Kirche ihre „Systemrelevanz" verloren (was man z.B. daran erkennt, dass im Lockdown zwar Baumärkte, nicht aber Kirchen als systemrelevant eingestuft wurden). Sie will es allen recht machen in einem Pluralismus, der „jedes individuelle Anliegen kirchlich tauft" (452). Als „endzeitliche" Kirche, die zwischen Ankunft und Wiederkunft Christi existiert, müsste die Kirche aber leidender Zeuge ihres Herrn sein – „bis zum Zerreißen aufgespannt zwischen altem und neuem Äon, ohne Möglichkeit sich zu etablieren" (453).

6./7. Kirche bildet falsch aus, bildet die falschen Leute aus und ist auch noch stolz darauf. Sie duldet, akzeptiert und fördert eine Theologie, die tödlich ist und geistliches Leben wie Gemeindewachstum zerstört.

Die Kirche „braucht nicht nur theologische Wissenschaftler, sondern auch zu Gemeindegründung in der Großstadt fähige Entrepreneure [Unternehmer], [...] nicht nur Akademiker, sondern auch Manager", sie braucht „Kommunikateure, die milieusensibel Kommunikation in unterschiedlichen Lebenswelten einfädeln können" (449). Es mangelt an Auseinandersetzung mit Glaubensfragen und an einer aus dem Glauben heraus begründeten evangelische Ethik. „Gott als Wirklichkeit kommt im Theologiestudium nicht vor; es wäre unwissenschaftlich, ihn als Realität ins Spiel zu bringen" (451).

11. Kirche hat ihre Zukunftsfähigkeit verspielt, indem sie ihre Ressourcen für deren Reflexion aufbraucht.

Der Autor rechnet damit, dass die Reaktionen auf seine Thesen sich auf Reflexion beschränken werden: „auf Kritik an Pauschalierungen, auf Hinweis auf Ausnahmen; auf relativierende Belege, es sei doch nicht (ganz) so schlimm" (454). Genau diese Debattenkultur, die das Milieu von Eliten wiedergibt, zeigt die Milieuverengung der Kirche, raubt ihr die Energie und bestätigt ihre Veränderungsresistenz.


2. Michael Herbst: „Grüße aus der Bruchbude" (457-470)

Der Titel dieser Entgegnung geht auf den evangelischen Theologen Helmut Thielicke (1908-1986) zurück, der sich in seinem Todesjahr ein letztes Mal zur Lage der Kirche äußerte und dabei den Kirchenkritikern das Wort von der „Bruchbude" in den Mund legte.

Michael Herbst fasst zunächst die Kritik Hempelmanns in drei Punkten zusammen: Die Kirche leidet unter Kontaktverlust – Reformunwilligkeit – Identitätsverlust. Herbst stimmt Hempelmann in vielen Teilen seiner Analyse zu, kritisiert aber zugleich die Einseitigkeit seiner Thesen. „Hier gibt es nur noch Schwarz, kein Weiß, nicht einmal mehr Grau." Es fehlt die „Dankbarkeit für gelingendes christliches Leben in dieser ,Bruchbude'", die „Hoffnung bei all den [...] Ansätzen zu etwas Neuem und Anderem, im Kleinen wie im Großen" (463). Der Autor fordert empirische Belege und Differenzierung ein. Wer nur noch eine Sorte Bäume im Wald sieht, gewinnt gerade kein Gesamtbild des Waldes. „Ja, es ist mühsam, immer zu wenig, zu klein, zu schwach, manches halbherzig, anderes aber tapfer, hoffnungsvoll, mit Resonanz bei Menschen, die früher kaum einer christlichen Stimme Gehör geschenkt hätten" (463). Es gibt also nach Herbst nicht nur „kirchliche Nacht" (464).

Ein weiterer Kritikpunkt betrifft das Fehlen jeglicher Theologie in Hempelmanns Thesen. Denn es stellt sich die Frage, was das alles mit Gott zu tun hat. „Auch die Kritik an ,Kirche' kann Gott vergessen" (465). Wenn man Theologie in die Überlegungen einbezieht, werden nach Herbst Fragen aufgeworfen wie: „Wo ruft uns Gott zur Umkehr? [...] Wo liegen wir auf den Knien und flehen Gott an um seinen Geist, innere Erneuerung, Aufbruch, Freude am Evangelium und Gehör bei den Menschen? [...] Wann hören wir gemeinsam, dass uns gesagt wird: Geht hin in alle Lebenswelten und macht zu Jüngern alle Generationen, Milieus, alle Menschen, egal welchen Geschlechts und Alters, welcher Herkunft und sozialen Lage?" (466) Es geht dem Verfasser um die Klage und Bitte, aber auch um Lob und Dank gegenüber Gott und den Menschen. Es geht also darum, dass das Problem nicht rein innerweltlich behandelt, sondern die Beziehung zu Gott einbezogen wird. Denn dadurch bleibt man nicht resigniert und deprimiert vor der „Bruchbude" stehen, sondern gewinnt eine dankbare und hoffnungsvolle Perspektive auf die Zukunft der Kirche.

Abschließend stellt Herbst die Frage, wohin eigentlich der Weg einer so fundamentalen Kirchenkritik führt. Er zeigt drei Wege auf, die er ablehnt: die Kirche verlassen, sich auf das persönliche Leben in der Nachfolge Jesu zurückziehen oder noch schärfer und immer wieder neu lautstark kritisieren. Herbst zieht einen vierten Weg vor: mit denen zusammenstehen, die an einer Erneuerung der Kirche arbeiten, lebendige Gemeinden stärken, neue Gemeinden gründen und so auf das Senfkorn setzen, das „einen hoffnungsvollen Neuanfang darstellt (Mt 13,31f)" (468).

Für Herbst beginnt ein neues Kapitel im Leben der Kirche: Sie wird Kirche in der Diaspora sein, „eine Kirche, zu der Menschen aus Gründen der Wahl und nicht der Tradition gehören. [...] Es ist eine Kirche, deren Glaube nicht mehr der Glaube der Mehrheit ist" (468). Bis es soweit ist, will der Autor diese „Bruchbude" nicht verachten, sondern in ihr wirken, zum Glauben einladen, „beten, lieben, dienen, bezeugen", und das in der „Hoffnung, dass Gott in seiner Güte auch eine Bruchbude zum Wohnsitz wählen kann" (469)


3. Stellungnahme

Konzepte zur Veränderung kirchlicher Arbeit, oft Gemeindeaufbau genannt, wurden schon heftig diskutiert, als ich in den 80er Jahren Theologie studierte. Seitdem hat es immer wieder innovative Aufbrüche und neue Vorschläge für die kirchliche Arbeit gegeben. Dennoch ist die Kritik an der Kirche nicht verstummt. Und wenn man die Kirche als Ganze in den Blick nimmt, dann muss man eingestehen, dass sich – trotz einiger Neuansätze – am Gesamtbild der Kirche nichts geändert hat.

Ich halte es für richtig, diese Neuansätze zu würdigen (im Bild gesprochen: nicht nur die kranken Bäume zu sehen): Es geschieht nicht nichts. Aber ebenso sollte man sich nicht in den Differenzierungen des Einzelnen verlieren (in den unzähligen Ästen und Blättern) und dabei das Gesamtbild aus dem Blick verlieren: Es geschieht viel zu wenig.

Woran liegt es, dass so wenig geschieht? Nach meiner Erfahrung gehen Neuanfänge immer auf die Initiative Einzelner zurück, die sich in Gruppen zusammenfinden und innovative Projekte starten. Offenbar gibt es aber zu wenige Christ*innen, die sich in dieser Weise engagieren und die kirchliche Arbeit bereichern wollen oder können. Dies hängt mit einem ungeheuren Beharrungsvermögen des alten Dampfers Kirche zusammen: Es gibt nur wenige Menschen, die den Mut und die Kraft haben, die Dampferfahrt zu stoppen, den Dampfer zu verlassen und ein Rettungsboot zu besteigen, um einige im Meer Schwimmende zu retten und dann mit diesen die Fahrt fortzusetzen. Auf dem Dampfer zu bleiben ist ja so viel bequemer und sicherer. Wer es aber wagt, den Dampfer zu verlassen, muss mit erheblichem Widerstand rechnen.

Da sind zunächst manchmal Pfarrer*innen, manchmal Presbyter*innen, jedenfalls immer Bedenkenträger, die das Alte aus verschiedenen Gründen weiterführen wollen. Ein beliebtes Pseudo-Argument ist dabei: „Das haben wir schon immer so gemacht, das hat sich bewährt." Sodann gibt es meist wenig oder keine Unterstützung von Seiten der Kirchenleitungen. Im Gegenteil, die Ressoucen der Änderungswilligen werden seit Jahrzehnten in Umstrukturierungsmaßnahmen verbraucht. Auch hierin ist Hempelmann recht zu geben.

Ich meine mit dem Bild von Dampfer und Rettungsboot nicht, die Kirche zu verlassen, sondern in und mit ihr neue Initiativen zu entwickeln. Ich meine auch nicht, dass die „Geretteten" in die bestehende Kultur der Dampfergemeinde integriert werden sollen, sondern dass umgekehrt die Kultur der Dampfergemeinde die Inklusion aller Neuankömmlinge, so fremd sie auch immer sein mögen, ermöglicht.

Dazu müsste allerdings die „Leitkultur" der Dampergemeinde radikal umgestaltet werden. Hierfür gibt es nur minimale kirchenleitenden Impulse. Es sind die von Hempelmann genannten minimalen Anpassungen, die eine große Umstrukturierung verhindern. Was die Kirche aber heute braucht, um nicht noch mehr von der Lebenswirklichkeit weiter Bevölkerungsschichten abgehängt zu werden, sind keine minimalinversiven Eingriffe, sondern maximal mögliche Reformen.

Diese stehen seit Jahrzehnten aus. Es ist schon so, wie Michael Herbst feststellt: Da arbeiten viele Menschen, die die Kirche lieben, engagiert an ihrer Erneuerung und leiden auch an ihr. Aber viele merken auch, dass sie sich mit ihren Ideen nicht durchsetzen können, dass Veränderungen nicht gewollt sind, und geben schließlich auf. Wie aber kommt es eigentlich, dass nicht die Masse der Christ*innen mit Freude zu neuen Wegen aufbricht, weil sie möglichst viele, wenn nicht alle Menschen erreichen will?

Meine Vermutung ist: Sie sehen gar keine Notwendigkeit dafür. Irgendwie gibt hier immer noch der alte scheinbar aufgeklärte Satz den Ton an, dass doch jeder nach seiner Façon selig werden möge. Mit anderen Worten: Wenn du auch ohne Glauben glücklich bist – was soll's? (Ich gestehe, dass ich selber mal so gedacht habe.) Oder: Jeder kann auch ohne Kirche seinen Glauben pflegen. Und wer getauft ist, der ist auch Christ (diese Aussage habe ich selbst von einem Pfarrer in einer Predigt gehört). Und überhaupt geht es doch eigentlich nicht so sehr um den Glauben, sondern um ein liebevolles Miteinander.

An dieser Stelle wäre nun wirklich mehr Theologie vonnöten. Nicht nur, um seine Klage und Bitte, sein Lob und seinen Dank vor Gott zu bringen – das ist doch für Christ*innen selbstverständlich. Sondern auch, um der Gemeinde klarzumachen, dass sie einen Auftrag hat. Dass die Glieder der Gemeinde Leib Christi sind – nicht zum Zuhören und Konsumieren verurteilt (vielleicht vom Pfarrstand?), sondern jede/r einzelne wichtig ist für die Gemeinde und ihr Funktionieren. Dass die Kirche mehr ist als ein Traditionsverein. Dass sie einen missionarischen Auftrag hat und dass Mission keine Manipulation und Vereinnahmung ist, sondern ein unverzichtbarer Liebesdienst an den Menschen. Und dass die Gemeinden sich um dieses Liebesdienstes willen von allem verabschieden müssen, was den Menschen das Hören des Evangeliums schwer oder unmöglich macht.

Muss man die Kirche verlassen, um diesen Liebesdienst zu leisten? Die Frage ist falsch gestellt. Denn dass Christ*innen irgendetwas müssen, von dieser Annahme bin ich längst befreit. Sie können bestenfalls die Kirche verlassen. Aber wohin sollen sie gehen? Auch die Freikirchen schmoren oft in ihrem eigenen Saft, wenngleich er vielleicht etwas schmackhafter zubereitet ist als der landeskirchliche. Insofern gilt die oben geäußerte Kritik nicht selten auch für die freien Gemeinden und Gemeinschaften.

Jedenfalls habe ich noch Hoffnung für meine Kirche. Nicht, weil ich den Christ*innen so viel Innovationskraft zutraue, sondern weil ich an Gottes Wirken in ihr glaube – das Wirken des Gottes, der sich auch eine Bruchbude zum Wohnsitz wählen kann. Ich weiß, dass auch in dieser Bruchbude Reich Gottes – nicht gebaut wird, sondern geschieht. Doch vielleicht könnte viel mehr geschehen. Vielleicht dämpfen wir Gottes Geist, indem wir ihm sein Wirken schwer machen. Auch das wäre theologisch zu bearbeiten. Und so könnte, wie so oft in der Kirchengeschichte, eine falsche Mainstream- und Predigt-Theologie der Grund für die Misere sein. Es wird Zeit, das zu ändern.


* * * * *



10 Kommentare
2021-01-15 19:24:03
Hallo Klaus,

im Bezug auf den Zustand der Kirche sind meine Bilder noch radikaler. Wenn du bildhaft von einer Bruchbude sprichst, denke ich stattdessen an das Convento do Carmo in Lissabon, eine alte Klosterkirche, die bei einem Erdbeben völlig zerstört worden ist. Es stehen nur noch ein paar Außensäulen und -bögen, aber durch sie kann man den blauen Himmel sehen und in den Trümmern wächst das Grün.

Und statt wie auf einem Dampfer fühle ich mich wie in einer Strömung, die aus einer sicheren Badebucht hinaus treibt. Ich werde meine Kräfte nicht damit verbrauchen, gegen diese Strömung anzuschwimmen, sondern versuchen, mich zunächst treiben zu lassen, dann seitlich rauszuschwimmen und auf einem anderen Weg zurückzukommen.

Viele Grüße, ein schönes Wochenende und einen gesegneten Sonntag

Thomas
2021-01-15 20:46:39
Hallo Thomas,

wenn ich dich recht verstehe, bist du nicht auf dem "Dampfer" Kirche, sondern bist abgesprungen oder nie auf dem Dampfer gewesen und treibst nun mit der Strömung ins offene Meer, versuchst aber, dich durch eigene Bemühungen ans Ufer zu retten. So geht es offensichtlich heute vielen Menschen. Mich würde interessieren, ob es eine Möglichkeit für dich gibt, das Schiff Kirche zu besteigen. Wenn ja: Wie müsste der Dampfer oder das Boot beschaffen sein, damit du an Bord gehst? Wie wünschst du dir die Kirche, was müsste sie dir bieten, damit du dich ihr zugehörig fühlst?

Viele Grüße und auch dir einen segensreichen Sonntag
Klaus
2021-01-16 07:26:08
Hallo Klaus,

organisatorisch bin ich auf dem Dampfer Kirche und habe auch vor, da zu bleiben. Für mich fühlt es sich in etwa an wie die Titanic nach der Kollision mit dem Eisberg (der Moderne). Ich bin Trompeter in einer der Bordkapellen (Posaunenchor) und spiele weiter, weil es mir Freude macht und um die Leute bei Laune zu halten. Mein geistliches Überleben hängt nicht davon ab, ob ich in dieser Organisation bin und über meine voraussichtliche Restlebenszeit wird es sie wohl auch noch geben.

Ich habe mir irgendwann mal ein T-Shirt mit der Aufschrift "Kapernaum Fishing Club" gekauft, das ich bei passenden Anlässen wie Gemeindefesten und auch sonst hin und wieder trage. Es bringt viel von meiner Vorstellung von Kirche zum Ausdruck. Sowohl was die historische Herkunft angeht als auch was Zweck und Ziel betrifft. Kirche ist keine Gesellschaft zum Bau und Betrieb von Dampfschiffen, sondern ein Menschenfischerverein.

Viele Grüße

Thomas
2021-01-16 10:45:01
Hallo Thomas,

mit der Bezeichnung "Menschenfischerverein" könnte ich mich auch identifizieren. Wenn ich dich richtig verstehe, bist du der Meinung, dass die Kirche diese Aufgabe nicht wirklich wahrnimmt, jedenfalls nach der Kollision mit der Moderne im Sinken begriffen ist. Nun könnte man ja sagen: An vielen Orten wird es doch versucht, Menschen zu fischen (zu erreichen oder sogar zu begeistern): durch Predigten, (Posaunenchor-)Musik, Gemeindefeste, Taufen, Trauungen, Diakonie etc. Aber irgendwie gelingt es nicht wirklich. Woran liegt das deiner Meinung nach? Was sind die Gründe dafür, dass kaum mal ein Fisch anbeißt? Warum helfen offensichtlich all die gut gemeinten Konzepte nicht, die in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt wurden? Liegt es an den falschen Konzepten, an fehlendem Willen, sie umzusetzen, oder an mangelhafter Umsetzung?

Es wäre für mich interessant, von einem aktiven kritischen Gemeindeglied zu hören, was konkret falsch läuft auf der Titanic und wie sie vielleicht zu retten wäre.

Viele Grüße
Klaus
2021-01-16 17:28:28
Hallo Klaus,

mit einer Antwort auf diese Fragen tue ich mich schwer, nicht zuletzt, weil ich den vielen engagierten Kirchenmitgliedern und Amtsträgern kein Unrecht tun will.

Ich halte die Analyse von Hempelmann für im Großen und Ganzen zutreffend. Auf der anderen Seite halte ich auch den von Herbst vorgeschlagenen vierten Weg für richtig ("mit denen zusammenstehen, die an einer Erneuerung der Kirche arbeit, lebendige Gemeinden stärken, neue Gemeinden gründen und so auf das Senfkorn setzen").

Ein großes Problem sehe ich darin, dass die halbstaatliche Organisation von Glauben (steuerfinanziert, föderal aufgebaut, mit einer Art Glaubensbeamten als Rückgrat der Organisation), wie wir sie in Deutschland haben, ein groteskes Relikt aus vergangenen Zeiten darstellt. Das steht der Menschenfischer-Aufgabe mehr im Wege, als dass es sie unterstützen kann. In einer multikulturellen und multireligiösen Welt, wo ich viel mehr Berührung mit anderen Religionen habe als viele Generationen meiner Vorfahren, erklärt mit ein Beauftragter der Evangelischen Landeskirche von Westfalen, warum Jesus Christus der Weg und die Wahrheit und das Leben ist, und zwar, bitteschön, in lutherischer Spielart.

Das wird früher oder später so nicht mehr angenommen; im Grunde ist es heute schon so weit. Ich erwarte, dass die Reste dieser Form von Kirche irgendwann zwischen der katholischen Weltkirche (für die Traditionalisten) und verschiedenen Freikirchen aufgeteilt werden.

Viele Grüße

Thomas
2021-01-16 19:29:02
Hallo Thomas,

vielen Dank für deine Antwort. Ich finde es gut, zurückhaltend zu sein, um niemandem Unrecht zu tun. Andererseits kann man ja Kritik auch so vorbringen, dass das Engagement von Menschen gewürdigt wird und dennoch Verbesserungsvorschläge für die praktische Arbeit gemacht werden.

Die steuerfinanzierte und beamtenrechtlich organisierte sogenannte Volkskirche halte ich auch nicht für zukunftsfähig, sie baut sich ja auch mehr und mehr ab. Schade nur, dass die kirchenleitenden Gremien immer noch an ihr festhalten und nicht zum unerlässlichen Übergang anleiten. Eine Freiwilligkeitskirche, die nicht pfarrerzentriert ist, hielte ich für überzeugender.

Dass Jesus Christus nicht als Weg, Wahrheit und Leben verstanden wird, erlebe ich in vielen Gesprächen mit Menschen. Insofern ist es tatsächlich schon so weit, dass das nicht mehr akzeptiert wird. Dennoch würde ich an der Aussage dieses Satzes festhalten. Es muss den Menschen nur erklärt werden, was diese Aussage bedeutet und - genau so wichtig - was sie nicht bedeutet. Denn es gibt unendlich viele Missverständnisse über biblische und theologische Aussagen, an denen die Kirche mitschuldig ist und die deshalb unbedingt von dieser Kirche in verständlicher Sprache und mit existenziellem Bezug zu den Menschen richtiggestellt werden müssen.

Viele Grüße
Klaus
Jochen
2021-01-19 12:25:37
Hallo Klaus,
Soweit ich weiß gab es früher drei Grundvollzüge der sichtbaren Kirche: Zeugnis, Liturgie und Diakonie. Vielleicht wäre es sinnvoll darauf zu achten, dass sich diese drei Kreise erkennbar überschneiden. Denn dann würde deutlich werden, dass die Kirche weder ein Sozialverein, noch ein Traditionsverein, noch ein Naturfreundeverein oder eine politische Partei ist. Allerdings muss man da die Augen schon ordentlich verdrehen, um das heute noch hinzukriegen, zumal Zeugnis und Liturgie aktuell fast ganz unsichtbar geworden sind.

Mein Sinnbild für die ev. Kirche in Deutschland ist allerdings weder eine Bruchbude noch ein Kirchenschiff ohne Dach, sondern die Erlöserkirche in Jerusalem. Alle wichtigen Konfessionen drängen sich ganz dicht um das heilige Grab, nur die Erlöserkirche ist etwas exzentrisch auf Distanz, wie ein Raumschiff auf einer höheren Umlaufbahn, irgendwie zugehörig und dann wieder doch nicht. Und sie ist prächtig, macht was her, eine Klasse für sich sozusagen ganz im Sinne ihres Stifters.
2021-01-19 15:52:53
Hallo Jochen,

schön, von dir zu hören! Die Überschneidung der drei von dir genannten Kreise wäre wirklich sehr wichtig. In der Schnittmenge von Diakonie und Zeugnis wäre die Diakonie dann deutlich erkennbar im Unterschied zu nichtkirchlicher helfender Arbeit, und das Zeugnis wäre weit mehr als nur selbstbezogene und folgenlose Weltanschauung. In der Schnittmenge von Zeugnis und Liturgie wäre Zeugnis nicht nur Lehre, sondern Lob Gottes und Liturgie nicht einfach religiöse Ekstase, sondern reflektierte Gefühlsäußerung. Im Gottesdienst kommen ja Zeugnis und Liturgie wirklich zusammen (oder sollten zumindest zusammenkommen). Besonders in der diakonischen Arbeit vermisse ich aber meist das christliche Profil. Meine Idee dazu wäre: Nicht viele evangelische Krankenhäuser mit zwangsläufig wenigen christlich engagierten Mitarbeitenden, sondern wenige evangelische Krankenhäuser nur mit christlich engagierten Mitarbeitenden. Diese wenigen Krankenhäuser sollten dann nicht als Wirtschaftsbetriebe geführt werden, wie es heute geschieht, sondern von der Kirche soweit finanziert werden, dass die Wirtschaftlichkeit gegenüber der Menschlichkeit in den Hintergrund tritt (der Mensch im Mittelpunkt, nicht die Finanzen).

Was ich nicht verstanden habe: Ist die Erlöserkirche in Jerusalem für dich ein positives Sinnbild für die ev. Kirche oder ein negatives? Exzentrisch auf Distanz zu den Menschen in einer höheren Umlaufbahn finde ich eigentlich nicht gut und auch nicht im Sinne ihres Stifters, der ja mitten unter den Menschen war. Und da gehört die Kirche auch hin. Die Frage ist nur, ob viele Menschen sich zur Kirche drängen würden, wenn sie mitten unter den Menschen wäre, oder ob sie ihr Heil an irgendwelchen angeblich heiligen Orten suchen würden und den wahren Ort des Heils übersehen - wie es Jesus ja auch schon ergangen ist.
Jochen
2021-01-22 17:19:46
Hallo Klaus,
Deine Gedanken zur medizinischen Versorgung mit christlichem Engagement kann ich gut nachvollziehen. In so einer Klinik würde ich mich auch wohler fühlen.

Mein Sinnbild würde ich zunächst eher neutral einschätzen, sozusagen lediglich als Feststellung einer etwas distanzierteren Verbundenheit, weniger als Wertung. Mit dem Stifter hatte ich übrigens eher an den politischen Stifter des Kirchengebäudes gedacht, also den damaligen deutschen Kaiser.
2021-01-22 18:32:44
Hallo Jochen,

danke für deine Klarstellung. Jetzt verstehe ich besser, was du meintest. Prachtvolle Kirchen, die viel hermachen, sind allerdings nicht so mein Geschmack, weil der Kirche eher Armut und Schlichtheit ansteht, finde ich. Sie hat es auch nicht nötig, sich durch prachtvolle oder sogar exzentrische Bauten hervorzutun und damit die Distanz zu den Menschen zu vergrößern, weil ihre Botschaft das Prachtvollste ist, was sie zu bieten hat, und nicht durch Bauten unterstrichen werden muss. Aber das ist mein persönliches Empfinden.
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