Die unversöhnliche Welt ist mit Gott versöhnt
Über den Sinn des Karfreitags
Klaus Straßburg | 28/03/2024
Der Karfreitag führt in der christlich geprägten Kultur ein Schattendasein. Weihnachten und Ostern sind akzeptierte Festtage auch bei denen, die sie nicht religiös begehen. Aber Karfreitag? Was für ein merkwürdiger Tag!
Der Tag der Kreuzigung Jesu. Was soll man an solch einem Tag feiern? Eigentlich unbegreiflich, dass die Christenheit den schändlichen Tod des Menschen, den sie für den Sohn Gottes hält, feierlich begeht.
Die Versöhnung steht nicht bevor, sie ist keine Sacheder Zukunft oder des Jüngsten Gerichts,sondern sie liegt bereits hinter uns
Es gibt eine Reihe großer Missverständnisse über den Tod Jesu am Kreuz – auch innerhalb der christlichen Community. Lassen wir uns deshalb einmal auf ein paar Sätze des Apostels Paulus ein, um zu verstehen, worum es geht.
Paulus schrieb in seinem zweiten Brief an die Gemeinde in Korinth folgende Sätze (2Kor 5,17-20):
17 Ist jemand in Christus, so ist er eine neue Schöpfung;
das Alte ist vergangen, siehe, Neues ist geworden.
18 Das alles aber von Gott,
der uns durch Christus mit sich selbst versöhnt
und uns den Dienst der Versöhnung gegeben hat;
19 wie es ja feststeht, dass Gott in Christus war
und die Welt mit sich selbst versöhnte,
ihnen ihre Vergehen nicht anrechnete
und unter uns das Wort von der Versöhnung aufrichtete.
20 Wir sind also Gesandte an Christi statt,
wie Gott durch uns aufruft;
wir bitten an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!
Paulus verkündet hier eine wunderbare Botschaft: Wir sind mit Gott versöhnt. Wir mögen mit uns selbst und mit unseren Mitmenschen im Clinch liegen. Wir mögen die Augen verschließen vor der Welt, die Kriege statt Versöhnung feiert. Wir mögen uns selbst als unversöhnlichen Menschen erleben. Das alles ändert nichts daran, dass wir mit Gott versöhnt sind. Dass Gott uns mit liebenden Augen ansieht.
Das ist nicht automatisch so, sondern Gott hat sich entschieden, uns die Hand zur Versöhnung zu reichen. Und das ist wichtig: Nicht wir müssen Gott versöhnen, indem wir fromme oder bessere Menschen werden. Nicht wir müssen aktiv werden und Gott irgendwie besänftigen, ihm Genugtuung leisten, damit er uns gnädig ist. Sondern Gott hat uns mit sich versöhnt (Verse 18 und 19). Gott ist hier der allein Aktive.
Das ist wichtig, weil es meist anders herum gesehen wird: Wir müssen Gutes tun und fromm sein, und damit stimmen wir Gott versöhnlich. Das ist ein Missverständnis. Paulus schreibt das glatte Gegenteil: Nicht wir müssen etwas tun, sondern Gott hat das Entscheidende bereits getan.
Die Versöhnung ist also bereits geschehen. Sie steht nicht bevor, sie ist keine Sache der Zukunft oder des Jüngsten Gerichts, sondern sie liegt bereits hinter uns. Die Versöhnung ist da. Gott reicht uns die Hand. Punkt. Wir haben dem nichts hinzuzufügen. Wir können nur staunend vor diesem Wunder stehen.
Auch die Muslime sind mit Gott versöhnt, auch die Buddhistenund die Atheisten und die übelsten Übeltäter dieser Welt
Diese Versöhnung ist "durch Christus" geschehen, schreibt Paulus (Vers 18). Jesus Christus lebte die Versöhnung Gottes. Er wandte sich denen zu, die diese Versöhnung in besonderer Weise brauchten: den geldgierigen Betrügern, den Egoisten, den sexuell Zügellosen, den angeblich von Dämonen Besessenen. Er pflegte Gemeinschaft mit denen, die man meiden sollte, und sagte ihnen die Liebe Gottes zu. Er ließ sich für diese Liebe verfolgen, verhaften, foltern und kreuzigen.
Jesus Christus lebte damit nicht nur seine eigene Liebe, sondern die Liebe Gottes. Das ist gemeint, wenn Paulus schreibt, dass "Gott in Christus war" (Vers 19). Gottes Liebe, die Christus lebte, ist so groß, dass Gott lieber selber unter unserer Verachtung leidet und sich von uns den Status eines toten Gottes verpassen lässt, als dass er uns ins Leid stürzen und in unserem selbstverschuldeten Elend zugrunde gehen lässt. Der Gott, den wir für tot erklären, gibt uns nicht dem Tod preis, nämlich der Trennung von ihm, der unser Leben ist. Gott erduldet vielmehr seine Toterklärung, reicht uns die Hand zur Versöhnung und rettet damit uns vor dem Tod.
Er rettet nicht nur uns, sondern die ganze Welt (Vers 19). Wir sind meistens zu sehr auf uns selbst konzentriert: "Wenn ich glaube, werde ich gerettet. Die Ungläubigen aber sind verloren. Das haben sie davon. Für meine engsten Verwandten habe ich noch Hoffnung. Die meisten Menschen aber werden Gottes gerechtes Urteil empfangen: die Angehörigen anderer Religionen, die Taufscheinchristen, alle, die nicht an Jesus Christus glauben. Also fast die ganze Welt. Wie gut, dass ich anders bin."
"O Gott, ich danke dir, dass ich nicht bin wie die übrigen Menschen, Räuber, Ungerechte, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner", sagte der Pharisäer mit Blick auf den Sünder, der im Tempel weit von ihm entfernt mit niedergeschlagenen Augen stand und es nicht wagte, die Augen zu erheben (Luk 18,11). Nicht umsonst erzählte Jesus dieses Gleichnis.
Dass Gott die ganze Welt mit sich versöhnte, heißt, dass ich mitten unter Versöhnten lebe. Auch die Muslime sind mit Gott versöhnt, auch die Buddhisten und die Atheisten und die übelsten Übeltäter dieser Welt. Ihnen allen gilt Gottes Liebe, in der Gott sich von den von ihm Geliebten verspotten, ignorieren und als toter Gott behandeln lässt – wie es Jesus Christus widerfahren ist.
Ich lebe also mitten unter Versöhnten. Darum kann ich nicht auf sie herabschauen. Wie sollte ich auf die herabschauen, mit denen Gott sich versöhnt hat? Wie sollte ich die auf ihre Bosheiten festlegen, denen Gott ihre Vergehen nicht anrechnet (Vers 19)? Wie sollte ich denen Böses wünschen, die Gott liebt? Wie sollte ich sie in die Hölle verdammen? Würde ich das tun, so würde ich Gottes Liebe zu ihnen ignorieren und seinem Urteil vorgreifen.
Wenn ich also mitten unter mit Gott Versöhnten lebe, kann doch auch ich nur mit ihnen versöhnt sein. Mag sein, dass sie von Gottes Versöhnung nichts wissen. Mag sein, dass sie entgegen dieser Versöhnung leben und Christus täglich neu töten. Ich aber kann sie nicht anders ansehen, als Gott sie ansieht: als mit ihm Versöhnte, mit denen auch ich von meiner Seite aus nur versöhnt sein kann – wie unversöhnt auch immer sie mit mir sein mögen.
Dann blicke ich anders auf die versöhnte Welt. Sie begegnet mir nicht einfach als hoffnungslos verlorener Sündenpfuhl, sondern als der Ort, mit dem Gott versöhnt ist und für den er das Beste will. Und ich verhalte mich anders gegenüber dieser Welt. Ich kann sie in ihrer Gottlosigkeit nicht aufgeben, sondern werde für sie hoffen, beten und arbeiten. Ich werde diese Welt lieben – diese armselige, in ihrer Sünde sich selbst zerstörende Welt, die Gott über alles liebt.
Niemals ist es unsere Aufgabe, andere zu drängen,von ihnen zu fordern, sie zu ängstigen,ihnen mit der Hölle zu drohen
Als mit Gott Versöhnter, der in einer mit Gott versöhnten Welt lebt, lebe ich anders. Das meint Paulus, wenn er von einer "neuen Schöpfung" spricht, die diejenigen sind, die "in
Christus" leben, die mit seinen Augen auf die Welt blicken (Vers 17). "In Christus sein" heißt: Christus gleichgestaltet sein (Röm 8,29; Phil 3,10). Dass wir zu Christus Gleichgestalteten werden, können wir nicht selber schaffen. Dazu bedarf es der schöpferischen Energie Gottes. Darum heißen die wahrhaft Glaubenden "neue Schöpfung". Ihr altes Leben ist vergangen, ein neues Leben hat für sie bereits begonnen (Vers 17). "Das alles aber von Gott", nicht etwa durch sie selbst (Vers 18).
Unter den neu Geschaffenen hat Gott "das Wort von der Versöhnung aufgerichtet" (Vers 19). Dieses Wort steht wie ein Denkmal unter ihnen. Es ist der Orientierungspunkt ihres Lebens. Das Wort von der Versöhnung ist ihr Lebensinhalt. Sie leben von diesem Wort und sie leben dieses Wort, indem sie es weitergeben mit ihren eigenen Worten und Taten. Denn sie sind "Gesandte an Christi statt", durch die Gott "aufruft", ebenfalls von diesem Wort der Versöhnung zu leben (Vers 20).
Wunder über Wunder: Wir stehen an Christi statt. Gott ruft durch uns auf, so wie er durch Christus aufrief. Wir – Sünder durch und durch – sind die Statthalter Christi – nicht durch eigenes Vermögen, sondern weil Gott es so will und uns zu einer "neuen Schöpfung" macht.
Welche Ehre ist es, das Wort von der Versöhnung Gottes mit der Welt auszurichten an alle Menschen! Welche Freude, für Gott arbeiten zu können! Welches Geschenk, dadurch einen Lebenssinn zu erhalten!
Was tun die, die eine "neue Schöpfung" geworden sind? Sie "bitten an Christi statt: Lasst euch versöhnen mit Gott!" (Vers 20). Sie bedrängen die anderen nicht, sie machen ihnen keine Angst, sie verurteilen sie nicht, sondern sie bitten. Dass wir das nur nicht vergessen! Unsere Aufgabe ist, die anderen zu bitten, einzuladen, zu umwerben. Niemals ist es unsere Aufgabe, sie – und sei es in der besten Absicht – zu drängen, von ihnen zu fordern, sie zu ängstigen, ihnen mit der Hölle zu drohen. Wir sollen die, die mit Gott schon versöhnt sind, bitten, diese Versöhnung anzuerkennen und in ihr zu leben.
Je mehr wir uns von Gottes Hand festhalten lassen,desto freier, fröhlicher, hoffnungsvoller und engagierterwerden wir leben
Denn das ist das einzige, was wir Menschen tun können: die ausgestreckte Hand Gottes zu ergreifen und im Status der Versöhnung nun auch zu leben. Was für eine Tragik, wenn ein Mensch die ausgestreckte Hand Gottes ausschlägt! Wenn er lieber als Unversöhnter weiterlebt denn als Versöhnter! Kaum zu glauben, dass es das gibt! Aber das ist die Tragik des Lebens von uns allen.
Denn das ist ja nicht nur das Problem der anderen, sondern das ist auch unser eigenes Problem: dass wir immer wieder versucht sind, die Hand Gottes auszuschlagen und uns an anderen Händen festzuhalten, die uns näher, greifbarer und wichtiger erscheinen. Deshalb gilt die Bitte "Lasst euch versöhnen mit Gott!" zuerst immer uns selbst. "Lebt doch als Versöhnte! Als Versöhnte mit Gott und als Versöhnte untereinander! Seid doch die neue Schöpfung, die Gott aus euch macht! Lebt dieses neue Leben, widerstrebt dem Leben nicht, das in Wahrheit Leben ist, und lasst alles Alte, das sich nur Leben nannte, hinter euch! Lebt nicht als Verlorene, Tote, Gott und dem Leben Ferne! Verurteilt euch nicht selbst zum Tod der Gottlosigkeit, der Unversöhntheit, der bleibenden Trennung von Gott und vom Leben, sondern ergreift euer Glück und euer Leben, das stärker ist als der Tod, indem ihr euch ergreifen lasst von der Liebe, die Gott euch entgegenbringt!"
Gottes ausgestreckte Hand ist da. Es ist nur ein kleiner Handschlag bis zur Versöhnung. Wenn wir in Gottes Hand einschlagen, eröffnet sich uns ein neuer Weg, auf dem wir Gottes Hand festhalten können. Dieser Weg wird nicht immer leicht sein. Aber je mehr wir an Gottes Hand festhalten, vielmehr: je mehr wir uns von ihr festhalten lassen, desto freier, fröhlicher, hoffnungsvoller und engagierter werden wir leben – schon jetzt in dieser Welt, die nichts so sehr braucht wie Gottes Wort von der Versöhnung.
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Foto: Joshua Woroniecki auf Pixabay.