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Immanuel Kant über Vernunft und Glaube (Teil 2)

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Veröffentlicht von in Personen · 6 September 2021
Tags: VernunftWissenGlaubeErkenntnisBeweiseReligionKulturOffenbarung

Immanuel Kant über Vernunft und Glaube (Teil 2)
Klaus Straßburg | 06/09/2021

Wie verhalten sich Glaube und Vernunft zueinander? Während vor der Aufklärung meist gar kein Widerspruch zwischen beiden empfunden wurde, wird seit der Aufklärung der Glaube von der Vernunft her in Frage gestellt.

Immanuel Kant hat darum untersucht, wie weit die Erkenntnisse der Vernunft eigentlich reichen können und wo die Grenzen ihrer möglichen Erkenntnisse sind. Sein Ergebnis war: Über das Übersinnliche, Jenseitige kann die Vernunft keine Aussagen machen. Ob Gott existiert oder nicht, darüber kann die Vernunft keine objektiven Theorien aufstellen (siehe Teil 1 des Artikels). Aber unsere guten Taten, meinte Kant, erfordern geradezu, dass es einen Gott gibt. Wie Kant zu dieser Überlegung kommt, ist Thema dieses 2. Teils.

Zunächst aber ein ganz kurzer Blick auf einige ethische Normen, die Kant herausgearbeitet hat.


5. Die Metaphysik der Sitten

Nachdem Kant den kategorischen Imperativ als ethischen Grundsatz gefunden hatte, machte er sich daran, konkrete ethische Normen zu erarbeiten. Er veröffentlichte diese im Jahr 1789 unter dem Titel „Die Metaphysik der Sitten".

Darauf kann ich hier nur kurz eingehen, um zu zeigen, dass Kant schon zu seiner Zeit teilweise recht moderne Vorstellungen hatte.

Was zum Beispiel das Völkerrecht betrifft, stellte Kant fest: Die Verfassung eines Staates soll republikanisch sein; alle Gewalt soll also nicht von einem Monarchen, sondern vom Volk ausgehen. Alle Staaten sind freie Staaten. Es soll kein Krieg sein, kein Staat soll einen anderen bedrohen oder sich in seine Verfassung und Regierung einmischen. Kant kritisierte ausdrücklich das von der Kolonialisierung ausgehende Unrecht.

Als ethische Tugenden formulierte Kant beispielsweise: Ein Mensch hat Pflichten gegenüber sich selbst, und zwar
  • erstens gegenüber seinem Leib, weil er ein leibliches Wesen ist: z.B. Selbsterhaltung, kein Suizid, keine Selbstschädigung durch maßlosen Gebrauch von Genuss- und Nahrungsmitteln;
  • zweitens gegenüber seinem Handeln, weil er ein ethisches Wesen ist: z.B. Selbsterkenntnis und -kritik, Selbstachtung und Wahrhaftigkeit;
  • drittens gegenüber anderen Menschen: Liebe, z.B. Wohltätigkeit, Dankbarkeit, Anteilnahme, aber auch Respekt, die den Mitmenschen nicht als bloßes Mittel zum Zweck missbraucht, sondern im Menschen selbst den Zweck erkennt und so die Würde seiner Persönlichkeit achtet.

Kant spricht in seiner Ethik von Pflichten. Das klingt so, als müsse man sich widerwillig zu etwas zwingen. Kant meint aber, dass man seine Pflichten mit Lust und Freude erfüllen solle, ansonsten hätten sie keinen inneren Wert. Verlassen wollte sich Kant auf diese Gefühlsbasis allerdings nicht; Lust- und Unlustgefühle gehörten für ihn zur „unteren" Sphäre des bloß Sinnlichen. Darum sollte es die Vernunft sein, die über die Gültigkeit der Pflichten entscheidet.


6. Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft

In diesem Werk aus dem Jahr 1793 widmete sich Kant der überlieferten christlichen Lehre. Schon in der „Kritik der praktischen Vernunft" hat Kant über Gott, Freiheit und Unsterblichkeit geschrieben und sie als Annahmen der praktischen Vernunft behandelt. Ich greife hier auch auf seine Erkenntnisse aus diesem Werk zurück, um seine Stellung zur Religion nicht auf mehrere Kapitel zu verteilen.


a) Der „moralische Gottesbeweis"

Religion zeigt sich für Kant in den Begriffen Gott, Freiheit und Unsterblichkeit. Dass diese drei existieren, ist nach Kant durch die theoretische Vernunft nicht zu beweisen. Insofern gibt es kein objektives Wissen um sie. Kant meinte dennoch, dass sich ihre Existenz glaubhaft machen lasse, und zwar durch die praktische Vernunft: Sie zwinge uns zu dem Glauben, dass es Gott, Freiheit und Unsterblichkeit gibt.

Ich beginne mit der Freiheit. Kant argumentierte so: Wenn es einen kategorischen Imperativ gibt, der uns auffordert, das Gute zu tun, dann muss es auch die Freiheit geben, dieser Aufforderung nachzukommen. Wäre der Mensch nicht frei, dieser Aufforderung zu folgen, dann wäre die Aufforderung sinnlos.

Nun ist die Freiheit nicht mit unseren Sinnen wahrzunehmen. Frei zu sein ist also eine übersinnliche Fähigkeit. Darum spricht Kant auch von der „übersinnlichen Existenz" des freien Menschen oder von der „Tiefe göttlicher Anlagen", von dem „göttlichen Menschen in uns", ja vom „Gott in uns". Zwar ist der handelnde Mensch frei, indem er nur denjenigen Gesetzen gehorcht, die er sich selber durch seine Vernunft gibt. Zugleich aber unterwirft sich der Mensch der allgemeinen Gesetzgebung, auf die ja auch der kategorische Imperativ zielte: „Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne." Dieser allgemeinen Gesetzgebung entsprechend soll also der Mensch handeln – obwohl er doch durch die Maxime seines Willens gerade diese allgemeine Gesetzgebung schafft. Kant drückt dieses Paradox so aus:

Wir sind zwar gesetzgebende Glieder eines durch Freiheit möglichen [...] Reichs der Sitten, aber doch zugleich Untertanen, nicht das Oberhaupt desselben.
(Zitiert nach Weischedel, S. 208)

Das Oberhaupt dieses Reiches der Sitten (wir würden sagen: der Normen des ethischen Handelns) ist nach Kant selber keinem Willen eines anderen unterworfen. Keinem Willen eines anderen unterworfen ist aber nur Gott. Dadurch ist nach Kant die Existenz Gottes für den ethisch handelnden Menschen notwendig.

Zur Unsterblichkeit: Wenn unsere praktische Vernunft uns auffordert, nicht nach irdischem Glück zu trachten, sondern unsere ethischen Pflichten zu erfüllen, auch wenn uns das nicht glücklich macht, dann muss es einen gerechten Ausgleich für dieses Verhalten geben. Dieser Ausgleich ist ein unsterbliches jenseitiges Leben, die jenseitige Glückseligkeit.

Wenn es aber diesen Ausgleich gibt, dann muss es auch eine entsprechende göttliche Weltordnung geben und einen jenseitigen Gott, der diesen Ausgleich schafft; dann müssen Lust und Pflicht, also das, was ich bin, und das, was ich sein soll, irgendwo zu einer letzten Einheit zusammenfließen. Dieses Irgendwo ist das Jenseits. So formulierte Kant einen „moralischen Gottesbeweis". Es ist kein Gottesbeweis der theoretischen Vernunft, die auf Erfahrungen gründet, sondern der praktischen Vernunft, die es vom Handeln des Menschen her notwendig macht, den Gedanken eines existierenden Gottes zu haben. So wird nach Kant auch Metaphysik möglich, die Wissenschaft vom Übersinnlichen.

Auch wenn man von einem „Gottesbeweis" spricht: Kant wollte Gott damit nicht beweisen, sondern die Existenz Gottes nur für das ethische Handeln des Menschen voraussetzen.

So war es nicht Kants Absicht, die Theologie abzuschaffen, sondern als eine philosophische Erkenntnis zu ermöglichen, die in der praktischen Vernunft gründet. Er spricht dann auch vom Verstand und Willen Gottes und sogar von seiner Heiligkeit, Weisheit, Allmacht, Allwissenheit, Gerechtigkeit, Ewigkeit und anderen Näherbestimmungen Gottes. Es geht ihm dabei jedoch nicht um Einsichten aus einer Offenbarung, sondern es geht ihm immer nur um ein ethisches Gottesverständnis.

Es ist moralisch notwendig, das Dasein Gottes anzunehmen.
(Zitiert nach Weischedel, S. 209)

Ein Beweis im Sinne der theoretisch argumentierenden Vernunft ist das nicht, aber eine Notwendigkeit für den Menschen, der moralisch handeln will. Es ist nach Kant ein Postulat, eine sachlich notwendige Annahme, eine These, die zwar unbeweisbar, aber durchaus glaubwürdig und einsichtig ist.


b) Der ethisch handelnde Mensch und der „Gott in uns"

Es zeigt sich im Denken Kants immer wieder, dass die Ethik das Entscheidende ist und die Religion das davon Abgeleitete. Die Pflichten stehen bereits fest, und die Religion erklärt diese Pflichten nur nachträglich so, dass sie von Gott in unsere Vernunft gelegt wurden. Die Religion deckt sich also mit der philosophischen Ethik. Kant meinte, dass das Christentum die ethisch vollkommene Religion ist.

Die philosophische Ethik führt also nach Kant unweigerlich zur Religion, denn jedes Mal, wenn ein Mensch guten Willen zeigt, halte er notwendig die Existenz Gottes für wahr. Eine Offenbarung Gottes von außen her sei zur Erkenntnis Gottes zwar möglich, aber nicht notwendig. Denn jeder Mensch trage von Natur aus immer schon eine Gottesvorstellung in sich, die durch die praktische Vernunft erwiesen wird.

Eine auf Erfahrungen gründende Gotteserkenntnis gibt es für Kant ja nicht. Das einzige Kriterium für Offenbarung sei daher die Übereinstimmung der Gotteserkenntnis mit der praktischen Vernunft, welche die philosophischen Grundsätze der Ethik erarbeitet. Kant bewunderte die praktische Vernunft, nämlich die Überlegenheit des in uns ethisch wirkenden „übersinnlichen Menschen" über den sinnlichen Menschen. Er war fasziniert von der ethischen Anlage in uns, die eine göttliche Herkunft haben müsse. Darum konnte er auch, wie oben schon vermerkt, vom „Gott in uns" sprechen.

So ist bei Kant der Mensch mit seiner Vernunft das Maß aller Dinge, auch das Maß der Religion. Denn es ist ja die Vernunft, welche die Vernunftkritik vollzieht und zur Ethik führt. Der Glaube an eine Offenbarung setzt zunächst einmal den Glauben an die Vernunft voraus. So entscheidet dann auch die Vernunft darüber, ob eine auf Offenbarung beruhende Erkenntnis wahr ist oder nicht.

Deshalb meinte Kant auch, man müsse in der Bibel denjenigen Sinn suchen, der mit der Vernunft harmoniert. Wer die Bibel auslegt, müsse die wahre Lehre der Vernunftreligion in die Bibel hineintragen. Im Idealfall stimmten dann die offenbarte und die natürliche Religion miteinander überein. Auch die Botschaft von Jesus, dem Sohn Gottes, wolle uns zum Vorbild für unsere moralische Vollkommenheit dienen. Auch diese Botschaft liege schon in unserer Vernunft vor und bedürfe eigentlich keiner historischen Person. Jesus sei für die Vernunftreligion kein einzelner Mensch, sondern der Inbegriff der Menschlichkeit. Glaube an Christus sei deshalb: auf sich selbst das Vertrauen setzten, dass man ihm in treuer Nachfolge ähnlich bleiben werde.

Kant hat dementsprechend Gnade so verstanden, dass sie nichts anderes als die Natur des Menschen sei, wenn dieser nämlich durch sein Inneres zu Handlungen bewegt wird, zu denen Gott selbst ihn bewegt. Der im Menschen wirkende heilige Geist ist sozusagen die eigene gute Gesinnung. Das Wirken des Menschen und das Wirken Gottes fließen hier ineinander, werden im Grunde identisch.


c) Eine Kraft von außen, die in uns wirkt?

Dennoch hatte Kant kein durchweg positives Menschenbild. Er konnte sich sehr kritisch über das menschliche Handeln äußern. Ich führe jetzt einige Gedanken Kants an, die dem bisher Gesagten entgegenzustehen scheinen.

Es gibt nach Kant keinen Grund, an eine ethische Weiterentwicklung des Menschen zum Positiven hin zu glauben. Der Mensch kann gleichermaßen Gutes und Böses wollen und tun. Ja, Kant meinte, der Mensch sei im Kern böse, denn er gestehe sich zu, von den ethischen Grundsätzen, deren er sich bewusst ist, gelegentlich abzuweichen. Diese innere Schuld bleibe bestehen, auch wenn der Mensch Gutes tut. Es sei ein innerer Hang zum Bösen, eine angeborene Schuld. Dieser Hang sei durch menschliche Anstrengungen nicht zu beseitigen. Kant nennt ihn „das radikale Böse", weil er eine Verdorbenheit der ursprünglichen Natur des Menschen sei. Deshalb könne auch ein guter Mensch nicht durch einige Verbesserungen im Verhalten entstehen, sondern nur durch eine Erneuerung der ganzen Gesinnung des Menschen. Kant stellt ausdrücklich fest, dass der Mensch, was Glaube und gute Taten anlangt, auf Gottes Gnade rechnen dürfe und solle:

Es kann ein neuer Mensch nur durch eine Art von Wiedergeburt, gleich als durch eine neue Schöpfung (Joh. 3,5 vgl. Gen. 1,2) und [durch eine] Änderung des Herzens werden.
(Zitiert nach Barth, S. 264)

Unter „Wiedergeburt" verstand Kant die Neuwerdung der inneren obersten Grundsätze, nach denen ein Mensch handelt. Der Mensch muss nach Kant alles tun, was in seinen Kräften steht, um ein besserer Mensch zu werden. Wenn er das tut, dann kann er auch hoffen, dass er in seinem Bemühen von Gott unterstützt wird.

Bei aller Hochschätzung der Vernunft meinte Kant weder, dass der vernunftgemäß handelnde Mensch allein alles Gute bewirken könne, noch dass die Vernunft in Fragen der Religion alles allein beurteilen könne. Er meinte vielmehr, dass die Vernunft zunächst das feststellt, was ihr angemessen ist, und dass sie alles übrige, was über ihr Vermögen hinaus noch dazukommen muss,

von dem übernatürlichen Beistand des Himmels erwarten muß. [...] Selbst da, wo die Philosophie der Theologie entgegengesetzte Grundsätze anzunehmen scheint, z.B. in Bezug auf die Lehre von den Wundern, gesteht und beweist die Philosophie, daß diese Grundsätze von ihr nicht als objektiv gültige Grundsätze, sondern nur als subjektiv gültige geltend gemacht werden. Das heißt, die Grundsätze der Philosophie gelten dann, wenn wir nur unsere menschliche Vernunft in theologischen Fragen zu Rate ziehen wollen, wodurch die Wunder selbst nicht in Abrede gestellt, sondern dem Theologen [...] ungehindert überlassen werden.*

Die Philosophie sagt von den biblischen Wundern, dass sie – nach dem subjektiven Urteil der Vernunft – eigentlich nicht geschehen sein können, weil sie die Erfahrungen der Menschen übersteigen. Damit will sich die Philosophie aber nicht in die Theologie einmischen. Die Theologie könne an der Wahrheit der Wunder festhalten, weil sie möglicherweise andere Maßstäbe an die Wundergeschichten anlegt als die Philosophie – nämlich etwas, was ihr durch den „übernatürlichen Beistand des Himmels" gegeben wird.

So bestreitet Kant auch, dass ein seine Vernunft gebrauchender Mensch eine göttliche Offenbarung leugnen dürfe, nur weil sie mit Hilfe der Vernunft nicht einsichtig zu machen sei. Er bestreitet aber ebenso, dass ein glaubender Mensch eine göttliche Offenbarung mit Hilfe der Vernunft einsichtig machen könne. Die Vernunft kann hierüber schlichtweg nichts Objektives sagen.

Kant fordert von der Theologie geradezu, nicht nur nach den Vorgaben der philosophischen Vernunftreligion zu verfahren. Würde die Theologie das tun, dann würde sie sich selbst erniedrigen und der Philosophie gleichstellen. Die Theologie solle auch, was das ethische Handeln betrifft, nicht allein auf die Fähigkeit des Menschen setzen, Gutes zu tun. Wir haben ja oben schon festgestellt, dass Kant dem Menschen diesbezüglich nicht allzu viel zutraute. Außerdem solle die Theologie den Bibelstellen keinen ethischen Sinn unterschieben, wenn diese diesen Sinn gar nicht enthalten. Sie solle sogar auf einen in die Wahrheit leitenden Geist rechnen – dessen Wirken sie natürlich nicht zu beweisen versuchen soll.

Das klingt nun teilweise widersprüchlich zu anderen Äußerungen Kants. Und so streiten sich auch die Gelehrten bis heute, wie man solche Äußerungen Kants verstehen soll. Man hat vermutet, dass Kant eine gewisse philosophische Ironie pflegte und heilfroh war, kein Theologe zu sein und dessen Ort nicht einnehmen zu müssen. Andere haben rundweg bestritten, dass Kant an die Existenz eines persönlichen Gottes glaubte. Jedenfalls hat er die Kompetenzen von Philosophie und Theologie, Vernunft und Glaube klar voneinander abgegrenzt. Er hat auch dem Theologen seinen legitimen Ort zugewiesen – wenngleich er vielleicht froh war, kein Theologe zu sein, und den Theologen auch etwas spöttisch belächelt haben mag.


7. Die Wirkung der Philosophie Immanuel Kants

Die Philosophie Immanuel Kants hat bis heute eine immense Wirkung auf das menschliche Denken entfaltet. Sie hat auch die Theologie des 19. Jahrhunderts geprägt. Diese Theologie konzentrierte sich stark auf die Ethik unter Vernachlässigung dogmatischer Aussagen über Gott. Religion wurde weitgehend mit Ethik identifiziert. Man meinte, das Gute in der Kultur harmonisiere perfekt mit dem Religiösen.

Ein anderer Teil der Theologie im 19. Jahrhundert gab sich nicht mit bloßer Ethik zufrieden, sondern erweiterte das Christliche um das Gefühl des Göttlichen, das sich im Menschen vollzog. Der Mensch sollte demnach nicht nur ethisch handeln, sondern auch das religiöse Gefühl in sich wertschätzen und fördern. Man meinte, das religiöse Gefühl sei Ausdruck des Glaubens. Diese beiden Strömungen der evangelischen Theologie kann man unter dem Begriff Liberale Theologie zusammenfassen.

Mit den Erfahrungen des Ersten Weltkriegs zerbrachen die genannten Harmonisierungen zwischen vernunftgemäßem Handeln und menschlichem Fühlen einerseits und der Religion andererseits. Es wurde bewusst, dass menschliche Vernunft, menschliches Handeln und auch menschliches Fühlen die Gegenwart Gottes nicht gewährleisten können. Die Grauen des Krieges und die Begeisterung für ihn erwiesen sich als alles andere als christlich angemessen. Glaube und Humanismus, Glaube und Kultur, Glaube und Fortschritt traten nun auseinander. Dem vermeintlichen „Gott in uns" wurde ein Gott entgegengestellt, der mit unserem Denken, Fühlen und Handeln nicht identisch ist. Ausgangspunkt des Glaubens war nicht mehr die Vernunft, sondern eine von der Vernunft unterschiedene Offenbarung. Dieser theologische Neuanfang, der sich nach dem Ersten Weltkrieg vollzog, wird Dialektische Theologie oder Wort-Gottes-Theologie genannt.


8. Konsequenzen für Christinnen und Christen

Was können Christinnen und Christen nun aus all diesen Gedanken des Philosophen Immanuel Kant lernen? Ich möchte nur einige Dinge nennen:

Glaubende sollten Menschen verstehen, denen ihre Vernunft wichtig ist. Sie sollten nicht versuchen, jemandem die Wichtigkeit der Vernunft auszureden. Sie ist ja auch für die Glaubenden selbst wichtig. Darum haben sie auch die Vernunft nicht zu fürchten. Sie sollten sie vielmehr selbst kräftig gebrauchen. Vernunft ist eine wunderbare Gabe Gottes. Wer sie nicht gebraucht, steht in der Gefahr, sich irgendwelchen Predigern, Schriften oder seinen eigenen Wunschvorstellungen auszuliefern. Stattdessen sollten Christinnen und Christen jeden Prediger, jede theologische Schrift, jedes fromme Traktat und vor allem die eigenen Sehnsüchte und Wünsche immer wieder kritisch in Frage stellen.

Glaubende sollten nicht so tun, als könnten sie in Glaubensfragen irgendetwas beweisen. Sie sollten sich darum auch nicht auf ihre persönlichen Erfahrungen berufen, als seien sie Beweise. Niemand kann beweisen, ob seine Erfahrungen von Gott her kommen oder ob sie bloße Produkte seines Gehirns sind. Erfahrungen können für uns selbst von großer Bedeutung sein, aber sie beweisen gar nichts. Wenn es ums Beweisen Gottes geht, stehen wir mit leeren Händen da. Darum sollte auch der Glaube selbst nicht allein auf Gefühlen und Erfahrungen gründen. Gefühle und Erfahrungen können die Sicherheit nicht liefern, die wir vielleicht gerne hätten.

Glaubende sollten die Vernunft nicht absolut setzen. Sie sollten sich immer bewusst sein, dass die menschliche Vernunft Grenzen hat. Sie hilft zwar, den Glauben zu durchdenken und zu verstehen. Aber sie kann über Wahrheit oder Unwahrheit in Bezug auf Glaubensfragen nicht entscheiden. Denn über das, was unsere sinnliche Wahrnehmung übersteigt, also über das Jenseitige – und auch das Wirken des Jenseitigen im Diesseits! –  kann die Vernunft nichts aussagen. Die Bibel drückt das so aus: Der Friede Gottes ist höher als alle Vernunft (Phil 4,7). Und das heißt doch, dass auch das Wirken Gottes auf Erden höher ist als alle Vernunft.

Darum müssen die Zweifel der Vernunft einen Christenmenschen nicht allzu sehr schrecken. Er sollte sich diese Zweifel gefallen lassen, ihnen einmal nachgehen, sie überprüfen. Und dann sollte er getrost an dem festhalten, was seinen – durch die Zweifel hindurchgegangenen und vielleicht sogar geläuterten – Glauben ausmacht. Denn nicht die Vernunft spricht das letzte Wort über Wahrheit und Unwahrheit, sondern der Gott, der von jenseits aller Vernunft her auch unsere Vernunft in seinen Dienst nimmt, um in uns Glauben zu wirken.

* * * * *

* Um der besseren Verständlichkeit willen sprachlich angepasst. Im Original: „von dem übernatürlichen Beistand des Himmels erwarten muß. [...] Selbst da, wo die philosophische Theologie der biblischen entgegengesetzte Grundsätze anzunehmen scheint, z.B. in Ansehung der Lehre von den Wundern, gesteht und beweist sie, daß diese Grundsätze von ihr nicht als objective, sondern nur als subjective geltend gemacht werden, d.i. als Maximen verstanden werden müssen, wenn wir blos unsere (menschliche) Vernunft in theologischen Beurtheilungen zu Rathe ziehen wollen, wodurch die Wunder selbst nicht in Abrede gezogen, sondern dem biblischen Theologen [...] ungehindert überlassen werden."
Zitiert nach Barth, S. 276.


Quellen:
  • Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Theologischer Verlag Zürich, 6. Aufl. Zürich 1994. S. 237-278.
  • Mühling, Markus: Systematische Theologie: Ethik. Eine christliche Theologie vorzuziehenden Handelns. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2012. S. 108-114.
  • Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Verlag W. Kohlhammer, 12. Aufl. Stuttgart u.a. 1981. S. 396-446.
  • Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. Zwei Bände in einem. Erster Band: Wesen, Aufstieg und Verfall der Philosophischen Theologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. Darmstadt 1983. S. 191-213.


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7 Kommentare
2021-09-07 12:59:52
Hallo Klaus,

danke erneut für diesen zweiten Teil der Kant-Zusammenfassung.

Meine Gedanken dazu:

a)Selbst wenn man der Meinung ist, dass man für moralisches Handeln über die Grenzen der bloßen Vernunft hinausgehen muss, landet man nicht automatisch bei dem Glauben an den christlichen (jüdischen, muslimischen) Gott. Der Buddhismus z. B. würde hier ebenfalls als Möglichkeit zur Verfügung stehen.

b)Selbst wenn man zu dem Urteil kommt, dass auch die Philosophie (oder die Naturwissenschaften) letztlich kein objektiv gültiges Wissen haben, ist das m. E. nicht automatisch ein Freibrief für die Theologie, an beliebig absurde Wunder zu glauben, wenn sie nur in der Bibel stehen. Für mich gibt es da qualitative Zwischenstufen. Wissen, das objektiv überprüfbar ist, hat für mich höheren Rang als Wissen, bei dem das nicht möglich ist. Und überprüfbare Theorien sind für mich umso zuverlässiger, je mehr objektiv nachweisbare Widerlegungsversuche sie erfolgreich überstanden haben.

Zusammengefasst: Was ich hier auch bei Kant sehe und kritisiere, ist das Arbeiten mit falschen Alternativen.

Viele Grüße

Thomas
2021-09-07 15:28:53
Hallo Thomas,

danke für deine Stellungnahme. Ich kann dazu Folgendes sagen:

Zu a): Dieser "moralische Gottesbeweis" hat mir auch nicht eingeleuchtet. Ich würde sogar sagen, dass ethisch verantwortliches Handeln keinen wie auch immer gearteten Gottesbegriff als notwendig voraussetzt.

Zu b): Ich denke, es geht nicht um einen Freibrief für die Theologie oder für Glaubende, Absurditäten zu behaupten. Absurdes hat auch in der Theologie und im Glauben nichts zu suchen. Ich frage mich aber, was überhaupt objektiv überprüfbar oder widerlegbar ist. Man kann ja doch wohl auch im Bereich des Nichtreligiösen nur von "objektiven Wahrscheinlichkeiten" sprechen. Wenn das stimmt, dann kann es, genau genommen, nur Wahrscheinliches und weniger Wahrscheinliches geben, aber kein absolut, also immer und überall Unmögliches. Und das gilt m.E. für den übersinnlichen Bereich noch viel mehr als für den sinnlichen. Da hat Kant, finde ich, schon etwas Richtiges gesehen, wenn er sagt, dass das Übersinnliche für uns nicht erfahrbar und darum durch Erfahrung auch nicht widerlegbar ist. Das Argument der Objektivität scheitert für mich schon an der Frage, ob überhaupt ein Gott existiert oder nicht. Die Existenz eines unsichtbaren, also mit unseren Sinnen nicht wahrnehmbaren Gottes, kann demnach empirisch weder bewiesen noch widerlegt werden. Und das gilt doch wohl für alles Glaubenswissen. Denn ich wüsste nicht, wie z.B. die Berechtigung eines Vertrauens zu Gott auch in schwerem Leid, die Faktizität einer Auferstehung Jesu oder die Bedeutung des Todes Jesu als Heilsereignis "für Sünder" empirisch überprüft oder widerlegt werden könnten.

Das ändert aber auch für mich nichts daran, dass diverse Wundergeschichten nicht für historisch wahr gehalten werden müssen oder sollten, sondern dass sie gerade in der nicht-historischen, metaphorischen Dimension ihre tiefe Bedeutung haben. Ich denke, insofern liegen wir nicht weit auseinander.

Viele Grüße
Klaus
2021-09-07 21:58:42
Hallo Klaus,

die Bedeutung (oder Deutung) des Todes Jesu als Heilsereignis betrachte ich auch als reine Glaubensfrage. Die Faktizität der Auferstehung Jesu ist auch nicht direkt empirisch überprüfbar, das stimmt. Allerdings reicht der lange Arm der Naturwissenschaft ohne Weiteres auch 2000 Jahre zurück, so dass man durchaus etwas zur Möglichkeit einer körperlichen Auferstehung sagen kann. Ein gängige medizinische Definition versteht unter Tod einen irreversiblen (!) Hirnfunktionsausfall (https://www.bundesaerztekammer.de/fileadmin/user_upload/downloads/pdf-Ordner/RL/Hirnfunktionsausfall_Artikel.pdf). Das ist überprüfbar, das hat vielen Überprüfungen standgehalten, und daran komme ich mit einem nicht überprüfbaren Bericht aus einem religiösen Buch nicht vorbei.

Viele Grüße

Thomas

2021-09-07 22:18:04
Hallo Thomas,

das sehe ich auch so. Ich verstehe die Auferweckung Jesu allerdings nicht als Wiederbelebung seines irdischen Leibes mitsamt seinen Hirnfunktionen, sondern als Schaffung eines neuen Leibes, der nicht dem irdischen entspricht. Paulus unterscheidet den natürlichen Leib dieses Lebens vom geistigen Leib des Auferstehungslebens (1Kor 15,44). Darauf weisen auch die Erscheinungen des auferstandenen Jesus vor seinen Jüngern hin (auch wenn man die Frage nach deren Historizität einmal ausklammert): Er wurde von ihnen nicht erkannt (Emmaus-Jünger, Maria am Grab) und erschien ihnen so, dass er durch verschlossene Türen zu ihnen kam. Auch wenn ich den Akzent auf die metaphorische Bedeutung dieser Aussagen setze, kann man doch auch einen Bedeutungsgehalt darin sehen, dass Jesu Auferstehungsleib ein anderer war als sein irdischer Leib.

Alles Irdische ist, wie du schreibst, überprüfbar, auch die Wiederbelebung eines irdischen Leibes wäre es. Anders ist es meiner Meinung nach mit einem uns unbekannten himmlischen Leib.

Viele Grüße
Klaus
2021-09-08 21:15:10
Hallo Klaus,

Zum Beispiel

Ein Bekannter von mir verlor durch ungünstige Umstände, die er nicht zu vertreten hatte, seine Arbeit, sein Erspartes, sein Haus und zum Schluss seine Frau, die ihn verließ. Er war darüber so verzweifelt, dass er daran dachte, sich das Leben zu nehmen. In dieser ihm aussichtslos erscheinenden Situation begegnete er einem Mann aus meiner evangelischen Gemeinde, der ihm von Gott und Jesus berichtete. Mein Bekannter, der sich um beide nie gekümmert hatte, hörte aufmerksam zu, begann in der Bibel zu lesen und ging in die Gottesdienste. Und obwohl sich seine materielle Lage nicht verbesserte, fasste er neuen Mut und schöpfte neue Hoffnung. Mehrfach redete er fortan von seinem "Herrgott", der ihm geholfen habe und dem er dankbar sei.

Dies erinnerte mich an die metaphorisch zu verstehende Wundergeschichte mit Petrus auf dem See Genezareth: wie der Heiland ihn im letzten Moment vor dem Untergang rettet. (Natürlich weiß ich, dass die beiden Vorgänge nicht direkt miteinander vergleichbar sind.)

Gruß
Hans-Jürgen
2021-09-08 22:15:44
Hallo Hans-Jürgen,

vielen Dank für dieses berührende Beispiel, das ja schon fast an Hiob erinnert. Ich finde, es veranschaulicht den Sinn der Wundererzählung sehr gut. Und sicher hat jeder Mensch schon einmal - wenn auch vielleicht nicht so dramatisch - Ahnliches erlebt.

Viele Grüße
Klaus
2021-09-08 22:33:45
P.S.

Und vielen Dank, Hans-Jürgen, für die unter deinem Namen verlinkte Seite mit den Informationen über den Theologen Gerd Lüdemann. Dass es so schlimm um seine Lehre bestellt war, habe ich gar nicht gewusst.
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