Immanuel Kant über Vernunft und Glaube (Teil 1)
Klaus Straßburg | 02/09/2021
In diesem Blog denken wir über Gott nach und versuchen, etwas von ihm zu erkennen. Wir benutzen dazu unsere Vernunft. Unser Ziel ist, mit Hilfe der Vernunft zu wahren Aussagen über Gott zu kommen. Aber haben wir uns schon einmal gefragt, ob unsere Vernunft überhaupt in der Lage ist, Aussagen über Gott zu machen?
Die menschliche Vernunft hat seit der Aufklärung eine große Wertschätzung erfahren. Und das ist gut so. Wir alle leben im Zeitalter der Aufklärung. Wir sind mit ihr aufgewachsen und können ihr nicht entkommen. Aber was ist eigentlich Aufklärung? Und welche Rolle spielt in ihr die Vernunft?
Immanuel Kant (1724-1804) ist einer der berühmtesten und einflussreichsten Philosophen. Er gilt als Philosoph der Aufklärung. Was Aufklärung ist, hat er in einer berühmten Formulierung so ausgedrückt (leicht an unsere heutige Sprache angepasst):
Aufklärung ist das Heraustreten des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern im Mangel des Entschlusses und des Mutes liegt, sich seines Verstandes ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! [Wage es, weise zu sein!] Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung.*
Wie sehr möchte man den Menschen auch heute diesen Satz zurufen, vor allem denen, die sich in ihrer Wissens-Blase bewegen, in der sie nur noch die Beiträge Gleichgesinnter lesen und glauben. Aber auch den Christinnen und Christen möchte man es ans Herz legen, die nur das glauben, was sie schon immer geglaubt haben, und die nicht bereit sind, neue Gedanken aufzunehmen, dazuzulernen und sich weiterzuentwickeln.
All denen und vielen anderen könnte man zurufen: Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! Glaube nicht alles, was du liest und hörst! Beziehe dein Wissen aus unterschiedlichen Quellen, tausch dich mit unterschiedlich denkenden Menschen aus und prüfe, so gut du kannst, was der Wahrheit entspricht! Benutze deinen eigenen Verstand und gehe nicht den bequemen Weg, das zu glauben, was andere dir vorgesagt haben!
1. Die Aufgabe
Der Philosoph Immanuel Kant hat gesehen, dass zu seiner Zeit der Glaube an einen unsichtbaren Gott und sein Wirken in der Welt immer stärker verachtet und für immer mehr Menschen schwierig wurde. Damit wollte er sich nicht zufriedengeben. Denn er meinte, dass dem Menschen die Fragen, die sich mit dem Jenseits und dem Übersinnlichen beschäftigen, nicht gleichgültig sein könnten. Er meinte, es seien lebenswichtige Fragen.
Kant beobachtete, dass der Mensch zur Beantwortung seiner Fragen nach Gott zu Thesen Zuflucht nehme, die jede sinnliche Erfahrung des Menschen übersteigen. Daran hat sich Kant gestoßen. Denn Gott ist unsichtbar, und das heißt, er ist nicht mit unseren Sinnen direkt erfahrbar. Kant meinte, wenn nun der Mensch munter über Dinge spekuliere, von denen er keinerlei Erfahrung habe, dann verstricke er sich unweigerlich in Widersprüche. Darum machte Kant es sich zur Aufgabe, die Möglichkeiten und Grenzen unseres Verstandes zu ergründen:
Was und wie viel kann Verstand und Vernunft, frei von aller Erfahrung, erkennen?
(Zitiert nach Weischedel, S. 193)
Dieser Aufgabe galten Kants wichtigste Werke. Ich kann hier nur einige wenige Gedanken aus vier seiner Werke andeutungsweise und hoffentlich nicht zu stark vereinfachend vorstellen. Wegen der Länge des Artikels erscheint er in zwei Teilen.
2. Rationalismus und Empirismus
Zunächst aber einige Worte zu der Philosophie, die zu Kants Zeit herrschte. Das war zunächst der Rationalismus (von lateinisch ratio = Vernunft). Der Rationalismus leitete alle Erkenntnisse aus der Vernunft ab. Er hielt das für wahr, was die Vernunft über die Welt aussagt. Das, was wir sinnlich erfahren oder nicht erfahren, spielte dabei überhaupt keine Rolle. Sinnliche Erfahrung war kein Kriterium für Wahrheit. Man meinte, die Vernunft könne sich auch Gedanken über das Übersinnliche und Göttliche machen. Waren diese Gedanken in sich folgerichtig, dann wurden sie durchaus als Wahrheiten anerkannt.
Darum gab es auch eine Wissenschaft vom Übersinnlichen, also von dem, was unsere Sinne nicht erfahren können. Man nannte diese Wissenschaft Metaphysik (von griechisch metá ta physiká = nach dem Natürlichen: das, was nach dem sinnlich erfahrbaren Natürlichen oder „Weltlichen" kommt). Die Vernunft, so meinte man, kann durchaus Aussagen über das Übersinnliche machen, von dem wir keine Erfahrung haben. Und die rationalistischen Philosophen entwickelten metaphysische Systeme, also Gedankengebäude, die Aussagen über das Übersinnliche machten: über Gott, das Jenseits, die Unsterblichkeit.
Immanuel Kant war beeinflusst von dem englischen Philosophen John Locke (1632-1704). Dessen These war: Der Verstand kann nichts aussagen, was er nicht zuvor mit den Sinnen erfahren hat. Alles, was im Verstand ist, ist zuvor in den Sinnen gewesen. Man nennt diese Denkrichtung Empirismus (von griechisch empeiría = Erfahrung). Dem Empirismus zufolge ist die Erfahrung die Voraussetzung für alle Aussagen der Vernunft. Allein die Erfahrung ist Quelle unserer Erkenntnis. Sie ist aber zugleich die Grenze unserer Erkenntnis; denn was wir nicht erfahren haben, darüber können wir nichts aussagen. Eine Wissenschaft vom Übersinnlichen, eine Metaphysik, ist von daher unmöglich.
Wer hat nun recht: Rationalismus oder Empirismus? Können wir ohne Erfahrungen gültige Aussagen über Gott machen oder nur aufgrund von Erfahrungen?
Um zu einer Antwort zu kommen, untersuchte Kant die Arbeitsweise unseres Denkens: Worauf gründet es sich, wie weit kann es ausgreifen, wo liegen seine Grenzen? Wie funktioniert eigentlich unser Denken?
Aufklärung vor Kant war die grenzenlose, unbedingte Bejahung der menschlichen Vernunft. Für Kant bedeutet Aufklärung etwas anderes: eine selbstkritische und begrenzte Bejahung der Vernunft.
Die drei Hauptwerke von Kant sind seine „Kritiken" – „Kritik der reinen Vernunft", „Kritik der praktischen Vernunft" und „Kritik der Urteilskraft". Kritik bedeutet hier nicht, dass Kant die menschliche Vernunft oder Urteilskraft „kritisierte". Kritik meint eine philosophische Beurteilung der Vernunft und der Urteilskraft – natürlich mit Hilfe der Vernunft. Kant will uns zeigen, was unsere Vernunft eigentlich kann und was sie nicht kann. Er will uns über uns selber aufklären; er will uns helfen, unseren Verstand zu verstehen, damit wir ihn dann sachgemäß und mutig gebrauchen können.
Machen wir uns auf den gedanklichen Weg, unseren Verstand zu verstehen!
3. Kritik der reinen Vernunft
Das Buch ist im Jahre 1781 erschienen. Darin vertritt Kant – wie John Locke – die These, dass all unsere Erkenntnis in dem gründet, was wir mit unseren Sinnen erfahren haben. Unsere Erfahrungen gehen jeder Erkenntnis voran.
Die Frage ist jedoch, ob es etwas gibt, das wir vor aller Erfahrung (lateinisch a priori = von vornherein) in uns haben.
Kants Antwort war: Ja, unser Gehirn empfängt durch die Sinneswahrnehmungen Empfindungen und ordnet diese in eine räumliche und zeitliche Einheit ein. Die Raum- und die Zeitvorstellung ist immer schon (a priori) in uns. Denn unsere Sinnesorgane sind so beschaffen, dass wir alles, was wir wahrnehmen, als im Raum nebeneinander stehend wahrnehmen. Wir ordnen alles, was wir wahrnehmen, in eine räumliche Vorstellung ein.
Dasselbe gilt von der Zeit: Alles, was wir wahrnehmen – auch unsere eigenen inneren Stimmungen und Gefühle –, hat einen zeitlichen Ablauf. Ohne die Zeitvorstellung können wir nichts wahrnehmen.
Raum und Zeit sind also die Formen, die alle unsere Sinneswahrnehmungen ordnen. Der Verstand aber ist es, der aus unseren Sinneswahrnehmungen Begriffe bildet, also Wörter und Vorstellungen, mit denen wir das Wahrgenommene ausdrücken und zu verstehen suchen.
Kant hat nun eine Liste von zwölf Grundformen der Bildung von Begriffen erarbeitet. Er nennt sie die Kategorien, nach denen unser Verstand Begriffe bildet. Zu ihnen gehören zum Beispiel Einheit und Vielheit, Wirklichkeit und Nichtwirklichkeit, Ursache und Wirkung, Möglichkeit und Unmöglichkeit. Eine sinnliche Wahrnehmung in Raum und Zeit wird vom Verstand mit Hilfe der Kategorien zu einem Begriff gebildet, der uns das Verstehen des Wahrgenommenen erlaubt.
Wenn wir z.B. eine Holzplatte mit vier Beinen wahrnehmen, formt der Verstand daraus mit Hilfe der Kategorien den Begriff „Tisch", so dass wir das Wahrgenommene einordnen und verstehen können. Der Verstand fragt sich zum Beispiel: Ist das, was ich da wahrnehme, etwas Wirkliches oder etwas Nichtwirkliches? Inwiefern entsteht aus der Vielheit der Teile eine Einheit?
Eine Konsequenz Kants daraus war: Naturwissenschaft besteht darin, dass der Verstand unsere Wahrnehmungen nach den in ihm liegenden Kategorien ordnet. Zu diesen Kategorien gehört auch der Zusammenhang von Ursache und Wirkung. Dieses Prinzip wendet der Verstand auf alle sinnlichen Wahrnehmungen an. Daraus folgt, dass das Naturgesetz, jede Wirkung habe eine Ursache, im Verstand des Menschen gebildet wird. Ob wirklich jede Wirkung eine Ursache hat, bleibt dabei offen; nur der Verstand deutet seine Beobachtungen so. Das „Naturgesetz" von Ursache und Wirkung ist demnach ein Gesetz unseres Verstandes, nicht der wahrgenommenen Natur.
Aber unsere Hauptfrage war ja: Wie ist eine Wissenschaft vom Übersinnlichen, wie ist Metaphysik möglich? Kant stellte fest: Der Bereich der Wissenschaft reicht nur so weit wie der Bereich unserer Erfahrungen. Alles, was nicht erfahrbar ist, kann sich nicht auf Wissenschaft berufen.
Ist also eine Wissenschaft von Gott, vom Übersinnlichen, vom Jenseits unmöglich?
So weit wollte Kant dann doch nicht gehen. Denn er beobachtete, dass es den Menschen unwiderstehlich danach drängt, über das Erfahrbare in Raum und Zeit hinauszudenken. Der Mensch fragt immer wieder nach der Seele, nach der Welt, nach Gott. Er möchte seine psychischen Erfahrungen bündeln im Begriff der Seele und seine sinnlichen Wahrnehmungen im Begriff der Welt. Und alles, was über das psychisch und sinnlich Wahrnehmbare hinausgeht, schließt die Vernunft zusammen im Begriff eines höchsten Wesens, eines Gottes.
All diesen Begriffen entsprechen aber keine Erfahrungen. Seele, Welt und Gott sind bloße Ideen der Vernunft. Denn was wir wahrnehmen, sind zwar psychische Stimmungen, aber nicht die Seele. Und auch von der Welt als Ganzer haben wir keine sinnliche Wahrnehmung; wir nehmen immer nur einzelne Dinge der Welt wahr, nicht aber die ganze Welt. Und Gott können wir schon gar nicht mit unseren Sinnen wahrnehmen. Dass es eine Seele, die Welt (als Ganze) und einen Gott gibt, kann deshalb mit Hilfe der Vernunft weder bewiesen noch widerlegt werden.
Daraus folgt: Die Ideen „Seele", „Welt" und „Gott" gründen in der reinen Vernunft, das heißt in einer Vernunft, die nicht auf Erfahrungen zurückgeht. Es sind also Vernunfterkenntnisse, aber solche, die kein Wissen begründen können. Wir können eine Idee von Gott haben, aber wir können nicht wissen, ob es Gott gibt und wie er ist.
Dass Gott existiert, kann demnach von der Vernunft nicht bewiesen werden, sondern das kann man nur glauben. Aber auch, dass dieser Glaube ein Irrtum ist, kann von der Vernunft nicht bewiesen werden; auch das kann man nur glauben. Die Existenz Gottes kann
auf diesem Wege zwar nicht bewiesen, aber auch nicht widerlegt werden [...] Denn, wo will jemand durch reine Spekulation der Vernunft die Einsicht hernehmen, daß es kein höchstes Wesen, als Urgrund von allem, gebe?
(Zitiert nach Weischedel, S. 201)
Es gibt also kein beweisbares Wissen in dieser Frage. Gerade diese Unfähigkeit der Vernunft aber ermöglicht nach Kant den Glauben. Darum formulierte Kant seinen berühmten Satz:
Ich mußte [...] das Wissen aufheben, um zum Glauben Platz zu bekommen.
(Zitiert nach Weischedel, S. 211)
Wo es kein beweisbares Wissen mehr gibt, da kann der unbeweisbare Glaube Fuß fassen. Das war ehrlich von Kant gemeint! Kant war kein Atheist. Er ging ihm wirklich darum, einen Beweis für die Existenz eines Gottes aufzuheben und gerade so ohne jeden Beweis an die Existenz eines Gottes zu glauben. Dieser Glaube kann sich nicht mehr auf ein beweisbares Wissen stützen. Er ist aber nach Kant gegenüber dem Wissen nicht minderwertig, was den Grad seiner Gewissheit anlangt.
Es bleibt dennoch die Frage: Wie kann denn von Gott etwas Sicheres gesagt werden, wenn es kein durch die theoretische Vernunft beweisbares Wissen von ihm geben kann?
Kant findet einen Weg dazu: Für den handelnden Menschen gibt es ethische Grundsätze, durch die etwas Göttliches zur Erscheinung kommt. Deshalb beschäftigt sich Kant in seinem zweiten Hauptwerk mit dem ethischen Handeln des Menschen.
4. Kritik der praktischen Vernunft
In diesem 1788 erschienenen Buch will Kant keine ethischen Grundsätze für unser Handeln aufstellen. Er will uns also nicht sagen, welches Handeln aus Sicht des Philosophen ethisch vertretbar ist und welches nicht. Solche Grundsätze formuliert er in seinem Werk „Metaphysik der Sitten", auf das ich im nächsten Kapitel noch kurz eingehen werde. In der „Kritik der praktischen Vernunft" geht es um die grundsätzliche Frage, wie es überhaupt möglich ist, dass wir uns ethisch angemessen verhalten und welche Rolle unsere Vernunft dabei spielt. Kant untersucht also wieder die Arbeitsweise der Vernunft, diesmal aber nicht in Bezug auf das Aufstellen von Theorien, sondern in Bezug auf das praktische Handeln.
In seiner Untersuchung der Arbeitsweise unserer Vernunft findet Kant einen Grundsatz, der für das Handeln aller Menschen gelten kann. Dieser Grundsatz ist der berühmte kategorische Imperativ. Er heißt kategorisch, weil er immer und überall gültig und unabhängig von irgendwelchen Bedingungen ist. Die bekannteste Formulierung dieses Imperativs lautet:
Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne.
(Zitiert nach Störig, S. 421)
Damit ist gemeint: Handle so, dass die Regel dessen, was du tun willst, immer auch ein Gesetz für alle Menschen sein könnte. Wenn du zum Beispiel überlegst, ob du einem anderen etwas wegnimmst oder nicht, dann frage dich: Kann ich wollen, dass allen Menschen das Stehlen erlaubt ist? Wenn du das ablehnst, solltest du auch selber niemandem etwas stehlen.
Kant meinte, dieser Imperativ sei von der Vernunft jedes Menschen einsehbar und gelte deshalb für jeden Menschen. Weil dieser Imperativ nur von der Vernunft begründet wird und von keinen weiteren Bedingungen abhängig ist, hielt Kant ihn für autonom: Der Mensch macht sich selbst das Gesetz seines Handelns. Jeder Mensch soll autonom, also selbstbestimmt entscheiden, worin die gute Tat besteht. Niemand soll sich durch jemanden außerhalb von sich selbst das Gesetz des Handelns auferlegen lassen.
Autonomie bedeutet also nach Kant gerade nicht das, was man heute oft darunter versteht: dass ein Mensch seinen eigenen Wünschen und Bedürfnissen folgt und tut, was er will. Autonomie meint vielmehr, dass ein Mensch seinen Willen der vernünftigen Regel unterordnet, die der kategorische Imperativ ausdrückt.
Weil ein solcher Imperativ, also eine Aufforderung, nur dann Sinn hat, wenn wir ihr auch nachkommen können, geht Kant von der Freiheit des menschlichen Willens aus. Wenn unser Gewissen uns zu einem bestimmten Handeln treibt, dann erheben wir uns nach Kant über die Dimensionen von Raum und Zeit, die die reine Vernunft bestimmen. Dann gehören wir dem übersinnlichen „Reich der Freiheit" an. Dass es diese Freiheit gibt, kann nicht empirisch bewiesen, sondern nur geglaubt werden.
Aus freiem Willen sollen wir das tun, was unsere Pflicht ist. Kants Ethik ist eine Pflichtenethik. Die Pflicht, die uns unsere Vernunft auferlegt, kann uns auch dazu führen, gegen unsere Neigungen und Wünsche zu handeln.
An Kants kategorischem Imperativ ist manches zu kritisieren. Er kann z.B. zu verheerenden Ergebnissen führen. So vertritt Kant selbst die Meinung, man dürfe niemals lügen – auch dann nicht, wenn man einem Mörder den Aufenthaltsort seines Freundes verrät, den er ermorden will. Denn nach Kant zählt allein die Gesinnung der Wahrhaftigkeit, nicht aber deren Folgen. Kants Ethik wird deshalb auch Gesinnungsethik genannt: Alles kommt auf die richtige Gesinnung an. Ihr gegenüber steht die Verantwortungsethik, bei der es auf die Folgen des Handelns ankommt.
Über das Göttliche, das angeblich im menschlichen Handeln aufscheinen soll, habe ich bis jetzt noch gar nichts gesagt. Das folgt im zweiten Teil dieses Artikels, in dem ich unter anderem über Kants Werk „Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft" schreibe.
* * *
* Im Original: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit. Unmündigkeit ist das Unvermögen, sich seines Verstandes ohne Leitung eines anderen zu bedienen. Selbstverschuldet ist diese Unmündigkeit, wenn die Ursache derselben nicht im Mangel des Verstandes, sondern der Entschließung und des Mutes liegt, sich seiner ohne Leitung eines andern zu bedienen. Sapere aude! Habe Mut, dich deines Verstandes zu bedienen! ist also der Wahlspruch der Aufklärung."
Zitiert nach Barth, S. 238.
Quellen:
- Barth, Karl: Die protestantische Theologie im 19. Jahrhundert. Ihre Vorgeschichte und ihre Geschichte. Theologischer Verlag Zürich, 6. Aufl. Zürich 1994. S. 237-278.
- Mühling, Markus: Systematische Theologie: Ethik. Eine christliche Theologie vorzuziehenden Handelns. Vandenhoeck & Ruprecht. Göttingen 2012. S. 108-114.
- Störig, Hans Joachim: Kleine Weltgeschichte der Philosophie. Verlag W. Kohlhammer, 12. Aufl. Stuttgart u.a. 1981. S. 396-446.
- Weischedel, Wilhelm: Der Gott der Philosophen. Grundlegung einer Philosophischen Theologie im Zeitalter des Nihilismus. Zwei Bände in einem. Erster Band: Wesen, Aufstieg und Verfall der Philosophischen Theologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt. Darmstadt 1983. S. 191-213.
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sehr interessanter Beitrag. In der Grundzügen kannte ich das schon, aber diese Darstellung hilft mir.
Für mich persönlich ist der Überschneidungsbereich von Glauben und Wissen von großer Bedeutung.
Beispiel: Auf der Hochzeit zu Kana verwandelt Jesus Wasser in Wein. Wasser hat die Summenformel H2O, der Alkohol im Wein die Summenformel C2H5OH. Folgerung: Allein wegen des fehlenden Kohlenstoffatoms im Ausgangsstoff kann das so nicht passiert sein, und deswegen glaube ich dieses Wunder auch nicht.
Wie würdest du das in die Kantsche Systematik einordnen?
Für mich gilt jedenfalls: bei Konflikten zwischen Metaphysik und Physik (oder hier Chemie) macht die Metaphysik keinen Stich. Das wirkt wie ein Drehzahlbegrenzer für meinen Glauben und führt manchmal zu Konflikten.
Danke im Voraus für eine Antwort!
Thomas
der Punkt wird im Teil 2 des Artikels angesprochen. Ich greife also kurz vor: Kant hat festgestellt, dass die biblischen Wunder vor dem Urteil der Vernunft, das in der Philosophie gilt, keinen Bestand haben können. Er bezeichnet das aber als ein rein subjektives Urteil, d.h. er will dadurch die Wunder nicht in Abrede stellen. Subjektiv ist das Urteil, weil die Philosophie ja nur mit dem IN IHR gültigen Maßstab arbeiten kann, und das ist die Vernunft. Ob es die Wunder wirklich gegeben hat, ist damit nicht beantwortet. Die Theologie habe möglicherweise andere Maßstäbe, und Kant spricht "von dem übernatürlichen Beistand des Himmels", der das beurteilt, was über das Vermögen der Vernunft hinausgeht. Er fordert von der Theologie geradezu, nicht nur nach den Vorgaben der Vernunft zu verfahren.
Hier zeigt sich der Grundansatz Kants, der darin besteht, dass er die Reichweite der Vernunft herausarbeitet, aber eben damit auch ihre Grenze. Die manchmal widersprüchlich klingenden Aussagen Kants werden unterschiedlich interpretiert - von "der Glaube war ihm wichtig" über "er war froh, sich als Philosoph auf die Vernunft beschränken und alles andere den Theologen überlassen zu können" bis "er glaubte nicht an einen persönlichen Gott".
Ich selbst setze den Akzent nicht auf das, "was Jesus alles konnte", sondern darauf, welche Aussagen die Wundergeschichten transportieren. Es geht also nicht um "Zeichen für seine Göttlichkeit" (solche Zeichen lehnte Jesus selbst ja ab, wenn er sich gegen die Zeichenforderung stellte), sondern um tröstende und Glauben weckende Verkündigung. Weil ich Jesus aber in Einheit mit Gott verstehe, der auch die physikalischen und chemischen Zusammenhänge erschaffen hat, schließe ich die Realität der Wunder auch nicht von vornherein aus. Sie sind mir nur kein Beweis für irgendetwas.
Viele Grüße
Klaus
danke für deine Antwort. Es läuft also auch bei Kant darauf hinaus, überschneidungsfreie Sphären von Glauben und Vernunft zu konstatieren, zumindest aber eine Nichteinmischung in das jeweils andere Gebiet zu vertreten.
Diese Gebiete überschneiden sich aber nun mal, in Personen, in der Sprache und bei der Beurteilung von Sachverhalten wie den biblischen Wundern. Philosophien und Theologien, die sich darum herumdrücken, schließen sich meiner Meinung nach als geschlossene Gesellschaft ein.
Ich kann es persönlich verstehen. Zu Zeiten von Kant und Reimarus drohte zwar nicht mehr der Scheiterhaufen wie bei Galileo Galilei und Giordano Bruno, wohl aber noch die gesellschaftliche Ächtung, wenn man sich zu weit aus der Deckung wagte. Wohl auch deshalb hat Reimarus wichtige Erkenntnisse und Überzeugungen nicht veröffentlicht.
Heute ist das anders. Agnostiker und selbst Atheisten sind salonfähig. Die notwendigen Anpassungsleistungen sind meines Erachtens in der Theologie erst teilweise vollzogen worden und in der kirchlichen Praxis noch kaum angekommen.
Viele Grüße
Thomas
das kann man so sagen. Ich habe aber bei der Arbeit am 2. Teil das Gefühl, dass Kant auch anfängt rumzueiern.
Meine Frage wäre noch: Was könnten denn deiner Meinung nach die "notwendigen Anpassungsleistungen" sein, die die Theologie zu erbringen hätte? Es gibt ja bereits Theologinnen und Theologen, auch im Pfarramt, bei denen man den Eindruck gewinnt, dass das Christliche für sie in einer Relativierung des Christlichen besteht. Das zeigt sich mitunter an einer Akzentsetzung auf einer humanistischen Ethik oder an einer Vermischung der Religionen, wonach wir "alle an denselben Gott glauben".
Viele Grüße
Klaus
wenn ich diese "notwendigen Anpassungsleistungen" hier in einem Blogkommentar präzisieren soll, verhebe ich mich. Letzlich geht es darum, dass sich ein gläubiger Ingenieur nicht mehr wie ein Zwitter fühlen muss (danke an D. Bonhoeffer für dieses Bild). Überhaupt gibt der späte Bonhoeffer aus 'Widerstand und Ergebung' hier gute Anregungen und Stichworte, die leichter zitiert als umgesetzt sind. Auch Bultmann hat viel geleistet. Mich persönlich hat auch der katholische Theologe Peter Knauer weitergebracht. Ich habe dazu das eine oder andere in meinem Blog geschrieben.
Das, was du aus der Praxis erwähnst, wirkt wie auf der anderen Seite vom Pferd fallen, habe ich auch schon so erlebt. "Liebet eure Feinde" z. B. geht über eine humanistische Ethik deutlich hinaus, auch über das, was sich normalerweise aus dem Kategorischen Imperativ ableiten lässt.
Und die Einzigartigkeit des Christentums herauszustellen, was ich für notwendig halte bei Strafe seines Untergangs, wird auch nicht einfacher ohne die Klassiker leibliche Auferstehung plus Erlösungslehre. Gleichwohl bin ich der Meinung, das es geht.
Viele Grüße
Thomas
Klaus' Darlegungen sind wenigstens sprachlich klar und verständlich, was man von dem oben anklickbaren Satz Kants (Zeilen 3 bis 19) und Weiterem nicht sagen kann.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
die Kunst ist sicher, weder zur einen noch zur anderen Seite vom Pferd zu fallen. Leider gelingt das meiner Beobachtung nach nur wenigen. Wir können es letztlich alle auch nur versuchen und fallen wohl doch immer mal nach hier oder dort runter. Nach Paul Tillich ist die Existenz der Glaubenden immer eine Existenz auf der Grenze. Ich würde sagen: auf schmalem Grat. Aber egal: Links und rechts wartet nicht das Nichts, sondern der Gott, der uns auffängt.
Einen schönen Sonntag
Klaus
danke für dein anerkennendes Votum und für den Hinweis auf die Kant-Website. Die kannte ich noch gar nicht. Prima, dass man so viel von Kant nun auch online lesen kann.
Auch dir ein schönes Wochenende
Klaus
leider ist es so, dass das Projekt der Aufklärung nicht zu einer Festigung des Glaubens an Gott geführt hat. War Kant Theist, Deist oder Atheist? Ist Kants Auffassung von Glauben mit dem Glauben deckungsgleich, von dem Jesus erzählt? Wenn nicht, dann führt uns Kant doch eigentlich an Jesus exakt vorbei, oder seh ich das falsch?
In meinem Studium besuchte ich mit großer Erwartungshaltung und Neugier eine Vorlesung Philosophie der Aufklärung. Da ging es zu Anfang auch frisch los mit "habe Mut dich deines Verstandes zu bedienen!" und der Frage "wie kommt man zu wahren Aussagen?" (Davon versuch ich auch heute noch Studenten der Naturwissenschaft zu überzeugen). Zu meiner Bestürzung blieb es aber nicht so, am Ende dieser Vorlesung wurde "Rameaus Neffe" von Diderot behandelt, in dem der Neffe im Grunde ein Gegenmodell zu Kants kategorischen Imperativ vertritt, einen parasitären Lebensstil ohne wirkliche Moral (Verzeihung: Ethik).
Ein empirischer Hinweis auf die Richtigkeit Kants Philosophie scheint immerhin zu sein, dass mit dem Unsichtbarwerden des Christentums in der westlichen Welt auch die Moral/Ethik völlig um- bzw. wegtransformiert wird.
an Kants religiösen Auffassungen ist sicher vieles nicht kompatibel mit dem Evangelium. Wenn er z.B. den Gottesbegriff für notwendig zum ethischen Handeln hält, dann bedeutet das ja, dass der Gottesbegriff für Sündenvergebung und Rechtfertigung nicht wichtig ist. Dazu hat dann auch Kant nicht viel zu sagen. Auch mit dem stellvertretenden Tod Jesu am Kreuz konnte er nichts anfangen, weil seiner Meinung nach niemand die Schuld eines anderen übernehmen kann, sondern jeder Mensch für seine eigene Schuld verantwortlich ist.
Positiv an seinem Vernunftverständnis finde ich, dass er die Grenzen der Vernunft aufgewiesen hat, so dass man mit Berufung auf ihn ausschließen kann, dass die Wahrheit von Glaubensaussagen mit Hilfe der Vernunft BEWIESEN werden kann (auch wenn er durch die Hintertür dann doch wieder einen eigenen Gottesbeweis, nämlich über die Ethik, eingeführt hat).
Von einem "Unsichtbarwerden des Christentums in der westlichen Welt" würde ich nicht sprechen, eher von einem Rückgang der Aufmerksamkeit bei den Menschen für das Christentum; ihr Blick richtet sich halt auf etwas anderes als auf Glaubende, Kirchen und Gemeinschaften. Das hat wohl auch etwas damit zu tun, dass viele Menschen das, was sie nicht sehen, für nicht real halten. "Von den Toten ist noch keiner zurückgekommen" ist ein bekannter Spruch, der belegen soll, dass man nicht wissen könne, ob es ein ewiges Leben gibt. Hier spielt wohl Kants Auffassung eine Rolle, dass nur das, was wir mit den Sinnen erfahren können, von der Vernunft anerkannt werden kann. Insofern hat diese Überbetonung der Vernunft, die allein zum Maßstab für wahr oder unwahr wird, auch Schaden angerichtet.
Das Christentum ist jedenfalls noch da, und mit ihm ist auch noch eine christliche Ethik bzw. Moral da und wird auch noch verkündigt und praktiziert. Natürlich kann man auch hier Versäumnisse und arge Mängel feststellen. Das Dilemma scheint mir zu sein, dass es innerhalb der Christenheit teilweise sehr unterschiedliche Auffassungen darüber gibt, worin eine dem Glauben entsprechende Ethik besteht und worauf die Christenheit den Schwerpunkt setzen sollte. So gibt es von kirchenleitender Seite starke Stellungnahmen zu bestimmten Themen, während andere Themen gar nicht vorkommen. Hier zeigt sich, dass leider auch die Kirchenvertreter und -vertreterinnen (wie überhaupt wohl die meisten Glaubenden) oft in Links-Rechts-Schemata denken und es nicht schaffen, diese zu durchbrechen und sich allein am Wort Gottes in Jesus Christus zu orientieren.
danke für die Antwort. In meinen Vorlesungsmitschriften habe ich noch eine Notiz über einen Vorwurf an Kants Aufstellung der logischen Funktion des Verstandes gefunden, nämlich dass Kant versuche, ein Prinzip zu finden, das er schon in der Ausgangsposition verwendet. Ich schließe daraus, dass Kant gewissermassen als 'Meta-Vernunft' Gott bemüht, um der unendlichen Rekursion zu entgehen, wenn er vernünftig über Vernunft sprechen will. Die Alternative wäre der Diskurs, jedoch wurde uns damals anhand von Diderots Dialog mit Rameaus Neffen gezeigt, dass das zur völligen Infragestellung aller Prinzipien führen kann, und irgendwie hab ich den Eindruck, dass die Philosophie eher diesen Weg gegangen ist, z. B. wenn ein Professor seine Vorlesung über moderne Moral-Philosophie mit dem Satz beginnt: "Wir leben in einer Zeit der moralischen Krise" (Kurt Bayertz). Wie auch immer.
Diese Nicht-Beweisbarkeit von Glaubensaussagen, in die sich Religionskritiker so gerne verbeissen, stört mich persönlich immer weniger, seitdem ich mich etwas näher mit Mathe beschäftige. Es gibt tatsächlich Aussagen über sauber definierte mathematische Objekte, die zur Zeit weder bewiesen noch wiederlegt sind und somit als "Vermutungen" geführt werden. Die totale Beweisbarkeit gibt es also nicht einmal in der realen Welt. Und in solch einer offenen Welt ist vermuten oder glauben ein völlig pragmatischer Ansatz. Ich habe nur das Gefühl, dass das was Jesus unter glauben versteht, viel viel mehr ist als das was wir technisch mit glauben meinen, und das ist etwas das mich eigentlich noch viel mehr interessiert.
man muss heute wohl wirklich feststellen, dass die Vernunft kein ethischer Maßstab sein kann, sondern dass das Kriterium dafür, was ethisch vertretbar oder nicht vertretbar ist, woanders herkommen muss. So beruht auch die Philosophie, genauso wie die Theologie, auf bestimmten religiös-weltanschaulichen Voraussetzungen. Im postmodernen Pluralismus sind diese aber fast beliebig geworden, und die Vernunft kann ihre ethischen Prinzipien aus dieser oder jener religiös-weltanschaulichen Voraussetzung entwickeln. Für den christlichen Glauben sind dies vor allem Jesus Christus und die biblischen Schriften. Natürlich muss eine Ethik auch Gegenwartsrelevanz haben, so dass man sich auch mit der gegenwärtigen Weltlage und den Wissenschaften beschäftigen muss, um nicht an den Problemen vorbeizureden oder hinter bereits Erkanntes zurückzufallen.
Deinen Hinweis auf Vermutungen über mathematische Objekte finde ich sehr interessant. Ich stelle auch immer öfter fest, dass alle Wissenschaften (eben auch die wohl exakteste von allen, die Mathematik) irgenwann dahin kommen, mit nicht mehr beweisbaren Behauptungen arbeiten müssen - also mit etwas, was man der Theologie oft vorgeworfen hat oder noch vorwirft. In Wahrheit stehen die Glaubenden den anderen, die dem Glauben skeptisch gegenüberstehen, in nichts nach. Letztlich ist ja auch der Unglaube ein unbeweisbarer Glaube (das war auch eine Erkenntnis Kants, was heute von den Kritikern des Glaubens oft vergessen wird). Karl Popper sagte mit Bezug auf die Wissenschaften: "Wir wissen nicht, wir raten."
Die Bibel meint mit "glauben" tatsächlich nicht das Gegenteil von "beweisen", sondern "Gott vertrauen", und zwar im Sinne einer inneren Gewissheit, die unabhängig von allem Beweisen und "Wissen" stärker ist als alles, was in der Welt bewiesen und "gewusst" werden kann.