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Zu den Füßen des Rabbi sitzen

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Veröffentlicht von in Geschichtliches · 11 August 2023
Tags: ErkenntnisOrientierungWissenDialogAutorität

Zu den Füßen des Rabbi sitzen
Wie Kinder zur Zeit Jesu Bildung erfuhren
Klaus Straßburg | 11/08/2023

Zur Zeit Jesu begann die religiöse und ethische Erziehung der Kinder bereits im Elternhaus. Sobald ein Kleinkind sprechen konnte, lehrte es sein Vater das "Höre, Israel" aus 5Mo/Dtn 6,4-9. Das ist einer der wichtigsten biblischen Texte im Judentum.

Außerdem wurde dem Kind die Tora nahegebracht. Damit bezeichnet man die ersten fünf Bücher der Bibel, von uns auch die fünf Bücher Mose genannt. Und man lehrte die Kinder die "heilige Sprache", das Hebräische. Denn zur Zeit Jesu sprach man in Israel aramäisch. Die Bibel aber war in hebräisch verfasst.

Diese frühkindliche Erziehung genossen Jungen und Mädchen gleichermaßen. Vom sechsten bis zum zehnten Lebensjahr gingen die Jungen dann in die Schule – die Mädchen leider nicht. Dennoch gab es im Judentum zur Zeit Jesu auch gebildete Frauen.

Die Schule fand an sechs Tagen pro Woche mindestens einen halben Tag lang statt. Der Schulraum war oft die Synagoge. Dort saßen die Kinder dem Lehrer buchstäblich zu Füßen. Sie lernten die fünf Bücher Mose auswendig, und zwar durch ständiges lautes Aufsagen.

Im Alter von zehn bis vierzehn Jahren lernten die Jungen die ganze hebräische Bibel auswendig und außerdem die späteren Auslegungen der religiösen Vorschriften, die sogenannte Mischna. Zudem lernten sie Lesen und Schreiben. Auch ein wenig Sport, Mathematik, Musik, Kunst, Rhetorik und Philosophie wurden gelehrt. Ziel war nicht, sich ein umfassendes Wissen in verschiedenen Gebieten anzueignen, sondern rechtschaffene Menschen heranzubilden, die ein tiefes Empfinden für moralische Werte besaßen.

Für uns ist es kaum vorstellbar, dass der Text des Alten Testaments auswendig gelernt wird. Sicher waren darin auch nicht alle gleich gut. Aber man muss bedenken, dass Bibeln in den meisten Häusern nicht vorhanden waren. Deshalb musste man im Alltag auf das zurückgreifen, was man auswendig im Kopf hatte. Von daher hatte das Auswendiglernen in der jüdischen Kultur einen hohen Stellenwert. Der Bildungsstand war im Volk Israel sogar größer als in der griechischen Umwelt. Denn dort war Bildung nur den Wohlhabenden zugänglich, während in Israel alle daran teilhatten – die Frauen allerdings weniger als die Männer.

Wenn die Jungen besonders begabt waren, durften sie sich als junge Männer einen Rabbi suchen und ihn darum bitten, sein Schüler zu werden. "Rabbi" war zu Jesu Zeiten noch kein geschützter Begriff, keine formale Amtsbezeichnung. Es war ein Ehrentitel, etwa zu vergleichen mit "hoher Lehrer". Martin Luther übersetzte das Wort in seiner Übersetzung der griechischen Bibel, also des Neuen Testaments, mit "Meister". Auch dem Rabbi saßen seine Schüler, wie man sagte, "zu Füßen".

Jesus war solch ein Rabbi, und Jesu Jünger waren seine Schüler, die "zu seinen Füßen saßen". Das griechische Wort, das in unseren Bibeln mit "Jünger" übersetzt ist, heißt wörtlich "Schüler". Das Lukasevangelium erzählt sogar, dass Maria zu Jesu Füßen saß und ihm zuhörte (Lk 10,39). Das war eine feministische Revolution. Denn dass eine Frau bei einem Rabbi studierte, ging damals gar nicht.

Im Studium beim Rabbi wurde nicht mehr auswendig gelernt. Im Gegenteil! Es wurde viel diskutiert, es wurden Fragen gestellt, und der Rabbi antwortete mit Gegenfragen, um die Schüler zum eigenen Weiterdenken anzuregen. Der Rabbi lieferte also keine fertigen Antworten nach der Devise: Ich weiß, was richtig ist, und ihr müsst es glauben. Sondern mit seiner Gegenfrage drückte er aus: Denkt doch mal selber nach! Ihr kennt doch die Antwort, wenn ihr euch selber Gedanken darüber macht.

Im Neuen Testament wird berichtet, dass Jesus auf Fragen, die man ihm stellte, oft nicht mit einer direkten Antwort reagierte. Stattdessen redet er scheinbar von etwas ganz anderem, so dass man sich fragt: Was hat das eigentlich mit der Frage zu tun? Aber wenn man einmal genauer nachdenkt, merkt man, dass seine Antwort sehr wohl etwas mit der Frage zu tun hat. Wir müssen nur selber denken und dürfen von ihm keine vorgesetzte Antwort erwarten, über die man dann nicht mehr nachdenken muss.

Jesus wollte also, wie es für einen Rabbi üblich war, seinen Zeitgenossen nichts vorsetzen, was sie dann auf Gedeih und Verderb glauben mussten, ohne es zu verstehen. Sie sollten vielmehr selber auf die Antwort kommen. Dazu wollte er ihnen verhelfen.

Zugleich wird in den Diskussionen der Schüler mit ihrem Rabbi deutlich, dass die heilige Schrift diskutiert werden muss. Sie bedarf der Interpretation, und jeder Mensch muss dabei vom anderen lernen. Wer die Bibel verstehen will, muss zur Diskussion bereit sein, das heißt: Er muss bereit sein, seine eigene Meinung auch in Frage stellen zu lassen.

Im Judentum zur Zeit Jesu gab es schon theologische Schulen. Am bekanntesten sind die Schule des Rabbi Hillel und die des Rabbi Schammai. Beide Schulen widersprachen sich in vielen Auslegungen. Dennoch sagt eine jüdische Tradition: Weil jede Lehre in Gottes Offenbarung gründet, darum "mache auch du dein Herz zu lauter Kammern und lege hinein die Worte der Schammaiten und die Worte der Hilleliten."

Wir können daraus lernen, dass auch einander widersprechende Auslegungen Wahrheit enthalten können und deshalb einen Platz in unserem Herzen verdient haben. Die Welt der Schriftauslegungen ist nicht schwarz und weiß. Es gibt viele Farbtöne, die einen Funken Wahrheit enthalten. Und nur viele Farben zusammen bilden die ganze Wahrheit ab.

Obwohl also viel diskutiert wurde im Judentum, bedeutet das nicht, dass der Rabbi keine Autorität besessen hätte. Seine Worte und seine Lebensweise wurden von seinen Schülern als Vorbild genommen. Vorbild waren sicher seine Weisheit und Bildung, aber auch sein Lebenswandel – und dazu gehörte seine Fähigkeit, sich der Diskussion auszusetzen, ohne die eigene Meinung für der Weisheit letzten Schluss zu halten.

Der Rabbi lehrte übrigens nicht nur Religion, sondern auch Mathematik, und zwar, um den religiösen Kalender aufstellen zu können. Und er lehrte Biologie, um die Wildpflanzen und -tiere der Bibel zu erkennen, sowie Geographie, um die biblischen Ortsangaben zu verstehen. Man lernte das alles nicht, um Wissen anzuhäufen, sondern um die heilige Schrift zu verstehen und erklären zu können. Auf den Gebieten, mit denen die hebräische Bibel sich nicht befasste, forschte man hingegen nicht.

Sobald ein Rabbi der Meinung war, dass ein junger Mann in schwierigen Fragen der Religion die richtigen Entscheidungen treffen konnte, ernannte er ihn zum Schriftgelehrten. Von da an durfte er sich selbst Rabbi nennen.

Der Rabbi Jesus nannte seine Schüler auch "Apostel", das heißt "Gesandte" (Mk 3,14f). Sie sollten bei ihm sein und wurden von ihm gesendet, seine Botschaft weiterzugeben und Lebensfeindliches auszumerzen.

Auch wir können "zu Jesu Füßen sitzen" – seine Worte hören, aufnehmen, bedenken und diskutieren. Dann mag es wohl geschehen, dass er auch uns einmal sendet, damit wir seine Botschaft weitergeben und die Welt in seinem Sinne gestalten.


* * * * *


Ich danke Sabine Knie für ihre Predigt, die den Anstoß und Informationen zu diesem Artikel geliefert hat. Außerdem habe ich folgende Literatur verwendet:
  • Friedrich Avermarie: Jüdische Schriftgelehrsamkeit. In: Klaus Scherberich (Hg.): Neues Testament und Antike Kultur. Band 2: Familie – Gesellschaft – Wirtschaft. Neukirchener Verlagsgesellschaft, Neukirchen-Vluyn 2011. S. 244-248.
  • Charles Bricker u.a.: Auf den Spuren von Jesus Christus. Sein Leben und seine Zeit. Verlag Das Beste. Stuttgart u.a. 1988. S. 150-160.

Foto: Till Brömme auf Pixabay.




2 Kommentare
Michael Kröger
2023-08-12 10:05:30
"Die Welt der Schriftauslegungen ist nicht schwarz und weiß. Es gibt viele Farbtöne, die einen Funken Wahrheit enthalten. Und nur viele Farben zusammen bilden die ganze Wahrheit ab."


Hallo Klaus,

Danke für diesen schönen Text, der ebenso inspiriert wie auch zum eigenen Denken aktiviert. Nach dieser Lektüre brauche ich im Grunde gar keine künstliche Intelligenz 😉😊...

Herzliche Grüsse
Michael


2023-08-12 17:21:31
Hallo Michael,

danke für dein freundliches Votum. Du hast recht: Die natürliche Intelligenz reicht vollkommen aus, wenn sie mit gutem Geist getränkt ist ...

Viele Grüße
Klaus
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