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Zerrissene Schönheit

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Zerrissene Schönheit
Klaus Straßburg | 18/03/2020

Die Stille war kaum auszuhalten. Nichts regte sich, das Leben war zum Stillstand gekommen. Für Max Lebmer war es wie der Tod. Wenn nichts mehr passiert, nichts sich bewegt, ist das der Tod. Er saß vor seinem PC im Home Office, erledigte wie automatisiert seine Aufgaben und fühlte sich wie eine lebende Leiche. Das war kein Leben für ihn: Kein Mensch, keine Stimme, kein Dialog, keine Anstöße. Kein Lachen im Freundeskreis, keine ausgelassene Stimmung, keine Berührung. Das Virus hatte ihm alles genommen, was sein Leben ausmachte.

Ihm graute bei der Vorstellung an das Wochenende. Die Geburtstagsfeier abgesagt, die Spritztour nach Frankfurt auf unbestimmte Zeit verschoben. Man solle zu Hause bleiben, keine Sozialkontakte mehr pflegen. Also saßen alle in ihren Löchern und drehten sich um sich selbst. Leben war das nicht.

Niemand wusste, wie lange das so weitergehen würde. Wochen? Monate? Das halte ich nicht aus, dachte er. Aber es gab nichts mehr, wo er hin konnte. Nicht mal ein Einkaufsbummel war möglich. Alles war geschlossen oder abgesagt. Sogar die Kirchen waren geschlossen, Gottesdienste fanden nicht mehr statt. Gott zu dienen war also keine Gelegenheit mehr, schoss es ihm durch den Kopf. Aber warum auch? Welchen Grund konnte es geben, einem Gott zu dienen, der eine Welt erschaffen hatte, in der es Viren gab?

Das Wort „Virus" kommt aus dem Lateinischen und heißt „Schleim", las er in der Wikipedia. Viren sind keine Lebewesen, aber „dem Leben nahestehend". Doch die wissenschaftliche Diskussion darüber sei noch nicht abgeschlossen. Aha, also man weiß es nicht genau: leben Viren oder leben sie nicht? Jedenfalls sind es „bloße stoffliche Programme zu ihrer eigenen Reproduktion", die einen Wirt brauchen, um zu überleben. Schön, der Mensch, nein, die Menschheit ist befallen von diesem „stofflichen Programm" namens Corona. Welchen Nutzwert Viren haben, darüber fand er nichts.

Er wusste, dass in der Genesis stand, der Schöpfer finde seine Schöpfung „sehr gut". Eine naive Vorstellung. Was war gut an einem Virus? Was war gut daran, dass ein Tier das andere fressen musste, um überleben zu können? Was war gut daran, dass ein winziges Stück Schleim Menschen fraß?

Er hatte keine Todesangst, gehörte ja zu keiner Risikogruppe. Er hatte nur Angst vor dem lebendigen Tod oder der toten Lebendigkeit. Das Virus hatte sein Leben zum Erlöschen gebracht, seine Aktivität, seine Tatkraft, seine Lebensfreude. Nichts an einem Virus war gut.


1. Der Riss

Die Bibel kennt zwei Schöpfungserzählungen. Die erste, mit der das Alte Testament beginnt, schildert die Schöpfung in sieben Tagen (Gen/1Mo 1,1-2,4a). Fünfmal findet Gott sein Werk „gut", und am Ende, nachdem auch der Mensch geschaffen ist und Gott sich alles nochmal im Zusammenhang ansieht, findet er es sogar „sehr gut" (Vers 31). Das hebräische Wort für „gut" bedeutet auch „heilsam" und „schön". Wir leben inmitten einer wunderschönen und heilsamen Natur.

Die zweite Schöpfungserzählung wurde vor der ersten verfasst und ist erst später hinter sie gesetzt worden. Sie erzählt von Adam und Eva und von deren Sündenfall, ihr Fallen, Abfallen (Gen/1Mo 2,4b-3,24). Damit ist gesagt: Ein Riss geht durch die Welt. Es ist der Riss zwischen Gut und Böse, Schön und Hässlich, Leben und Tod. Beides gehört zur Welt, in der wir leben.

Woher das Böse kommt, wird nicht erzählt. Der Mensch tut es. Er lässt sich verführen von der Schlange. Offensichtlich hat er die Möglichkeit, einen Riss in die Welt zu schlagen. Vorher war alles gut. Danach ist alles anders.

Der Riss geht durch die ganze Bibel. Das ist kein Buch mit simplen Happy End-Geschichten, mit strenger Trennung zwischen Guten und Schlechten, zwischen Helden und Versagern. Sondern der Riss geht durch alle und alles. Kein Leid, keine Schuld, die in der Bibel nicht vorkämen. Aber auch kein Lob, keine Freude, die in der Bibel beschämt ausgeklammert würden. Beides steht nebeneinander und ineinander. Die ganze Schöpfung lobt den Herrn, jubiliert in den ergreifendsten Tönen wie das Halleluja in Händels Messias – die Schöpfung, in der ein Fressen und Gefressenwerden ist.

Aber mehr noch: Der Riss geht durch Gott selbst. Denn der Gott, von dem die Bibel erzählt, ist der Gott in unserer Mitte (Hos 11,9), dem nichts Menschliches fremd ist. Es ist der Gott, der in die Welt kommt, in ihr wohnt (Joh 1,14), in ihr einer von uns wird, Mensch unter Menschen (Phil 2,7), Glücklicher unter Glücklichen und Leidender unter Leidenden (Jer 32,41; Hos 11,8; Lk 15,7.10; Hebr 4,15), Verfluchter unter Verfluchten (Gal 3,13). Und doch ist er der heilige, siegreiche Gott, unvorstellbar größer als wir und kein Mensch, wie wir es sind. Ein Gott zerrissen in unergründlicher Hoheit und abgründiger Tiefe durch seine Liebe, mit der er an unserem Geschick, Glück und Unglück, teilnimmt.

Was für ein Gott!


2. Der Kommende

Das Todbringende ist da in seiner Schöpfung, aber dennoch bleibt ihre Güte, Schönheit und Heilsamkeit bestehen. Wie passt das zusammen?

Wir können die Welt nicht mit Gottes Augen sehen. Er sieht mehr, sieht weiter, sieht das Gute auch trotz all des Bösen. Wir dagegen sind fixiert auf das Böse, starren es an wie in Schockstarre. Es drängt sich immer in den Vordergrund. Darum müssen wir gegen es anglauben, dürfen unseren Blick nicht fesseln lassen von ihm, müssen aus unserer Schockstarre erwachen. Nur ein kurzer scharfer Blick soll dem Bösen gelten, um dann wieder frohen Mutes und dauerhaft der Güte ins Gesicht zu sehen. Leider ist es bei uns meist umgekehrt.

Auch der Tod kann die Güte Gottes und darum die Güte der Schöpfung nicht beseitigen. Daran gilt es festzuhalten: Gottes Güte hat Bestand. Das zeigen all die Schuld- und Leidensgeschichten des Alten Testaments, die eingehüllt sind in Gottes unzerstörbare Güte. Und das zeigt die Geschichte Gottes selbst, wie sie einzigartig in Jesus Christus offenbar geworden ist. Da kommt einer in die Welt, der mit Gottes Augen sieht und mit Gottes Liebe liebt, und er wird zum Gespött der Leute, zum Feind, der beseitigt werden muss. So haben sie sich Gott nicht vorgestellt, als einen, der am Riss teilhat und teilnimmt. Sie wollten einen Gott, der mit Macht und Gewalt den Riss kittet, der die Welt in Ordnung bringt, in eine Ordnung, wie die Menschen sie sich vorstellten. Einen mächtigen Gott über allem wollten sie, einen Heldengott. Sie bekamen einen ohnmächtigen mitten unter ihnen, einen liebevollen.

Gerade in seiner ohnmächtigen Liebe aber ist dieser Gott mächtig und besiegt den Tod. Gerade indem er in den Riss hineintritt. Er schwebt nicht fern von uns über ihm, sondern ist in ihm an unserer Seite. Er lebt ihn mit uns und erlebt ihn mit uns. Er kennt unsere Tränen (Ps 56,9) und unser Glück (Ps 128,5). Er bleibt bei uns auch am Abend des Tages und des Lebens (Lk 24,29). Er geht mit uns in den Tod.

Und er eröffnet uns im Tod das Leben. Der Tod spricht nicht das letzte Wort. Der Gekreuzigte ist der Auferstandene. Ohne diesen Riss in Gott können wir Gott nicht denken.

Das alles mag denen wenig Trost sein, die jetzt einen lieben Menschen verlieren oder um ihre wirtschaftliche Existenz bangen. Sie müssen die Krise irgendwie aushalten. Sie mögen fragen, warum Gott das zulässt.

Die Antwort darauf kennen wir nicht. Es bleibt nur eins: dennoch auf Gott hoffen. Den Mut nicht verlieren. Auf den setzen, der unsere Tränen kennt und der Gutes für uns will – auch dann, wenn wir es nicht sehen und spüren.

So bleibt Gottes Güte, egal, was geschieht. Alles geht einem guten Ziel entgegen. Es ist gut, dass die Schöpfung und unser Leben solch ein Ziel haben. Dass sie nicht in Finsternis enden, sondern im Licht. Das ist kein Vertröstung auf eine ferne Zukunft, sondern es ist Hoffnung und ein Anflug von Freude schon jetzt. Mehr nicht. Aber von diesem Ziel her gedacht ist die Schöpfung wirklich sehr gut. Zu sehen, zu ahnen ist dieses Ziel nur im Glauben. „Man sieht nur mit dem Herzen gut; das Wesentliche ist für die Augen unsichtbar" (Antoine de Saint-Exupéry). Es täte uns gut, diesen Satz nicht nur beseelt zu zitieren, sondern auch zu begreifen und zu beherzigen.


3. Das Tränenlob

„Das Licht scheint in der Finsternis" (Joh 1,5). Die Schöpfung war nie ohne Licht, ohne Hoffnung, und sie wird es nie sein. Die jubilierenden Vögel draußen singen ein Lied davon. Und wenn sie auch tot vom Himmel fallen, so haben sie doch ihr Lied zu Ende gesungen. Haben wir es gehört?

Für uns Menschen sind es harte Zeiten. Kein Kontakt, keine Bewegung, kein gemeinsames Leben. Stattdessen Stillstand, Angst und Sorge. Wie lange? Niemand weiß es. Angst vor Ansteckung, das Virus ist überall. Jeder ist verdächtig, jede Türklinke eine Gefahr. Das ist anstrengend. Manche haben große Probleme mit diesem unsichtbaren Verfolger. Unternehmen und Selbstständige müssen kämpfen. Etliche Menschen werden sterben oder sind schon gestorben. Der Tod rückt uns bedrohlich nah. Wir können ihn nicht mehr verdrängen. Ein winziges Stück Schleim macht uns unsere Grenzen bewusst.

Aber das Licht scheint. Die Güte lebt. Der Auferstandene wird kommen, kommt schon jetzt, ist mitten unter uns. Mitten in unserem Zerrissensein. In der zerrissenen Schönheit. Ein Gott, der teilnimmt.

Da ist ein Keim Freude. Nur ein Keim. „In dir ist Freude in allem Leide" (Evangelisches Gesangbuch 398). Ein Jubellied in der Not. Singen und die Augen IHM zuwenden. Den Gütigen im Riss sehen. Die Finsternis sein lassen. Das Licht in sich aufnehmen. Dem immer Kommenden entgegengehen, und sei es klagend und weinend. Darauf kommt es an.

Das Virus hat es nicht verdient, dass wir in Sorge, Gram und Angst vergehen. Jetzt können wir lernen, den Gütigen auch in harten Zeiten zu loben. Sogar mit unseren Tränen (Lk 7,38; Apg 20,19; Hebr 5,7).


4. Das Licht

Der Bildschirm des Computers war längst schwarz geworden, während Max Lebmer seinen Gedanken nachhing. Er wusste nicht viel von Gott, hatte sich nie darum bemüht. Aber in stillen Stunden hatte er sich seine Gedanken gemacht. Was wäre, wenn es Gott gäbe? Was wäre anders in seinem Leben?

Das Gute hätte Bestand trotz allem Bösen, dachte er jetzt. Es hätte ein anderes Gewicht. Es gäbe kein entweder – oder, sondern ein sowohl – als auch. Es gäbe den Überlebenskampf, den Tod – und zugleich das Gotteslob. Er dachte an die Juden, die mit einem Lobgesang auf den Lippen in die Gaskammern gegangen waren. Welch ein Glaube! Kann man das von einem Menschen erwarten? Nein! Und dennoch ist es geschehen. Vielleicht so etwas wie ein Wunder.

Solcher Glaube nimmt die Zukunft vorweg und lebt sie in der Gegenwart. Er lässt sich nicht vom Furchtbaren unterkriegen. Auch nicht vom drohenden Verlust der Existenz. Er sieht weiter, sieht mehr, sieht hinter den Horizont. Aber wann tun wir das schon? Wir hängen doch alle an dem, was vor Augen ist. Dabei heißt es: „Selig sind, die nicht sehen und doch glauben" (Joh 20,29). Manche Sätze hatten sich Max Lebmer eingeprägt.

Er war gern in der Natur. Aber die Schöpfung gut zu finden oder sogar sehr gut, das geht nur im Widerspruch zu unseren Erfahrungen, dachte er. Glauben gibt es nur im Widerspruch. Im Protest. Im Sich-nicht-abfinden. „Christen sind Protestleute gegen den Tod", hatte er mal gelesen.

Vielleicht ist die Wirklichkeit viel mehr als die Gegenwart. Mehr als das, was wir gegenwärtig erfahren. Wenn es Gott gibt, dann gibt es auch eine Gegenwirklichkeit und Gegenerfahrungen. Dann ist die finstere Seite der Schöpfung nicht alles. Dann scheint ein Licht auch in der größten Finsternis. Fragt sich nur, ob wir es sehen.

Man müsste mit den Augen Gottes sehen können. Max Lebmer lehnte sich zurück und schloss die Augen. Alles wäre dann leichter, erträglicher. Das Virus hätte keine Chance, uns die Freude zu rauben. Es könnte uns das Leben nehmen, aber nicht ...

Ihm wurde schwindlig. Er merkte, wie sein Denken an ein Ende kam. Irgendwann ist das Denken am Ende. Dann gibt es nur noch Gefühle. Dunkle oder helle. Jetzt leuchtete etwas Helles in ihm auf: ein Funke Freude. Vielleicht so etwas wie Sorglosigkeit, Hoffnung. Es war schwer zu beschreiben. Es war nur ein schwaches Gefühl, ein glimmender Docht (Jes 42,3). Und doch war die größte Finsternis darin schon überwunden.


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