Wie kann man Gefühle beten?
Klaus Straßburg | 31/08/2023
1. Eine peinliche Frage
Es gibt Fragen, die sind ganz einfach nur peinlich. Besonders dann, wenn sie uns in der Pubertät gestellt werden.
Eine solche Frage aus meiner Pubertät ist mir bis heute in Erinnerung geblieben. Ich hatte eine herzensgute Patentante mit einer – ich will einmal sagen: naiven Frömmigkeit. Wobei naiv hier nicht einfach negativ gemeint ist. Eine gewisse Portion Naivität ist im Glauben wohl unerlässlich (siehe meinen Artikel Naivität des Glaubens).
Irgendwann, schätzungsweise als ich zwischen 13 und 16 Jahren alt war, also mitten in der Pubertät, stellte sie mir in Gegenwart noch anderer Familienangehöriger die Frage:
"Betest du denn auch immer schön?"
Ich wäre am liebsten im Erdboden versunken. Das war mir nun wirklich zu indiskret. Darüber wollte ich wirklich nicht reden. Weil die Frage nun aber einmal gestellt war, musste ich mich ja dazu äußern. Also presste ich mit ziemlich schlechtem Gefühl ein "Ja" heraus.
Es war mir höchst peinlich. In der Pubertät sucht man ja seinen Weg und möchte nicht unbedingt dazu Auskunft geben, welchen Weg man gerade eingeschlagen hat. Noch dazu, wenn es um eine so persönliche Sache wie das Beten geht.
Die Frage meiner Patentante war gar nicht dumm. Denn das Gebet ist eine zentrale Äußerung des christlichen Glaubens. Ich denke, eigentlich wollte sie wissen, ob ich an Gott glaube. Dafür Sorge zu tragen, war ihre Aufgabe als Patentante. Sie drückte die Frage nach dem Glauben aus in der Frage nach dem Gebet.
Damit hatte sie recht. Denn wer glaubt, der betet. Und wer nicht betet, der glaubt nicht. Christlicher Glaube ist primär kein Fürwahrhalten christlicher Lehren, sondern eine Vertrauensbeziehung zu Gott. Und diese Vertrauensbeziehung drückt sich vor allem im Beten aus.
2. Gefühle beten
Das Beten kann viele unterschiedliche Formen annehmen. Es müssen nicht viele Worte sein. Es kann ein Hilfeschrei sein in plötzlicher Not oder nur ein Gedanke der Dankbarkeit in dem Augenblick, in dem wir etwas Schönen erleben. Es kann die Stille sein, die ganz ohne Worte auskommt: das stille Dasein vor Gott. Es kann ein Lied- oder Bibelvers sein, der uns plötzlich in den Sinn kommt, oder ein Gedanke im Vorübergehen.
Am letzten Sonntag hörte ich eine Predigt, in der der Prediger fünf menschliche Grundgefühle nannte. Grundgefühle sind Gefühle, die wir alle haben und die unser Leben prägen. Der Prediger zählte diese Gefühle dazu: Angst, Wut, Scham, Freude und Trauer.
Sicher lassen sich noch andere Gefühle finden, die für uns Menschen grundlegend sind. Jedenfalls dachte ich während der Predigt: Wenn Menschen Gefühle haben, die für ihre Existenz fundamental sind, dann werden Christinnen und Christen diese Gefühle doch in ihre Vertrauensbeziehung zu Gott einbringen. Dann werden sie mit diesen Gefühlen beten – oder sollte man besser sagen: Sie werden diese Gefühle beten?
Wie kann das aussehen: Gefühle beten? Hier einige Beispiele für gebetete Gefühle:
Angst
"Gott, wenn ich an deine große Macht denke, bekomme ich immer Angst."
"Die Zukunft macht mir Angst. Ich kann ihr einfach nicht zuversichtlich entgegensehen."
Wut
"Mein Gott, ich bin stinksauer, ich bin wütend auf dich! Wie kannst du mir das antun?"
"Jemand hat mich verletzt, und in mir ist lauter Wut auf ihn. Darf das nicht sein? Bist du nun auch noch gegen mich, Gott?"
Scham
"Herr, du bist der Richter über alle Menschen. Ich bin voller Scham wegen meiner Taten. Wie kann ich vor dir bestehen?"
"Gott, ich schäme mich, mich vor anderen Menschen zu dir zu bekennen. Und ich schäme mich dafür, dass ich mich dessen schäme."
Freude
"Herr, ich freue mich so sehr über diesen Augenblick, den du mich erleben lässt!"
"Lieber Jesus, mein Freund, wie schön ist es zu wissen, dass du an meiner Seite bist!"
Trauer
"In meinem Leben läuft alles anders, als ich es mir gewünscht habe. Ich muss mich von all meine Plänen verabschieden. Wie soll ich damit leben? Und wie soll ich an dich glauben, Gott?"
"Bruder Jesus, ich habe einen lieben Menschen verloren. Jetzt fühle ich mich wie in einem falschen Leben. Warum hilfst du mir nicht?"
Es lassen sich, wie gesagt, sicher noch mehr Grundgefühle finden. Diese fünf Grundgefühle sollen auch nur Beispiele dafür sein, was ich mit dem Beten von Gefühlen meine. Unsere Gefühle müssen beim Beten nicht außen vor bleiben. Im Gegenteil: Sie gehören zum Beten dazu. Sie prägen unsere Vertrauensbeziehung zu Gott und darum auch unsere Gebete.
3. Der mitfühlende Gott
Gebete sind Ausdruck des Gottvertrauens. Wir sollen uns selbst mit allem, was wir sind, in ihnen ausdrücken. Unsere Gefühle aber gehören grundlegend zu uns selbst. Also beten wir mit unseren Gefühlen, ja, wir beten unsere Gefühle – so, wie wir auch unsere Gedanken beten.
Weil wir Gott vertrauen können, dürfen und sollen wir alle Gefühle vor ihm ausbreiten. Auch negative Gefühle dürfen unser Beten prägen. Denn Gott verurteilt uns nicht für unsere Gefühle, sondern versteht sie. Er weiß, dass wir gefühlsbetonte Menschen sind, denn er hat uns so geschaffen.
Gott akzeptiert auch unsere negativen Gefühle – auch die, die nicht gut für uns und unsere Mitmenschen sind. Er toleriert sogar aggressive Gefühle, auch wenn er sie nicht unbedingt gutheißt. Und er kann negative und aggressive Gefühle verwandeln, so dass sie uns und andere nicht mehr belasten.
Dass Gott mit unseren Gefühlen mitfühlt, wird darin deutlich, dass er in Jesus Christus Mensch geworden ist – ein Mensch mit Gefühlen der Angst, der Wut, der Freude, der Trauer (Angst: Mk 14,32-36; Wut: Mk 11,15; Joh 11,33; Freude: Lk 1,44; Joh 15,11; Trauer: Joh 11,35f). Der mitfühlende Gott wird auch im Alten Testament beschrieben, vor allem beim Propheten Jeremia. Bei ihm klagt Gott beispielsweise über das Geschick seines Volkes Israel (Jer 9,9):
Über die Berge muss ich anheben Weinen und Totenklage, über die Weideplätze der Steppe das Trauerlied. Wüst liegen sie da, da geht kein Wanderer; man hört keinen Laut der Herde. Die Vögel des Himmels und das Wild – fort sind sie alle, entflohen.
Gott fühlt mit uns: Er nimmt teil an unseren Leiden, verzeiht uns unsere Aggressionen, macht sich klein, um uns nicht zu verängstigen, vergibt auch die schwersten Sünden, wenn wir sie bereuen, trauert mit uns und eröffnet uns neue Wege, und er freut sich mit uns. Diesem Gott können wir vorbehaltlos unsere Gefühle anvertrauen.
Alle unsere Gefühle gehen in unser Beten ein. So ist das Gebet vielfältig wie unser Leben: Es kann reden und schweigen, flüstern und schreien, klagen und jubeln, verzagt sein und hoffnungsvoll, voller Frust und voller Glück, aggressiv und gelassen, ängstlich und zuversichtlich, traurig und voller Freude. Und Gott hört und fühlt und versteht das alles.
Wir müssen also beim Beten keine großen Worte machen und keine bestimmten frommen Worte sprechen. Wir können beim Beten auch schweigen. Wir sind einfach da, mit dem Wirrwarr unserer Gefühle, und Gott ist auch da.
Wir schweigen und öffnen uns mit allem, was in uns ist. Wir vertrauen ihm, vertrauen darauf, dass er uns liebevoll anblickt. Wir sagen ihm, was uns bedrückt, was uns erfreut und was wir erbitten, in der Sprache, die jetzt, in diesem Augenblick, aus uns herausquillt.
Wir nehmen wahr, was daraus Neues in uns entsteht, welche neuen Gefühle und Gedanken sich entwickeln. So treten wir in Beziehung zu Gott. Und wir nehmen diese Beziehung mit in den Tag und werden seiner Nähe gewiss – bis zum nächsten Treffen mit ihm, bei dem wir uns wieder mit all unseren Gefühlen ihm öffnen.
Weil solches Beten eine Vertrauensbeziehung ausdrückt, muss es uns nicht peinlich sein. Andere werden diese Vertrauensbeziehung vielleicht nicht verstehen. Doch alle Menschen leben vom Vertrauen. Es gibt nichts Wertvolleres als vertrauensvolle Beziehungen.
Dass wir eine vertrauensvolle Beziehung zu Gott pflegen, dessen müssen wir uns beileibe nicht schämen. Denn es gibt kaum etwas Schöneres und Erfüllenderes als die Beziehung zu einer guten Macht, der wir vertrauen und vor die wir mit all unseren Gefühlen treten können – und die uns versteht.
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Foto: Alexa auf Pixabay.
dein schöner Ausdruck "Gefühle zu beten" hat, finde ich, etwas Befreiendes. Danke für diesen Blickwechsel. Es ist eigenartig, dass uns der Umgang mit eigenen Gefühlen gerade auch im Glaubenskontext so schwer fällt. Das Schamgefühl hat uns alle doch bis heute sehr geprägt und unseren Zugang zu unseren Gefühlen verschüttet. Gut, dass wir heute versuchen können uns davon, so weit möglich, zu befreien ...
Mit herzlichen Grüssen
Michael
danke für deine freundliche Rückmeldung. Der Ausdruck "Gefühle beten" kam mir tatsächlich, als ich eine Predigt hörte. Vom Schamgefühl können wir wohl nur dann befreit werden, wenn jemand uns mit unendlicher Liebe begegnet, so dass keine noch so große Scham uns von ihm und seiner Liebe trennen kann.
Viele Grüße
Klaus
Gefühle sind nichts anderes als Gedanken mit selbst-definierten (manchmal übernommenen statt erarbeiteten) höheren Wichtigkeiten und größeren Bedeutungen, die ihren Ausdruck in Art und Intensität auf diese menschliche Weise finden. Daher zeigen Gefühle immer auf die Priorität unserer gewissen Gedanken und Einstellungen, die wir haben. Ändern wir ihre Priorität, ihr Gewicht, durch Verlagerung, weitere Perspektiven, usw. dann verändern sich sogar Gefühle. Dann bekommen sie Grautöne und das Schwarz/Weiß konzentriert sich nur noch auf den Kern. Ein Seufzer, Augenrollen, oder tief gesenktes Haupt usw. braucht daher nicht immer Worte, da ja Gott ohnehin alles Sprachen und Körpersprachen in all ihrer Tiefe versteht :-)
danke, dass du den Zusammenhang von Gefühlen und Gedanken herausstellst. Gefühle prägen unsere Gedanken und Gedanken unsere Gefühle. Insofern würde ich zwischen Gedanken und Gefühlen unterscheiden, ohne sie voneinander zu scheiden. Gute Gedanken können negative Gefühle verändern und gute Gefühle reißen uns aus negativen Gedankenkreisen. Es ist wunderbar, dass ein Seufzer oder ein Gefühl der Verzweiflung von Gott gehört bzw. mitgefühlt wird, weil er, wie du schreibst, "alle Sprachen und Körpersprachen in all ihrer Tiefe versteht".