Wer gläubig wird, kommt nicht zum Glauben
Über eine gefährliche christliche Formulierung
Klaus Straßburg | 24/10/2023
Manche Formulierungen haben sich im Christentum über Jahrzehnte hin einen festen Platz erobert. Dazu gehört die Formulierung, dass jemand "zum Glauben gekommen ist".
Der Satz ist zum festen Bestandteil christlicher Ausdrucksweise geworden. Darum fällt gar nicht mehr auf, wie merkwürdig diese Formulierung eigentlich ist. Wir können ja zu vielen Personen oder Orten kommen: zur Mutter, zum Freund, zur Arbeit, zur Schule, zum Schwimmbad ... – aber zum Glauben? Wir sagen ja auch nicht, wir seien zum Lesen gekommen oder zum Denken oder zum Schwimmen.
Dass die etwas eigentümliche Formulierung sich dennoch in der christlichen Terminologie festsetzen konnte, hängt mit unseren Bibelübersetzungen zusammen. Die meisten Bibelübersetzungen sprechen nämlich an verschiedenen Stellen davon, dass irgendjemand oder viele Menschen "zum Glauben gekommen" sind.
Ich habe einmal im griechischen Text des Neuen Testaments nachgeschaut und war vom Ergebnis selber überrascht. Denn an keiner einzigen Stelle, die ich untersuchte und an der in den Übersetzungen "zum Glauben kommen" steht, ist im griechischen Text von einem "Kommen" die Rede. Im griechischen Text steht an den entsprechenden Stellen nur, dass jemand oder viele Menschen "gläubig geworden" sind. (Sollte jemand eine anders lautende Stelle im griechischen Text gefunden haben, bitte ich um eine Mitteilung.)
Zwischen "zum Glauben kommen" und "gläubig werden" besteht aber ein großer Unterschied. Denn wenn jemand zum Glauben kommt, setzt das eine Aktivität voraus: Dieser Mensch setzt sich in Bewegung und kommt aufgrund seiner Aktivität dorthin, wo der Glaube sich befindet. Er bewegt sich also zum Glauben hin, der dann zum Bestandteil seines Lebens wird.
Mit einem Menschen hingegen, der gläubig wird, geschieht etwas. Er ist nicht aktiv, sondern passiv. Er setzt sich nicht selbst in Bewegung, sondern wird dahin bewegt, von nun an ein gläubiger Mensch zu sein.
Die Formulierung "zum Glauben kommen" ist also zumindest missverständlich, eigentlich aber sogar gefährlich. Denn sie birgt die Gefahr in sich, den Glauben als eigene Tat, als frommes Werk, aufzufassen. Das aber widerspricht dem Neuen Testament eklatant (z.B. 1Kor 1,30a; 12,3; 2Kor 3,4-6; Gal 2,20, Eph 2,8-10; Joh 6,63-65).
Es ist gerade umgekehrt: Nicht wir kommen zum Glauben, also zu Gott, sondern Gott kommt zu uns. Jesus verkündigte das nahegekommene Reich Gottes (Mk 1,15). Das Neue Testament berichtet immer wieder davon, dass Jesus zu den Menschen kommt (z.B. Mk 1,38; Mt 3,14; 5,17; 9,13; Lk 7,44; Joh 5,43; 6,19; 1Tim 1,15). Alles Kommen zu Jesus hat darin seinen Grund, dass er zuerst zu uns gekommen ist.
Darum ist es eine tiefe biblische Wahrheit, dem Satz "Ich bin zum Glauben gekommen" die Aussage entgegenzusetzen: "Der Glaube ist zu mir gekommen."
Wenn der Glaube zu mir gekommen ist, wenn also der Glaube sich mir nahegelegt hat und ich gläubig geworden bin, dann stellt sich manchmal die Frage: "Wie kann ich Jesus näherkommen?"
Auch diese Frage ist nicht ungefährlich. Denn sie setzt ebenfalls voraus, dass ich mich in Bewegung setze: Ich muss aktiv werden und irgendwelche frommen Übungen machen, um Jesus näherzukommen.
Nach Lk 15,1 nähern sich Jesus aber gerade nicht die Frommen, sondern die "Zöllner und Sünder" – also diejenigen, zu denen der Glaube offenbar noch nicht gekommen ist. Und Lk 21,28 hält fest, dass die Erlösung sich uns nähert und nicht wir uns der Erlösung nähern.
Wir müssen also keine Frömmigkeitsverrenkungen machen, um Jesus näherzukommen. Was wir aber nach Lk 21,28 tun können, ist Folgendes: Wir können uns in aller Gottesferne, in der wir leben, "aufrichten und unsere Häupter erheben." Das heißt: Wir können zuversichtlich und als solche Menschen, die von Gott der nahen Erlösung gewürdigt sind, in die Zukunft blicken. Und das nicht, weil wir uns der Erlösung würdig erwiesen haben, sondern weil Gott uns der Erlösung gewürdigt hat.
Wenn der Glaube zu uns gekommen ist, dann hat uns Gott der Erlösung gewürdigt. Wir haben dem nichts mehr hinzuzufügen.
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Foto: Markus Distelrath auf Pixabay.
bei diesen Überlegungen kann ich dir überhaupt nicht zustimmen. Ich kann mir z. B. durchaus vorstellen, dass ein Sportler im Interview gefragt wird: "Wie sind Sie zum Wasserball gekommen?" und dann eine Geschichte dazu erzählt. Ich halte es also durchaus nicht für eine rein christliche Redewendung.
Zweitens spricht aus deinen Ausführungen protestantische Dogmatik in Reinkultur, so als dürfe man nur ja nichts dazu beitragen, zu glauben, weil das der reinen Lehre nicht entspricht. Für mich persönlich kann ich das so nicht bestätigen. Zwar waren es keine guten Werke, die ich dafür getan habe - die Falle der Werkgerechtigkeit habe ich damit vermieden -, aber ich hatte im Nachhinein den Eindruck, dass ich mich durch einen Dschungel von Theologie kämpfen musste, um zum Ziel, einem für mich vertretbaren Glauben zu kommen.
Drittens sehe ich schon auch biblische Beispiele für Aktivität. Zum Beispiel den kämpfenden Jakob mit seinem Ausspruch "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn". Im neuen Testament kann ich den hartnäckigen Hauptmann von Kapernaum nennen oder auch den insistierenden blinden Bettler von Jericho.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Einwände. Du sprichst einen Punkt an, den ich im Artikel nicht erwähnt habe, um einmal pointiert zu sprechen und dadurch etwas zu verdeutlichen.
Selbstverständlich hat der Glaube jedes Menschen auch eine Geschichte. Und selbstverständlich ist diese Geschichte nicht ohne Aktivitäten. Die Frage ist aber, wie diese Aktivitäten zustande kommen. Und diesbezüglich gibt es immer zwei extreme Möglichkeiten und einige Zwischenlösungen: Entweder mein Glaube und alle damit verbundenen Aktivitäten beruhen auf meinem eigenen Vermögen, mich sozusagen in die Nähe Gottes aufzuschwingen, oder ich wurde von Gott selbst in seine Nähe gezogen, oder man verbindet beides irgendwie miteinander. Ich ziehe die erste Lösung vor, und zwar nicht, um eine Dogmatik in Reinkultur zu verfolgen, sondern weil ich es so den biblischen Texten entnehme. Ich habe im Artikel ja eine ganze Reihe von Texten dazu genannt. Hier möchte ich nur aus dem Alten Testament Jer 31,3 hinzufügen. Gott spricht über Israel, das ja in seiner Glaubensgeschichte höchst aktiv war: "Mit ewiger Liebe habe ich dich geliebt; darum habe ich dich zu mir (oder: an mich) gezogen aus lauter Güte." Noch besser wird das, was ich meine, deutlich in Gal 2,20, wo Paulus von sich selber sagt: "Ich lebe; doch nicht ich, (sondern) Christus lebt in mir." In diesem kurzen Satz wird die ganze Dialektik christlicher Existenz deutlich: Natürlich lebe ich und glaube ich. Aber in diesem Ich bin ich nicht mein eigener Herr, sondern Christus ist mein Herr, oder anders gesagt: Ich bin Christus zu eigen, und was ich im Glauben lebe, das lebt er in mir. Man könnte also sagen: "Ich glaube; doch nicht ich, sondern Christus glaubt in mir." Meine Glaubensgeschichte ist also von Christus bewirkt und gründet nicht in meiner Selbsterhöhung zu einer Vertrauensbeziehung ihm gegenüber.
Wenn ich auf meine eigene Glaubensgeschichte zurückblicke, sehe ich in meiner Jugend viele Jahre der Unsicherheit und des Zweifels am christlichen Glauben. Nun habe ich zwei Möglichkeiten: Ich könnte sagen, ich habe mich durch diese Jahre hindurchgebissen und irgendwie am Glauben festgehalten, mich jedenfalls nicht von ihm losgesagt. Ich könnte aber auch sagen, und das ist mir je länger desto deutlicher geworden: Ich bin in diesen Jahren gehalten worden, ohne dass ich dazu etwas beigetragen habe. Selbstverständlich habe ich Aktivitäten entwickelt und Entscheidungen getroffen. Aber ich sehe sehr viele Menschen, auch aus meiner Jugendzeit, die ähnliche Glaubenskrisen durchgemacht und ihren Glauben irgendwann verloren haben. Warum ich einen anderen Weg gegangen bin, kann ich nicht begründen. Es hätte genau so viele Gründe gegeben, vielleicht sogar noch mehr Gründe, den Glauben aufzugeben - so wie es viele meiner damaligen Weggenossen getan haben. Dass ich trotzdem dabei geblieben bin, kann ich nicht meinem eigenen Vermögen zurechnen, sondern nur dem Gott, der mich zu sich gezogen hat, bei sich behalten hat, oder dem Christus, der in mir dafür gesorgt hat, dass ich nicht den Weg der vielen anderen gegangen bin. Und dafür kann ich nur dankbar sein.
Ich finde, Luther hat das in der Erklärung des dritten Artikels des Glaubensbekenntnisses im Kleinen Katechismus einzigartig ausgedrückt: "Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann; sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen, mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten."
Dennoch sind deine Fragen völlig berechtigt und sprechen den Punkt an, den ich um der Kürze und Pointiertheit willen im Artikel nicht angesprochen habe.
Viele Grüße
Klaus
mein erster Gedanke war, dass "gläubig werden" im Englischen "become faithful" wäre, das auch das Verb "kommen" (to come) enthält, im Französischen ist es ähnlich, wo Konstruktionen mit "werden" mit dem Verb "aller" ("gehen"), also einer Bewegung ausgedrückt werden. So gesehen ist "gläubig werden" und "zum Glauben kommen" nicht so weit entfernt. Und wer weiß, Deutschland, das über den angelsächsischen Raum missioniert wurde, hatte damals möglicherweise einen ähnlichen Sprachgebrauch, und Mission ist doch im Grunde eine aufeindander zulaufende Bewegung. "DOMINE IVIMUS" steht schon auf einem der ältesten Graffiti in der Grabeskirche in Jerusalem. Auch im evangelischen Raum gibt es das, z. B. die "Brush Arbors" in den USA, als es noch keine festen Kirchen gab, oder ganz ähnlich Zeltmissionen hierzulande -- habe ich erst kürzlich beobachtet. Prediger und kleinere Chöre kündigen eine Woche lang die Zeltmission an -- kommen kann man dann oder eben nicht aus freier Entscheidung. Ähnlich "Holy fair" in Schottland.
danke für deine Stellungnahme. Ich kann dich diesbezüglich auf meine obige Antwort auf den Kommentar von Thomas Jakob verweisen, in der ich mich zur menschlichen Aktivität geäußert habe. Die Frage ist, woher meine Aktivität kommt - aus meinem eigenen Vermögen oder aus dem Vermögen Gottes, der in mir wirkt. Konkret: Wenn jemand zu einer Zeltmission kommt, kommt er dann aufgrund einer freien Entscheidung oder wird er nicht eher durch etwas in ihm dorthin gezogen? Beten die Veranstalter nicht vorher dafür, dass Gott viele Menschen zur Zeltmission führen möge? Meine Überzeugung ist, dass Gott Menschen zu sich hin zieht (Joh 6,44! "Niemand kann zu mir kommen, es ziehe ihn denn der Vater, der mich gesandt hat"). Das Unfassbare ist nur, dass Menschen sich diesem in die Freiheit führenden Gezogen-sein verweigern. Das ist aber m.E. gerade keine freie Entscheidung, sondern das unfreie Gefangen-sein im Unglauben des "in sich selbst verkrümmten Menschen" (Luther).