Was wir von Schnecken lernen können
Klaus Straßburg | 15/11/2021
Schnecken haben die Ruhe weg. Keine Eile. Alles im Schneckentempo. Sie haben offenbar nichts Dringendes zu tun, so wie wir immer.
Kürzlich beobachtete ich eine Schnecke aus einiger Entfernung und konnte gar nicht feststellen: Bewegt sie sich nun oder bewegt sie sich nicht? Erst, als ich nach einiger Zeit wieder zu ihr hinblickte, erkannte ich: Sie bewegt sich.
Schnecken sind beneidenswert: Sie ignorieren jede Gefahr. Mitten auf dem Weg lassen sie sich unendlich viel Zeit. Als gäbe es gar keine Zeit. Als gäbe es keine Gefahr. Als hätten sie nichts zu verlieren.
Sind Schnecken einfach nur dumm?
Ich glaube nicht. Andere Tiere wissen genau um die Gefahren und würden sich niemals ohne Deckung so lange auf offenem Gelände aufhalten.
Schnecken tun das. Mitten auf dem Weg.
Es wäre nicht verkehrt, wenn wir etwas von den Schnecken hätten. Nicht so hastig, nicht so betriebsam, nicht so getrieben durchs Leben eilen. Nicht immer etwas tun wollen und müssen. Zeit haben.
Aber Zeit ist begrenzt, und das heißt knapp. Alles, was knapp ist, wird zusammengerafft. Bei Corona war's Klopapier.
Wir raffen die Zeit zusammen wie im Film ein Zeitraffer: Alles läuft schneller ab als in Wirklichkeit. Um möglichst viel in die Zeit hineinzupressen. Denn unsere Zeit ist begrenzt. Und – wer weiß schon, was danach kommt?
Ob die Schnecke etwas von Gott weiß? Wahrscheinlich nicht. Aber vielleicht hat sie mehr von ihm verstanden als wir. Sie lebt, als hätte sie nichts zu verlieren. Als hätte sie unendlich viel Zeit. Und als wäre auch das, was der große Schuh über ihr ihr gleich antun könnte, kein großes Drama.
Gott will uns alles geben, was wir benötigen. Und genug von allem. Er hat uns nicht irgendwann einmal erschaffen und dann uns selbst überlassen. Er kümmert sich. Jedes Haar auf deinem Haupt ist gezählt (Mt 10,30). Insofern ist Gott Mathematiker; denn Mathematik ist nichts anderes als Zählen auf hohem Niveau.
Vielleicht ist es in den Genen der Schnecke verankert: Sie zählt nicht, sie muss nicht zählen, weil sie irgendwie ahnt, dass ein anderer jede Sekunde ihres Lebens zählt.
* * * * *
immer und überall kann man Ihn anscheinend mit ins Spiel bringen. Deshalb frag' ich: hat die Schnecke einen Gott? Wenn ja, wie sieht er aus, wie ist er? Länglich, denk' ich, weich, gehörnt. Hat er ein Haus, oder hat er keins? Liebt er die Schnecke? Manches fragen auch wir Menschen uns.
Die Schnecke weiß nicht, was Zeit ist. Wissen wir es?
Viele Grüße
Hans-Jürgen
gute Fragen! Wie du sagst: Wir Menschen fragen uns auch manches. Und so wird es auch bleiben. Wir werden im Diesseits nur vorläufige, keine endgültigen Antworten finden, werden Gott nicht "von Angsicht zu Angesicht" erkennen. Das bleibt dem Jenseits vorbehalten, wo wir dann auch Jesus nichts mehr fragen werden (Joh 16,23). Bis dahin müssen wir mit unseren Fragen und unserer unvollkommenen Gotteserkenntnis leben. Das finde ich aber auch nicht schlimm, weil ich glaube, dass Gott uns alles, was im Diesseits für uns nötig ist, zu erkennen geben wird.
Die Schnecke wurde für mich ein Gleichnis eines Geschöpfes, das mit Zeit und Gefahren offenbar anders umgeht, als wir es oft tun.
Viele Grüße
Klaus
mir fällt dabei das folgende Gedicht ein:
Der Adler und die Schnecke
Adler:
Wie find' ich dich, du träges Tier,
auf diesem Eichenwipfel hier?
Wie kamst du her? - So rede doch!
Schnecke:
Je nun, ich kroch.
...
Sein hohes Ehrenamt gewann
Nicht anders mancher Schneckenmann.
August Friedrich E. Langbein
Viele Grüße
Thomas
sehr schön! Kriechend kommt man auch zum Ziel.
Viele Grüße
Klaus
es gibt auch ein launiges Schneckengedicht von Wilhelm Busch, dessen eine von sieben Strophen lautet:
Jetzt in dichtbelaubten Hecken,
Wo es still verborgen blieb,
Rüstet sich das Volk der Schnecken
Für den nächtlichen Betrieb.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
vielen Dank! Wusste gar nicht, dass Schnecken auch nachts aktiv sind. Aber da spielt sich ja Vieles des Nachts ab, von dem wir nichts ahnen. Manchmal höre ich nachts bei offenem Fenster etwas davon ...
Viele Grüße
Klaus
Hans-Jürgen hat die Frage nach der Zeit gestellt. Wissen wir, was Zeit ist? Hier einige spontane Gedanken dazu:
Die Zeit ist für uns schwer zu fassen. Die Vergangenheit ist vorbei, die Zukunft noch nicht da. Was wir erleben, ist die Gegenwart. Sobald wir aber versuchen, uns die Gegenwart bewusst zu machen, ist sie schon wieder zur Vergangenheit geworden.
In früheren Jahrhunderten lebte man wahrscheinlich stärker mit der Vergangenheit; denn Vieles von dem, was in der Gegenwart war, war auch schon in der Vergangenheit. Die Welt veränderte sich nicht so rasend schnell wie heute. Man lebte früher wahrscheinlich auch stärker in der Zukunft, weil man für sie Vorsorge treffen musste und weil der verbreitete christliche Glaube eine erstrebenswerte Zukunft in Aussicht stellte. Vorsorge treffen müssen wir zwar auch heute, aber sie ist wohl nicht so extrem wichtig wie in vergangenen Jahrhunderten. Viele Kinder waren die Lebensversicherung für das Alter, das Bestellen des Feldes sicherte die Nahrung für das nächste Jahr. Beides wird heute zumindest teilweise durch staatliche Institutionen gesichert. Der christliche Glaube als Zukunftshoffnung ist heute weitgehend ausgefallen.
Da die Vergangenheit ins bloß Gewesene entrückt ist und die Zukunft ein unbestimmtes, nebulöses Kommendes ist, konzentriert sich der moderne Mensch ganz auf die Gegenwart. Diese ist aber, wie beschrieben, flüchtig. Dennoch richtet sich das Interesse auf den flüchtigen Moment des Glücks, der Bedürfnisbefriedigung, des Sofortkonsums. Ist das Bedürfnis befriedigt, wird das Mittel dieser Befriedigung, das durchaus auch ein Mensch sein kann, uninteressant und durch ein neues Mittel ersetzt. So besteht die erlebte Zeit eigentlich in einer Reihe einander folgender Zeitpunkte, die sich durch Bedürfnisbefriedigung auszeichnen. Alles, was dieser Bedürfnisbefriedigung widerspricht, muss man schnell hinter sich lassen, um den neuen Kick, den neuen Glücksmoment zu erleben. Darum lebt man auf das Wochenende zu, an dem man die Arbeit hinter sich lässt und endlich die nächsten Glücksmomente erleben kann. Eine längere Zeitperspektive, die die nächsten Jahrzehnte oder gar die kommenden Generationen in den Blick nimmt, ist ausgefallen. Darum ist es dem modernen Menschen kaum möglich, sein Handeln an dem Erfordernis der Nachhaltigkeit zu orientieren.
Der Ausfall von Vergangenheit und Zukunft ist tragisch, weil die Vergangenheit keine Orientierung und die Zukunft keine über den Augenblick hinausgehende Perspektive mehr bieten kann. So hangelt sich der Mensch von Augenblick zu Augenblick und ist eigentlich ohne Orientierung und Perspektive verloren in einer Welt der Augenblicke, die nicht zu fassen und, sobald erlebt, auch schon wieder vergangen sind. Festen Halt kann es hier gar nicht geben. Die Zeit, erlebt ohne Vergangenheit und Zukunft, wird zum Fluch. Denn wer nicht weiß, woher er kommt, noch, wohin er geht, kann auch nicht wissen, wer er ist und sein wird. Dadurch entstehen Sinnlosigkeitserfahrungen, die dadurch noch verstärkt werden, dass die Kette der produzierten Bedürfnisbefriedigungen auf die Dauer nicht befriedigen können, sondern ein Gefühl der Frustration und des Unbefriedigtseins erzeugen.
Das Wissen um Zeit gibt es nur im Wissen um das Woher und Wohin. Wer darum nicht mehr weiß, kann auch nicht wissen, was Zeit ist.
dass "der" moderne Mensch nur in der Gegenwart lebt, kann ich so nicht unterschreiben. Wenn ich an den letzten Bundestagswahlkampf denke, dann hat die drohende und tlw. schon eingetretene Klimaveränderung darin eine größere Rolle gespielt als je zuvor. An dem, was meine Kinder politisch interessiert und an was sie sich orientieren, kann ich das ebenfalls feststellen. Nachhaltigkeit spielt eine Riesenrolle.
Apokalyptische Drohungen und daraus resultierende Aufrufe zur Umkehr bis hin zum Sektierertum, also klassische Stücke aus dem christlichen Repertoire, werden heute ebenfalls auf dem ökologischen Instrumentarium gespielt. Ich erinnere mich, dass es Anfang der 1980er schon einmal ähnlich war.
Meine Frau und ich haben uns inzwischen sehr bewusst aus einer Phase mit viel Vergangenheitsbezug, die im Rahmen der Auflösung der Haushalte unserer verstorbenen Eltern fast zwangsläufig fällig war, wieder mehr auf die Gegenwart konzentriert. Wir haben inzwischen mit Ende 50 schon deutlich länger gelebt, als wir unter normalen Umständen noch leben werden, und wenn wir aktiv noch etwas tun und erleben wollen, dann müssen wir das bald tun.
Dass Kinder nicht mehr als Vorsorge gesehen werden und Vergangenheit keine große Rolle mehr spielt, mag für ein paar Durchschnittsdeutsche so sein, aber in vielen Gegenden unserer Erde ist das meiner Meinung nach komplett anders.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine berechtigten Anmerkungen. Ich habe mit meinen Gedanken tatsächlich die westliche Moderne, d.h. die hier herrschende Industrie- und Konsumgesellschaft, in den Blick genommen. Dass im globalen Süden andere Gesetze gelten, darin stimme ich dir zu. Eine Abwertung der Gegenwart schwebt mir auch nicht vor; sie hat durchaus ihr Recht innerhalb der drei Zeitdimensionen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Auch wird es keinen Menschen geben, der „nur" in der Gegenwart lebt – ich sprach ja auch von einer Konzentration auf die Gegenwart, eben unter Vernachlässigung von Vergangenheit und Zukunft.
Was ich meine, im geschichtlichen Rückblick feststellen zu können, ist eine Verschiebung der Aufmerksamkeit weiter gesellschaftlicher Kreise und Institutionen auf die Gegenwart und ihre Glücksmomente. „Befriedigung sofort" ist dafür ein Schlagwort. Wenn ich von weiten gesellschaftlichen Kreisen und Institutionen spreche, heißt das, dass es auch immer Menschen gibt, die andere Maßstäbe setzen. Die fridays-for-future-Bewegung ist dafür ein deutlicher Beleg. Dennoch scheint mir deren „Botschaft" vielfach noch nicht durchgedrungen zu sein, jedenfalls nicht in Bezug auf das praktische Handeln, das sich für die meisten Menschen der industriellen Moderne noch immer an der gegenwärtigen Bedürfnisbefriedigung orientiert – auf Kosten der zukünftigen Generationen. Der weiterhin riesige Absatz von SUVs oder der ungebremste Wunsch nach Flugreisen beispielsweise sind dafür Indizien. Die ökologische Gegenbewegung kann sogar dazu führen, dass die Betonung der Gegenwart noch steigt, weil man befürchtet, in Zukunft seine Bedürfnisse (zum Beispiel durch Verbote) nicht mehr befriedigen zu können. Der Ausfall der erstrebten Zukunft führt dann zu einer stärkeren Konzentration auf die Gegenwart: Wenn ich das in Zukunft eventuell nicht mehr darf, dann muss ich mein Bedürfnis jetzt schnell noch befriedigen.
Ich will damit nicht schwarzmalen. Der Nachhaltigkeitsgedanke hat heute wahrscheinlich mehr Bedeutung als je zuvor. Es ist aber vielfach doch nur ein Gedanke. Mit der praktischen Umsetzung tut man sich schwer. Und bei nicht wenigen Menschen ist nicht einmal der Gedanke wirklich angekommen. Solche Umstrukturierungen dauern wohl naturgemäß lange. Das Problem ist nur, dass wir die Zeit nicht haben, um größeres Unheil zu vermeiden.
Es geht mir aber gar nicht nur um Nachhaltigkeit, das war nur ein Nebengedanke. Es geht mir um eine grundsätzliche Verschiebung im Lebensgefühl, das zwar kurzfristige Bedürfnisbefriedigung anstrebt und auch oft erreicht, aber langfristige Sinnerfüllung umso mehr verliert. Das ist kein apokalyptische Drohung, sondern der Versuch einer Gesellschaftsanalyse. Apokalyptische Drohungen, insbesondere ökologische Weltuntergangsszenarien, halte ich auch theologisch für unangemessen, weil nicht wir Menschen über das Ende der Welt entscheiden. Gegen Aufrufe zur Umkehr hätte ich aber nichts einzuwenden, wenn sie weder mit Ängsten spielen noch Untergangsszenarien entwerfen. Sie sollten stattdessen vom Positiven ausgehen, zum Beispiel von Gottes gutem Willen für seine Schöpfung oder – ganz profan – von der Aussicht auf ein gutes Leben in einer gerechten und naturbelassenen Welt. So wäre eine reizvolle Zukunftsperspektive neu in den Blick zu nehmen.
Viele Grüße
Klaus
wenn ich mich recht erinnere, habe ich auch bei irgendeinem griechischen oder römischen Philosophen mal eine Klage über den übergroßen Gegenwartsbezug und das Leben nur auf das unmittelbare Jetzt bezogen gelesen. Ich stelle dann auch gern mal andere Zeitbezüge aus der Natur dagegen, z. B.:
4.000 Jahre, die der älteste noch lebende Olivenbaum auf Kreta geschätzt alt ist,
315.000 Jahre, das Alter der ältesten Homo sapiens Fossilien aus Afrika,
2,7 Mio. Jahre, die das Licht vom Andromeda-Nebel zu uns gebraucht hat,
235 Mio. Jahre, die Zeit, in der die Dinosaurier entstanden sind,
4,6 Mrd. Jahre, die Zeit, als die Erde entstand und weitere
5,0 Mrd. Jahre, die uns maximal bleiben, bevor die Sonne zum Roten Riesen wird,
13,8 Mrd. Jahre, das Alter des Weltalls.
Angesichts solcher Zahlen sind indiviuelle Menschen so eine Art Eintagsfliegen, wenn überhaupt, und leben ohnehin nur im Jetzt.
Viele Grüße
Thomas
Viele Grüße
Klaus
Christen hoffen in ihrem Glaubensbekenntnis auf das Ewige Leben. Verglichen mit ihm, ist das irdische wie ein Punkt auf einer unendlich langen Linie.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
vielen Dank für die mathematischen Bezüge im Link unter deinem Namen. Da geht die Mathematik ins Philosophische über. Es ist ein riesiger Unterschied, ob ich mir mein Leben auf einem Zeitstrahl, also einer endlichen Gerade vorstelle, auf der ich mich von Punkt zu Punkt hangele und möglichst viele Glückspunkte zu erzeugen versuche, aber am Ende der Gerade und im Vorblick auf dieses Ende keine Zukunft mehr habe. Oder ob ich mein Leben als Punkt auf einer unendlichen Gerade, also in einem ewigen Leben denke, dessen größter und glücklichster "Teil" noch vor mir liegt.
Viele Grüße
Klaus