Was macht Jesus in unseren Jeans?
Wie ich einen Vortrag über Gottes Gegenwart erlebte
Klaus Straßburg | 16/09/2024
Es gibt schon merkwürdige Christen unter der Sonne. Einer von ihnen war Dieter. Er war ein herzensguter Mensch, aber eben etwas schräg. Dieter war immer etwas schlaksig gekleidet und hatte nach meiner Erinnerung eine leicht gebückte Haltung – vielleicht Ausdruck christlicher Demut? Ich weiß es nicht. Jedenfalls gab es Dieter nur im Doppelpack mit seiner Frau. Er war im Hotelfach tätig gewesen, und beide hatten viele Jahre in den USA gelebt. Von dort hatte er neben guten Englischkenntnissen eine ordentliche Portion christlichen US-Fundamentalismus mitgebracht. Das gab seiner Theologie einen leicht schrägen Touch. Aber darüber später mehr.
Soweit ich mich erinnere, hatte Dieter keine theologische Ausbildung. Er war sozusagen Selfmade- und Freilufttheologe. Aber das muss beileibe kein Makel sein, wenn man sich die Theologie manches studierten Theologen anschaut. Jedenfalls prädestinierte ihn sein gutes Englisch für eine ganz bestimmte Aufgabe.
Denn Dieter leitete zusammen mit Fred, einem weitgereisten Geschäftsmann aus der Aluminiumbranche, eine englische Bibelstunde in Göttingen, genannt English Bible Study. Englisch deshalb, weil in der Universitätsstadt viele Studierende und Wissenschaftler aus dem Ausland lebten, denen Englisch näher lag als Deutsch. Die English Bible Study-Gruppe war aber nicht nur für Ausländer, sondern für alle, die den Hals nicht voll genug von Englisch kriegen konnten. Und tatsächlich klingt manches Bibelwort in Englisch überraschend neu, das in Deutsch für uns schon einen langen Bart hat.
Meine Frau und mich hatte es damals in den Raum Göttingen verschlagen. Wir besuchten regelmäßig die Gottesdienste einer Baptistengemeinde und genossen die dort herrschende Gemeinschaft, die es in unserer landeskirchlichen Dorfgemeinde mit ihren maximal 15 vorwiegend weiblichen Gottesdienstbesuchern ab 70 Jahren nicht gab. Außerdem fanden wir die Meinung des freundlichen Dorfpfarrers, jeder Säugling sei bei seiner Taufe Christ geworden, etwas – positiv gesagt: verträumt romantisch, negativ gesagt: reichlich schräg. Siehe oben die Bemerkung zu manchen studierten Theologen.
In der Göttinger Baptistengemeinde blühte im Gegensatz zu unserer Dorfgemeinde das Leben mit jungen und alten Pflanzen in bunter Vielfalt. In den Räumen dieser Gemeinde traf sich auch die Gruppe English Bible Study. Meine Frau war sofort begeistert: Sie als Naturwissenschaftlerin, die schon zweieinhalb Jahre in Indien gearbeitet hatte und sich gern mit Asiaten unterhielt, hatte mit Englisch überhaupt kein Problem – ganz im Unterschied zu mir.
Als Pfarrer braucht man zwar Bibelhebräisch, Altgriechisch und Latein, aber kein Englisch. Vielleicht kommt die Kirche auch deshalb oft mit einem jahrhundertealten Gesicht daher, in dem alles Moderne keinen Platz hat. Jedenfalls war es mit meinem Englisch nicht zum Besten bestellt, das normale Schulenglisch eben, aber das war auch schon ein paar Jahrzehnte her. Doch für das Nötigste reichte es noch. Ich hatte schließlich Bob Dylan und die Beatles rauf und runter gehört und ihre Stücke sogar auf der Gitarre gespielt. Das war mein Englisch-Förderunterricht. Und weil meine Frau so begeistert vom English Bible Study war, dachte ich: Vielleicht hilft die Gruppe ja, mein Schulenglisch mal wieder aufzufrischen. Und nebenbei lerne ich noch ein paar interessante Leute aus dem Ausland kennen.
So war es dann auch: Im English Bible Study wurde mein ergrautes Schulenglisch zu neuem Leben erweckt, und einige Begegnungen mit ausländischen Studierenden habe ich bis heute nicht vergessen. Es ist eben doch viel spannender, mal über den eigenen Tellerrand hinauszuschauen, als sich ständig nur unter Einheimischen zu bewegen. Nichts gegen Deutschland und die Deutschen, aber im Ausland gibt es tatsächlich auch interessante Menschen mit gar nicht so dummen Einstellungen.
Zum English Bible Study kamen regelmäßig circa 15 bis 20 Personen: Studierende, Wissenschaftler, Ausländer, die sich keinen schöneren Ort auf der Welt als Göttingen für ihr Leben vorstellen konnten, oder solche wie meine Frau und ich, die irgendwie mehr oder weniger zufällig dort gelandet waren. Göttingen ist übrigens wirklich schön. Aber das nur nebenbei. Zu Beginn jedes Abends wurde im Bible Study ein Vortrag über einen Bibeltext gehalten, und danach gab es die Möglichkeit zum Gespräch – natürlich alles auf Englisch.
Ehrlich gesagt erinnere ich mich an keinen Vortrag mehr – bis auf einen. Obwohl, das ist zu viel gesagt: Ich erinnere mich nicht an den Vortrag, sondern nur an einen Satz aus dem Vortrag. Und dieser Satz kam von Dieter.
Ich weiß nicht mehr, um welchen Bibeltext es ging. Ich weiß auch nicht mehr, was das Thema von Dieters Vortrag war. Ich weiß nur noch, dass Dieter immer und immer wieder in verschiedenen Variationen diesen Satz sagte:
You have Jesus in your jeans.
Der Satz schlug voll bei mir ein. In meinem Gehirn ratterte es sofort los: Was meint Dieter mit diesem Satz? Zuerst beruhigte ich mich noch: Hör einfach weiter zu, die Erklärung wird schon noch kommen.
Aber die Erklärung kam nicht. Stattdessen kam:
Jesus is in your jeans.
Ich streckte meine Beine aus und blickte auf meine Jeans. Darin ließ sich ja manches finden, aber kein Jesus. Allerdings hatte ich ihn dort auch noch nicht gesucht. War das ein Fehler? Viel Platz war aber in der Jeans nicht. Für zwei reichte die Hose nicht. Und auch in die Hosentaschen passte nur ein geschrumpfter Jesus. Also musste Dieter den Satz anders meinen. Wahrscheinlich metaphorisch. Das war offensichtlich die Lösung: Dieter meinte es nicht wörtlich, sondern im übertragenen Sinn.
You have Jesus in your jeans!
rief Dieter betont eindringlich. Ich merkte, wie wichtig ihm das war. Also fragte ich mich, was er mit diesem Bild sagen wollte. Wollte er die große Nähe Jesu zu mir ausdrücken? So nah, dass er, bildlich gesprochen, in meinen Jeans steckt – ganz nah an mir dran?
Zufrieden war ich mit dieser Erklärung nicht. Gab es noch andere Möglichkeiten, den Satz zu verstehen? Ich versuchte, dem Vortrag zu folgen, aber es ging nicht mehr. Alle meine Gedanken kreisten um diesen einen Satz. Und so ratterte es in meinem Gehirn weiter.
Jesus is in your jeans!
tönte es von Dieter her und unterbrach all meine weitreichenden Überlegungen. Ich ging meine gesamten Bibelkenntnisse durch, konnte mich aber an keine Bibelstelle erinnern, die Jesus in einer Hose, einem Rock oder einem antiken Obergewand verortete. Auch aus der Dogmengeschichte war mir nichts bekannt, was den Satz von Jesus in unseren Hosen rechtfertigen könnte.
Langsam ließen meine geistigen Kräfte nach, und ich versuchte mich zu entspannen. Na gut, dachte ich schließlich, das ist eben Dieter mit seiner leicht schrägen Theologie. Wahrscheinlich ist das Bild von der Jeans total schief, aber das passt ja irgendwie zu ihm. Ich bleibe mal bei der Deutung: Jesus ist mir nah. Das ist es, was Dieter meint. Im Sinne von Matthäi am Letzten: "Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt Ende" (Mt 28,20).
Aber was macht Jesus in meinen Jeans – sorry, in meiner Nähe? So ganz nah an meinem leiblichen Leben. Ich konnte einfach nicht aufhören, über den Satz zu philosophieren.
Jesus is in your jeans!
dröhnte es immer lauter in meine Ohren. Ich gebe zu: Ich bin ein Grübler. Ich grüble so lange über eine Sache nach, bis ich eine befriedigende Lösung gefunden habe. Oder gefunden zu haben meine. Also ging das Grübeln weiter, während Dieter irgendwelche englischen Erklärungen abgab, die ich schon längst nicht mehr verfolgte.
Der Vortrag näherte sich dem Ende, und ich hatte noch immer keine wirklich befriedigende Antwort darauf, warum Dieter Jesus in meiner Jeans verortete. "Das Himmelreich ist nahe herbeigekommen" (Mt 3,2) könnte noch ein passender Bibelspruch sein. Bis in meine Jeans ist das Himmelreich gekommen. Aber warum in die Jeans? Warum nicht ins Hemd oder T-Shirt? Warum redet Dieter immer von meiner Hose??
Doch dann kam ein Moment der Erleuchtung über mich. Es war wie eine Offenbarung. Mit einem Mal hörte ich denselben Satz ganz anders:
You have Jesus in your genes!
In meinem gemarterten Gehirn wurde es leuchtend hell – und zugleich peinlich dunkel. Wie konnte ich das nur überhört haben!? Nicht von Hosen war die Rede, sondern von Genen. Beide Wörter werden im Englischen gleich ausgesprochen. Es ging um die genes – die Gene! Wir haben Jesus in unseren Genen, wollte Dieter sagen.
Die Erleuchtung kam spät, aber sie kam. Das Problem war damit entschärft, aber nicht gelöst. Jesus in unseren Genen? Was sollte das nun wieder heißen? Jesus ist in unseren natürlichen Erbanlagen? Ist er dann vererbbar? Steuert er unsere Anlagen? Ist Jesus Bestandteil der Genetik?
Ich war zwar erleichtert, mir Jesus nicht mehr in meiner Jeans vorstellen zu müssen, aber ihn in meinen Genen zu denken, war auch keine leichte Aufgabe.
Natürlich fallen mir sofort biblische Sätze wie diese ein:
Ich lebe. Aber nicht mehr ich, sondern Christus lebt in mir.
(Gal 2,20a)
Siehe, das Reich Gottes ist inwendig in euch.
(Lk 17,21b)
Der letzte Satz lässt zwei Übersetzungen zu: Das Reich Gottes ist "inwendig in euch" oder "mitten unter euch". Ich tendiere zur zweiten Übersetzung. Aber auch die erste ist nicht falsch.
Das ist ein Wunder, das wir als Christinnen und Christen in aller Regel gar nicht wahrnehmen: Das Göttliche ist in uns, treibt uns von innen her an. Christus ist in uns gegenwärtig, er lebt und wirkt in uns. Wir leben unser Leben, aber die treibende Kraft unseres Lebens ist Christus selbst, die Kraft seines göttlichen Geistes. Insofern werden wir gelebt, aber zugleich ist es nichts uns Fremdes, was uns antreibt, sondern unser grundlegend erneuertes, radikal verändertes Ich. Unser Ich treibt uns ab, aber es ist ein neues Ich. Es wird uns nichts aufgezwungen, sondern das, was wir sind, wird einer radikalen Verwandlung unterzogen, die alle unsere Gefühle, Empfindungen und Gedanken betrifft. Wir werden neu und führen ein neues Leben, weil Christus in uns lebt.
Es ist natürlich ein Skandal, dass wir das nicht wahrnehmen. Stattdessen halten wir uns in unserem christlichen Größenwahn für Menschen, die sich selbst verwandeln, die sich aus eigener Kraft für den richtigen Weg entschieden haben, die sich grundlegend selbst erneuern. Als könnten wir das! Als könnten wir den "alten Adam" in uns selbst besiegen und bedürften dazu nicht eines anderen, der eben kein "alter Adam" ist. Wir wollen uns am eigenen Schopf aus dem Sumpf ziehen! Das ist der christliche Größenwahn.
Ein wenig mehr gebückte Haltung, also christliche Demut, täte uns deshalb ganz gut. Nein, wir müssen nicht in Sack und Asche gehen, wir müssen nicht vor lauter Demut vor allen anderen einen Bückling machen. Es geht einfach darum anzuerkennen, dass wir auf Gottes Gnade und ihre wirksame Kraft angewiesen sind, weil wir aus eigenem Vermögen nichts zustande bringen. "An Gottes Segen ist alles gelegen" – aber auch wirklich alles. Oder, wie Martin Luther formulierte:
Ich glaube, dass ich nicht aus eigener Vernunft noch Kraft
an Jesus Christus, meinen Herrn, glauben oder zu ihm kommen kann;
sondern der Heilige Geist hat mich durch das Evangelium berufen,
mit seinen Gaben erleuchtet, im rechten Glauben geheiligt und erhalten;
gleichwie er die ganze Christenheit auf Erden beruft, sammelt, erleuchtet,
heiligt und bei Jesus Christus erhält im rechten, einigen Glauben.
(Erklärung zum 3. Glaubensartikel im Kleinen Katechismus)
Luther wusste darum, dass unser Glaube und darum auch unsere aus dem Glauben erwachsenden Taten durch den heiligen Geist, also durch Gott selbst, gewirkt werden. Wir können uns diesem Wirken zwar widersetzen und es damit unwirksam machen. Aber wir können dieses Wirken nicht selber produzieren.
Vielleicht wusste auch Dieter darum. Er hat es auf seine Art ausgedrückt. Dass Jesus in unseren Genen sitzt, ist natürlich ein schräger Gedanke. Aber so war Dieter eben. Wir haben Jesus nicht als einen biologischen Bestandteil unseres Körpers. Jesus wird uns nicht vererbt, und wir vererben ihn nicht weiter. Er ist nicht in unsere Gene eingeschlossen. Wir besitzen ihn nicht, so wie wir unsere Gene besitzen. Jesus ist vielmehr frei darin, uns zu verwandeln oder nicht. Er kann sich uns auch entziehen. Aber wenn er in uns gegenwärtig ist, dann verwandelt er uns mit Leib und Seele. Ein neuer Mensch entsteht – wenn wir diese Neugeburt zulassen (2Kor 5,17; Gal 6,15; Joh 3,3-8).
You have Jesus in your genes.
Ich gestehe, dass ich während Dieters Vortrag früher auf den Gedanken hätte kommen können, dass er von den Genen spricht. Meine Frau ist Biologin. Sie hat diesen Satz selbstverständlich von Anfang an verstanden und musste sich erst mal ausschütten, als ich ihr erzählte, wie ich ihn verstanden hatte. Sie wäre nie auf die Idee gekommen, an Hosen zu denken. Gene gehörten eben zu ihrem täglichen beruflichen Geschäft. Also verstand sie sofort, dass Dieter von Genen sprach.
Mir dagegen war die Hose allemal näher, als es irgendwelche Gene waren. Die Hose musste ich schließlich morgens an- und abends ausziehen. Mit Genen hingegen hatte ich nichts zu tun. Ich weiß zwar, dass es sie gibt und dass ich sie habe, aber sie waren jenseits meiner täglichen Gedanken und Taten. Darum dachte ich bei Dieters Vortrag an Hosen. Tut mir wirklich leid, Dieter!
Dieters Gedanke, wenn ich ihn jetzt richtig verstehe, hat aber sein gutes Recht. Wir sollten ihn uns öfter in Erinnerung rufen. Wir tragen Jesus zwar nicht in unseren Genen mit uns herum, aber wir haben ihn auch nicht nur als einen Kumpel neben uns. Jesus ist auch in uns am Werk. Und das ist wichtig, denn ohne ihn können wir nichts tun – jedenfalls nicht in geistlicher Hinsicht (Joh 15,5b). Das hat Jesus selbst gesagt. Und daran erinnert mich mein Erlebnis in Göttingen. Dieter sei's gedankt.
* * * * *
Foto: PublicDomainPictures auf Pixabay.
wie schön, dass es solche Menschen wie Dieter gibt... 😇😉
Einen schönen Tag wünscht
Michael
ich würde eher sagen, dass zumindest die Christen, die regelmäßig den Gottesdienst besuchen, einen Sinn für Dankbarkeit gegen Gott haben, und gerade eben nicht größenwahnsinnig sind, auch wenn sich ihr Leben sonst in fast nichts von dem Leben eines Agnostikers unterscheidet. Das ließe sich an Beispielen erklären.
Die Idee mit Jesus in den Genen ist wohl als so eine Art Defibrillator für den naturwissenschaftlich-technischen Akademiker gedacht, der früh abends in den Göttinger Instituten verschwindet, sich wie scheintot im Neon-Licht in seine Arbeit versenkt und spät morgens wieder heimgeht. Ausser Arbeit in der unsichtbaren Welt der Moleküle und Gen-Sequenzen gibt es: genau nichts. Wie heißt es so schön: "Extra Gottingam non est vita ... " . Da schlägt Kol. 1,16 in der Seele des Wissenschafters vielleicht doch noch eine merkwürdige Saite an.
nun wird der naturwissenschaftlich-technische Akademiker während seiner nächtlichen Arbeit vielleicht manches molekulare Geheimnis ergründet, aber nicht Jesus in den Genen gefunden haben. Die Gegenwart Jesu in ihm bleibt seinem Glauben vorbehalten - wenn er ihn hat. Der regelmäßige Gottesdienstbesuch ist nach meinen Erfahrungen auch keine Garantie für die Abwesenheit von Größenwahn, wie sich an manchem bekannten und unbekannten Kirchenmenschen und leider auch einem nicht geringen Teil der Kirchengeschichte zeigen lässt; kann doch die beste Religion sogar in den Größenwahn hinein- statt herausführen. Da bedarf es wohl wirklich eines mächtigen Anstoßes von außen, um den Todgeweihten zum Leben zu erwecken - tatsächlich eine Art göttlichen Defibrillator, in der Bibel Heiliger Geist genannt.