Was kommt nach dem Glauben?
Klaus Straßburg | 05/12/2021
In der Wochenzeitung DIE ZEIT (Ausgabe 48 vom 25.11.21) erschien ein Artikel von Thomas Assheuer mit dem Titel „Was nach dem Glauben kommt". "Stellen wir uns also vor, es gäbe eines Tages keine Religion mehr", heißt es im Untertitel. Ein interessantes Experiment. John Lennon regte übrigens schon 1971 an: "Imagine there's no heaven [...] and no religion, too". Imaginieren wir also. Assheuer beginnt das Experiment mit einer Analyse der kirchlichen Situation.
1. Die kirchliche Situation
Die Analyse ist schonungslos: Zu nennen ist eine "lustfeindliche Theologie", in deren Folge vor allem die katholische Kirche zu einer "Gemeinschaft der Kinderschänder und Kongregation der Heuchler" wurde. Aber das wäre nur die letzte Ausgeburt des Dämonischen in den Kirchen, einer "gottverlassenen Institution, die oft genug mit dem Teufel paktierte und eine Blutspur durch die Geschichte zog."
Die Aussichten für die Kirchen sind deshalb denkbar schlecht: "Gut möglich, dass sich die älteste Institution der Welt ihr eigenes Grab grub." Die Totengräber jedenfalls frohlocken schon: Der radikale Atheismus steht schon bereit mit der Schaufel in der Hand, um "die letzte Bastion des Irrationalen, ein Hirngespinst, das der progressive Weltgeist längst hätte zermalmen müssen", endgültig zu beerdigen und dem „Selbstbetrug" der Religiösen ein Ende zu bereiten.
Auch der Kern der Religionen, ihr Protest gegen das Unerträgliche, nämlich gegen des Lebens Vergänglichkeit und den Mangel an Gerechtigkeit, sind schnell abgebügelt: "religiöse Jenseitsvertröstung, bizarre Fluchtbewegung aus dem irdischen Jammertal." Dass die Kirchen selbst die Verheißung jenseitiger Gerechtigkeit als "Vertröstungsbotschaft" missbraucht und den Kampf gegen die Ungerechtigkeit vernachlässigt haben, hat zu diesem Urteil beigetragen.
2. Die jüdische Befreiungserfahrung
Dabei stand am Beginn des monotheistischen Glaubens eine Befreiungserfahrung: In der Befreiung Israels aus der ägyptischen Sklaverei durch die Person des Mose erlebten Menschen erstmals in der Geschichte, dass die Gottheit nicht auf der Seite der Herren, sondern auf der der Sklaven stand. Entgegen der Selbstverständlichkeit antiker Herrscherreligionen und Sklavenhaltergesellschaften galten nun die Sklaven genauso viel wie die Herren. Nicht mehr die Macht galt als heilig, sondern jedes Menschenleben. "Die Herrscher mussten sich ab jetzt vor dem Richterthron der göttlichen Gesetze rechtfertigen."
So stand das jüdisch-christliche Menschenbild Pate für manches, was uns heute selbstverständlich geworden ist: für den Gedanken gesellschaftlicher Solidarität, für die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte und für demokratische Verfassungen, deren eine im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ihren Niederschlag fand.
3. Der Niedergang der monotheistischen Religionen
Gäbe es die monotheistischen Religionen nicht mehr, dann wäre, so Assheuer, "die moderne Gesellschaft [...] vollständig mit sich allein und säße transzendenzlos in ihrer selbst gebauten Höhle." Ethik könnte sich dann nur aus säkularen Quellen speisen, und das menschliche Bedürfnis nach Sinngebung und Lebensfülle würde gedeckt „durch das handelsübliche trinitarische Heilsversprechen des Kapitalismus – Wachstum, Wohlstand, Fortschritt –, den berühmten Fußballgott oder allerhand esoterische Trostgemeinschaften." Des weiteren erwägt Assheuer als mögliches Heilsversprechen noch die Kunst, aber man könnte sich über all das hinaus noch viele quasireligiöse Angebote vorstellen – letztlich kann alles Diesseitige der religiösen Verehrung anheimfallen. Assheuer nennt die "Heiligsprechung der Macht" oder die "Anbetung des Faktischen. Sie vergötzt die nationale Identität, den allmächtigen Staat oder die allwissende Partei. Sie predigt das Evangelium vom Streit der Nationen", wonach das Leben sich im Kampf realisiert und den Tod als das Unerlässliche in diesem Kampf einschließt.
Als lebendes Beispiel eines Missionars dieser neuen "Religion" nennt Assheuer Donald Trump: "Er predigt Feindschaft und erlöst die Massen von allen Übeln; klein ist seine Gemeinde jedenfalls nicht, sogar evangelikale Scharfmacher mischen mit." Ähnliche Erlösergestalten gibt es in Russland, China und Brasilien. So könnten jene, die nach dem erhofften Absterben der Religionen und nach allen Glaubenskämpfen vom Frieden träumen, unerwartet in einer „gnadenlose[n] Machtreligion" erwachen: im "Kampf aller gegen alle", im "nicht enden wollenden Konflikt um Einflusszonen, Großräume, Märkte, Rohstoffe."
4. Die zukünftige Rolle der Religionen
Wie sollten die monotheistischen Religionen in dieser Situation agieren? Assheuer schlägt vor, die Regierenden im Anschluss an den Kirchenvater Augustin mit der Bemerkung zu provozieren, "sie wüssten den Unterschied zwischen Gut und Böse doch genau." Voraussetzung sei allerdings, dass die Religionen allen irdischen Machtansprüchen entsagen und eine "Position der souveränen Ohnmacht" einnehmen, eine Position der machtlosen Macht, die nur auf die eigene Botschaft vertraut.
Die christlichen Kirchen bekennen sich zu ihrer öffentlichen Verantwortung für das Gemeinwesen und nehmen deshalb auch zu politischen Themen Stellung. Sie erinnern die Regierenden an ihre Verantwortung vor Gott, wie es die 5. Barmer These der Bekennenden Kirche aus dem Jahr 1933 ausdrückt. Ich zitiere sie hier in voller Länge:
"Fürchtet Gott, ehret den König!" (1. Petr. 2,17)
Die Schrift sagt uns, daß der Staat nach göttlicher Anordnung die Aufgabe hat, in der noch nicht erlösten Welt, in der auch die Kirche steht, nach dem Maß menschlicher Einsicht und menschlichen Vermögens unter Androhung und Ausübung von Gewalt für Recht und Frieden zu sorgen.
Die Kirche erkennt in Dank und Ehrfurcht gegen Gott die Wohltat dieser seiner Anordnungen an. Sie erinnert an Gottes Reich, an Gottes Gebot und Gerechtigkeit und damit an die Verantwortung der Regierenden und Regierten. Sie vertraut und gehorcht der Kraft des Wortes, durch das Gott alle Dinge trägt.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne der Staat über seinen besonderen Auftrag hinaus die einzige und totale Ordnung menschlichen Lebens werden und also auch die Bestimmung der Kirche erfüllen.
Wir verwerfen die falsche Lehre, als solle und könne sich die Kirche über ihren besonderen Auftrag hinaus staatliche Art, staatliche Aufgaben und staatliche Würde aneignen und damit selbst zu einem Organ des Staates werden.
Die Aufgabe der Kirche gegenüber dem Staat wird hier nicht als Provokation, sondern als Erinnerung beschrieben. Allerdings kann eine Erinnerung auch provokativ im guten Sinne des Wortes sein: Sie fordert heraus, das eigene Handeln zu überdenken und an Gottes Reich, Gottes Gebot und Gottes Gerechtigkeit zu orientieren.
Indem die Kirche sich keine staatliche Würde anmaßt, sondern darauf beschränkt, den Staat an seine Verantwortung vor Gott zu erinnern, nimmt sie eine Position ein, die man als „machtlose Macht" bezeichnen kann: Sie ist machtlos, weil sie nicht mit staatlichen Mitteln ihre Sicht durchsetzt; und sie ist mächtig, weil sie auf Gott vertraut, der durch sein in der Kirche bezeugtes Wort in der Welt wirkt. Mit Assheuers Worten: In der "Position der souveränen Ohnmacht" haben die Weltreligionen „Gelegenheit, Kriegstreibern ins Gewissen zu reden und sie daran zu erinnern, dass selbst der schlimmste Feind ein Mensch ist."
Inwieweit dieses Ins-Gewissen-Reden erfolgreich sein kann, ist eine andere Frage. Das von Assheuer geforderte Erinnern ist nämlich kein Desiderat, sondern findet bereits statt. In Denkschriften und Stellungnahmen zu ethischen Fragen praktiziert die evangelische Kirche ein Stück "öffentliche Theologie". Diese wird allerdings weitgehend nicht wahrgenommen und bestimmt auch kaum das politische Handeln der Regierenden. Die Frage ist also nicht, ob die Kirchen sich zu politischen Fragen äußern sollten, sondern wie sie es tun sollten.
Es könnte sein, dass die Kirchen ihre ethische Legitimation bei vielen Menschen durch das von ihnen selbst gestiftete Unheil verloren haben. Entschuldigungen sind zwar ausgesprochen, aber der Stachel sitzt tief und immer neue Enthüllungen lassen die Wunden nicht heilen. Es könnte aber auch sein, dass die kirchlichen Äußerungen zu leise, zu freundlich und zu harmlos daherkommen und dass sie stattdessen lauter, deutlicher und provozierender sein sollten. Man sollte jedoch nicht glauben, dass sie dann im Diskurs der säkularen Gesellschaft mehr Gehör finden würden. Vielmehr würde die Gegenwehr umso stärker werden. Die Zeiten, in denen die Herrschenden vor dem Wort der Kirche erzitterten, sind vorbei – und solche Zeiten kann sich auch kein Liebhaber der Demokratie zurückwünschen.
Wünschenswert wäre allerdings, dass mehr Menschen bereit wären, die Glaubensgrundlagen der christlichen Ethik zu teilen. Doch gerade hieran mangelt es zusehends. Mit den Glaubensgrundlagen jedoch schwindet auch das Fundament christlicher Ethik. Denn die christliche Ethik gründet sich nicht auf säkulare Normen, sondern auf eine Gottesbeziehung, die auch göttliche Wegweisungen (Gebote und Verbote) impliziert, die ein für alle förderliches soziales Leben ermöglichen.
Damit ist die zentrale Frage der menschlichen Freiheit angesprochen, die auch im Assheuer-Artikel an verschiedenen Stellen aufgeworfen wird.
5. Der liberale Freiheitsbegriff
Der neuzeitliche Freiheitsbegriff geht zurück auf die Aufklärung, in der sich der Mensch von aller staatlichen und kirchlichen Bevormundung löste und darauf pochte, selbst entscheiden zu können, was Recht und Unrecht, gut und böse sei. Die liberale Demokratie mit Gewaltenteilung und permanenter Kontrolle der Regierenden ist Ausfluss dieses Gedankenguts. Willkürliche Übergriffe des Staates auf die Staatsbürger sind durch den Staat bindende unabhängige Rechtsprechung und zyklisch wiederholte Wahlen begrenzt.
Zentrum des liberalen Menschenbildes ist das Individuum mit seiner Freiheit, selbstbestimmt und sich selbst verwirklichend zu leben. Eine Grenze findet diese individuelle Freiheit in der Freiheit anderer, die nicht verletzt werden darf. Innerhalb dieses Rahmens entscheidet das Individuum selbst, an welchen Normen es sein Handeln orientiert. Staatliche Vorgaben sollen so gering wie möglich gehalten werden, weil dem freien Individuum zugetraut wird, selbstverantwortlich zu Verhaltensweisen zu kommen, die für das Leben aller förderlich sind. Ein heute oft genannter Aspekt dieses Menschenbildes ist der freie Markt, der sich nach liberaler Auffassung selbst reguliert und zum Gemeinwohl aller beiträgt.
Darin zeichnet sich bereits der bleibende Grundkonflikt liberalen Denkens ab. Denn es muss immer neu austariert werden, wo die individuelle Freiheit des einen endet und die des anderen beginnt. Idealtypisch lassen sich zwei Strömungen des Liberalismus unterscheiden: Ein mehr die individuelle Selbstbestimmung betonender Liberalismus und ein auch die gesellschaftlichen Zusammenhänge einbeziehender Sozialliberalismus.
Klassisch hat der französische Staatstheoretiker Alexis de Tocqueville (gest. 1859) die Gefahren eines radikal individualistischen Freiheitsverständnisses aufgezeigt: Wenn Freiheit ausschließlich als Selbstbezogenheit von Individuen bestimmt wird, die auf ihr eigenes Wohl bedacht sind, degeneriert die Gesellschaft zu einer anonymen Masse bindungsloser Individuen, die nur um sich selbst kreisen [1].
Bei Assheuer klingt das pointiert so: "Diese Art Freiheit ist sich selbst das Unbedingte, zynisch ausgedrückt: Sie ist auch frei genug, andere auszubeuten und die Erde zu ruinieren." Anhänger des Liberalismus würden diese Konsequenz zwar vehement bestreiten. Der Nord-Süd-Konflikt, beispielhaft virulent in der ungleichen Verteilung der Impfstoffe, der globale Klimawandel oder die fortschreitenden ungleichen Vermögensverhältnisse lassen allerdings die Frage nicht verstummen, ob nicht etwas dran sein könnte an der zerstörerischen Potenz eines relativ absolut gesetzten liberalen Denkens und Handelns.
Assheuer fürchtet, die Moderne könnte ohne Religion "frei und grenzenlos" agieren und "alle normativen Hemmungen ablegen." Und er regt an, die Weltreligionen sollten "eine Art Freiheit ins Spiel bringen, die sich an ein Unbedingtes bindet – und trotzdem frei bleibt."
Hier wird es spannend. Ist es nicht ein eklatanter Widerspruch, Freiheit mit Bindung zusammenzudenken? War es nicht das innerste Anliegen des Liberalismus, jede Bindung des Individuums ein für allemal zu beseitigen? Wie sollte beides, Freiheit und Bindung, durch Religion miteinander vermittelt werden können?
6. Der christliche Freiheitsbegriff
Dem christlichen Menschenbild zufolge existiert der Mensch immer schon in Bindungen. Er ist nicht von Natur aus frei, auch dann nicht, wenn er sich frei fühlt. Der Mensch kommt auf die Welt mit genetischen Prädispositionen. Er ist psychisch eingebunden in die Beziehungen zur Mutter, zum Vater und zur weiteren Familie. Er wird sozial geprägt durch die Gesellschaft, in der er lebt. Er hat seine ihm eigene Geschichte, die ihn sein Leben lang prägt. Es ist daher eine Illusion anzunehmen, der Mensch sei eine tabula rasa (lateinisch: "abgeschabte Tafel"), ein unbeschriebenes Blatt. Er bringt immer schon etwas mit an lebensförderlichen und lebensfeindlichen Prägungen.
Zu seinen lebensfeindlichen Prägungen gehört es, dass der Mensch sich selbst und anderen die Hölle auf Erden bereiten kann. Sich und anderen die Hölle bereiten zu können, ist kein Kennzeichen von Freiheit, sondern von höchster Unfreiheit. Denn es wäre absurd, wenn der Mensch sich aus freiem Willen dazu entscheiden würde, sich selbst und seine Lebensgrundlagen, zu denen auch der Mitmensch gehört, zu zerstören. Dass genau dies dennoch geschieht, spricht nicht für einen freien Willen des Menschen. Stark beschrieben hat das die katholische Theologin Veronika Hoffmann:
Schon innerweltlich werden wir doch annehmen, dass ein Mensch, der sich und alles, was ihm lieb und teuer ist, aufs Grausamste zerstören will, „nicht bei Verstand" ist. Und wenn wir ihm gut wollen, werden wir ihn deshalb nicht mit Hinweis auf seine Freiheit gewähren lassen, sondern wir werden gerade bezweifeln, dass er eine solche Freiheit besitzt, und auch gegen seinen – gefangenen, geblendeten, zutiefst unfreien – Willen einschreiten. [2]
Der menschliche Wille ist demnach keine von allen Einflüssen losgelöste, "neutrale" Größe, sondern er unterliegt diversen auf ihn einwirkenden Kräften. Dazu gehört auch, dass der Mensch von Natur aus auf Selbsterhaltung und Selbststeigerung angelegt ist und diese oft auf Kosten seiner Mitkreaturen vollzieht.
Auch der Liberalismus kann sich der menschlichen Bindungen nicht entziehen. Das, was der Liberalismus als Freiheit beschreibt, ist seine Bindung an das eigene Ich, an das selbstbestimmte Individuum, an das sich erhaltende, steigernde und verwirklichende Selbst. Die Auffassung von einem in Schuld verstrickten, der „Macht der Sünde" unterliegenden Menschen passt nicht in das liberale Menschenbild, wonach der Mensch, der aus eigener Verantwortung heraus handelt, in freier Entscheidung das Gute tun kann und in der Regel auch tun wird.
Dem entgegen steht die christliche Auffassung, dass der Mensch, um frei zu sein, zuerst einmal von den Verstrickungen befreit werden muss, die ihn dazu treiben, zerstörerisch zu wirken. Die Frage ist, wodurch diese Befreiung geschehen kann.
Der christliche Glaube besteht in der vertrauenden Gewissheit, dass der Mensch von Gott sein Leben erhalten hat und dass Gott ihm dieses Leben so lange bewahrt, wie er es bei sich beschlossen hat. Und auch wenn sein irdisches Leben endet, setzt der Glaube darauf, dass Gott ihm ein neues, "himmlisches" Leben gewähren wird. Das impliziert zwar keine Garantie, aber doch eine gewisse Sorglosigkeit, dass Gott dem glaubenden Menschen, so er will, alles zum Leben Notwendige zukommen lassen wird.
Dieses Vertrauen gewährt dem glaubenden Menschen eine Distanz zum Kampf um das Leben, das ein Kampf aller gegen alle ist. Er lebt ja in der Gewissheit, dass sein Leben bei Gott in guten Händen ist: "Meine Zeit steht in deinen Händen" (Ps 31,16). Der Mensch muss sich also, solange und insofern er im Vertrauen zu Gott lebt, nicht am allgemeinen Lebenskampf beteiligen: Er muss nicht auf Kosten anderer leben, muss nicht sich selbst absolut setzen, muss seine eigenen Interessen nicht über alles andere stellen. Dass auch Glaubende ständig der Gefahr ausgesetzt sind, dem nicht gerecht zu werden, und dass sie dieser Gefahr auch erliegen, gehört zum Grundwissen des Christentums: Das Böse ist tief im menschlichen Leben verankert.
Deutlich ist aber, und darum ging es hier vor allem, dass kein Widerspruch zwischen Freiheit und Bindung besteht. Im Gegenteil: Gerade in der Bindung an Gott und in der Gewissheit seiner liebevollen Fürsorge entsteht Freiheit. Der Mensch, der sich von Gott unendlich geliebt und mit allem Notwendigen ausgestattet weiß, kann sich der Mitkreatur in Liebe zuwenden, anstatt sie als Konkurrenten um seinen Anteil am großen Kuchen zu sehen. In der Bindung an Gott und in der Zuwendung zur Mitkreatur verwirklicht er sich selbst als geliebtes und liebendes Geschöpf Gottes. Es ist die Macht der Liebe und die Bindung an sie, die uns frei macht.
7. Die Herausforderung der aktuellen Situation
Die Folgen einer Welt ohne Religion hat Thomas Assheuer beschrieben, wie oben in Abschnitt 3 beschrieben. Diese Folgen sind allerdings keine Zukunftsmusik, sondern die gegenwärtige Begleitmusik zum stillen Sterben des christlichen Glaubens in der westlichen Welt. Wie ist dem zu begegnen?
Zunächst ist festzustellen, dass die vergangene und gegenwärtige Erscheinungsform der Kirchen keinesfalls unschuldig an deren Niedergang ist. Die Kirchen haben sich viel zu oft nicht an die Macht der Liebe gebunden und in der Folge auch nicht die davon ausgehende Freiheit zur Liebe gelebt. Sie haben sich vielmehr in die Unfreiheit des Machtgewinns und -erhalts, des Reichtums, der gewaltsamen "Missionierung" und der schamlosen Ausnutzung des Mitmenschen für eigene Interessen begeben. Die Gefahr, diesen Götzen zu dienen, besteht bis heute. Nie werden Christinnen und Christen, nie werden die Kirchen gänzlich frei davon sein, die ihnen geschenkte Freiheit nicht zu realisieren. Diese Erkenntnis der eigenen Fehlbarkeit gehört zum Grundbestand christlichen Denkens und sollte nicht geleugnet werden.
Die Verstrickung der Christenheit in Gewalt und Unrecht scheint mir weitaus schwerer zu wiegen als der relativ harmlose Einwand, "Religion sei nichts anderes als die letzte Bastion des Irrationalen, ein Hirngespinst, das der progressive Weltgeist längst hätte zermalmen müssen" und "der Glaube an die Heiligkeit des Lebens sei ein metaphysischer Taschenspielertrick", wie Assheuer formuliert. Seit Immanuel Kant sollte klar sein, dass in Fragen der Metaphysik unsere ratio weder pro noch contra Hirngespinst zu entscheiden vermag und sich deshalb eines Urteils enthalten muss.
Gewichtiger ist die Befürchtung Assheuers, infolge der Ablehnung des religiösen Gedankens der "Heiligkeit des Lebens" könnte die Politik bei der nächsten Pandemie fordern, dass "Alte, Schwache und andere Minderleister für das Funktionieren der Wirtschaft ein 'freiwilliges' Opfer bringen müssten, denn sterben müssen wir ja alle." Die Sorge ist nicht von der Hand zu weisen, hat doch Noch-Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble schon im April 2020 gemeint, nicht alles habe vor dem Schutz des Lebens zurückzutreten; die Würde des Menschen schließe ja nicht aus, dass wir sterben müssen (siehe diesen Artikel).
Die Corona-Politik der Bundesrepublik Deutschland wirft tatsächlich die Vermutung auf, die staatliche Pflicht, das Recht auf Leben nach Artikel 2 Absatz 2 des Grundgesetzes zu schützen, sei anderen Werten zeitweise untergeordnet worden. Anders ist es kaum zu erklären, dass Spitzenpolitiker und -politikerinnen, wie gerade jetzt wieder deutlich wird, mit die Pandemie eindämmenden Maßnahmen erst dann aufwarten, wenn die Pandemiewelle bereits über uns zusammenschlägt – allen rechtzeitigen Vorwarnungen von wissenschaftlicher Seite zum Trotz. Als Motive für dieses politische "Krisenmanagement", das diesen Namen eigentlich nicht verdient, kommen in Betracht: Vorrang der Wirtschaft vor dem Menschenleben, Blick auf bevorstehende Wahlen, der mangelnde Wille, es sich mit einer relativ lauten Minderheit des Wahlvolks zu verderben und schließlich eine Bevorzugung der Freiheit der Lebenden vor der Freiheit, leben zu dürfen. Der Tod von Menschen wird dann um dieser Beweggründe willen in Kauf genommen.
Hier wird erneut deutlich, dass menschliche Entscheidungen nicht durch "neutrales" und wohlmeinendes Abwägen von Vor- und Nachteilen getroffen werden, sondern vielfältigen Bindungen unterliegen, als da beispielsweise sein können: Eigen- und Fremdinteressen, Machtgewinn und -erhalt, Angst vor Auseinandersetzungen, ideologische Verblendung. Das alles sind Bindungen an Bedingtes. Insofern ist Assheuers Forderung berechtigt, die Weltreligionen sollten "eine Art Freiheit ins Spiel bringen, die sich an ein Unbedingtes bindet – und trotzdem frei bleibt." Man könnte präzisieren: Es geht um eine Art Freiheit, die sich an Unbedingtes bindet – und gerade darin frei ist.
Der christliche Glaube gewährt, wie oben beschrieben, solche Freiheit. Die Kirchen sollten die Grundlagen dieser Freiheit, die in der Bindung an den befreienden Gott bestehen, laut und deutlich in der säkularen Gesellschaft bezeugen – verbunden mit einer schonungslosen Analyse ihres eigenen Versagens. Sie sollten darüber hinaus, wie es der erste Satz der Präambel des Grundgesetzes festhält, "das Deutsche Volk" daran erinnern, dass es sein Handeln "im Bewusstsein seiner Verantwortung vor Gott und den Menschen" zu vollziehen hat. Zu dieser Erinnerung gehört auch der Hinweis auf die Befreiungstat Gottes, die der Grund aller christlichen Ethik ist. Ohne diese Befreiung hängt die Ethik in der Luft – oder genauer gesagt: liegt sie in Ketten, die den Angeketteten nicht einmal bewusst sein müssen. Eine Menschheit aber, die nicht auf Freiheit, sondern auf Unfreiheit beruht, kommt schwerlich daran vorbei, sich selbst die Hölle auf Erden zu bereiten.
[1] Vgl. Friedrich Wilhelm Graf: Liberalismus. I. Geschichtlich. 2. Nordamerika. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 5. Mohr Siebeck Tübingen, 4. Aufl. 2002. Sp. 317.
[2] Veronika Hoffmann: Skizzen zu einer Theologie der Gabe. Rechtfertigung – Opfer – Eucharistie – Gottes- und Nächstenliebe. Verlag Herder, Freiburg im Breisgau 2013. S. 342.
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eigentlich ist die Beantwortung der Frage, was nach dem Glauben kommt, doch gar nicht so schwer. Es gibt nur zwei große Möglichkeiten: ein anderer Glaube oder Nihilismus. Nihilismus hat den Nachteil, dass er nur im Paket mit einer gewissen Depressivität zu haben ist, die verschiedenen Glaubensformen haben verschiedene konkrete Nachteile.
Der Glaube an den technischen Fortschritt scheitert an der Begrenztheit der Ressourcen, dem Angewiesensein des Menschen auf die Erde und der Einsicht, dass der Mensch sterblich ist und vielleicht sogar, dass es auch gut ist, dass er sterblich ist. Solange es einem halbwegs gut geht, kann man damit leben, aber wenn man irgendwo oder irgendwann auf der schlechten Seite landet, sind Verzweiflung und Depression nicht weit.
Als verwandte Form ist der Glaube an die Selbstheilungskräfte des Marktes schon mehrfach erwiesenermaßen gescheitert, an der sozialen Frage im 19. Jahrhundert und an der Umweltfrage im 20. Das nächste Fortschrittsmodell namens Sozialismus ist ebenfalls gescheitert, weil die Schaffung des neuen Menschen zu lange auf sich warten lassen hat.
Diese modernen Ansätze haben trotzdem alle ihren begrenzten Wert. Ältere Glaubensversuche sind aber auch zu recht noch im Rennen. Man kann das aber heute nicht mehr auf das Christentum und innerhalb des Christentums nicht auf Kirche(n) beschränken.
Das Judentum hat seine selbstgesetzte Begrenzung auf ein Volk. Das Christentum war da offener, hat aber anscheinend zu hoch gepokert. Die Wiederkunft Christi ist nicht passiert. Statt dessen kamen Kirchen und Theologien mit vielen Vor- und Nachteilen. Der Islam bietet meines Wissens ein ähnliches Paradiesversprechen wie das Christentum, mit Mohammed als dem ultimativen Propheten und einer vieler ausgeprägteren politischen Dimension. Vordergründig sieht das erfolgreicher aus, kann sich aber auch in der Moderne als Nachteil erweisen.
Asiatische Religionen mit ihren oft zyklischen Weltbildern und null oder vielen Göttern empfinde ich als schwer zugänglich wenngleich faszinierend für westliche Menschen.
In diesem Angebot finde ich es ausgesprochen schwer, eine Jacke zu finden, die mir passt. Ich habe meine Suche irgendwann bewusst auf das christliche Regal beschränkt, aber da ist so vieles voaufklärerisch miefig, mit Blutflecken bedeckt oder von Leuten getragen worden, mit denen ich nichts zu tun haben will, dass ich eine gewisse Distanz behalte.
Es tut mir in gewisser Weise leid, dass die Kirche heute so viel von dem ausbaden muss, was in der Vergangenheit falsch gelaufen ist, ich sehe aber auch, dass sie erst noch sehr viel kleiner werden muss, bevor sie eine Chance hat, aus dem Gefängnis von Selbstbezüglichkeit und organisatorischer Selbsterhaltung herauszufinden.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine umfassende Analyse, der ich zustimme. Das Kleiner-Werden der Kirchen (in Europa, nicht in Afrika!) sehe ich ebenfalls als Chance. Der größte Mangel an Überzeugungskraft der Kirchen besteht wohl darin, dass in der Vergangenheit so viel falsch gelaufen ist und offensichtlich ja bis heute viel falsch läuft. Eine Kirche, die vor allem durch Missbrauchsskandale, schwerfällige Bürokratie und Jahrhunderte alte Traditionen und Begrifflichkeiten auffällt, ansonsten aber ihr Fähnchen nach dem gerade wehenden politischen und gesellschaftlichen Wind hängt und Anstößen zur "Mission" nur mit einem Naserümpfen begegnen kann, erledigt sich selbst. Aber wie gesagt: Darin liegt auch die Chance zum Umdenken, das irgendwann unumgänglich sein wird.
Viele Grüße
Klaus