Was ist Erbsünde?
Klaus Straßburg | 17/12/2021
Es gibt christliche Ausdrücke, die den Glauben erschweren statt ihn zu erleichtern. Christliches Reden von Gott und vom Menschen sollte aber zum Glauben einladen und keine Glaubenshindernisse aufbauen. Darum ist die Sprache, in der wir unseren Glauben formulieren, immer wieder zu überdenken und auch in Frage zu stellen.
Der Begriff Erbsünde ist ein Ausdruck, der heute kaum noch auf Verständnis trifft. Die meisten Menschen denken bei diesem Wort wahrscheinlich daran, dass sich Sünde durch Vererbung von einem auf den anderen Menschen überträgt. Darum seien angeblich alle Menschen von Geburt an Sünder, auch wenn sie sich noch gar nicht frei zum Sündigen entscheiden können. Eine solche Vorstellung ist vom aufgeklärten Menschen, der sich auf seine Entscheidungsfreiheit beruft, kaum zu akzeptieren.
1. Kurze Begriffsgeschichte
Tatsächlich betont der Begriff Erbsünde, dass der Mensch schon vor aller persönlichen Aktivität in seinem Wesen sündig ist. Der lateinische Fachbegriff ist peccatum originale, das heißt „ursprüngliche Sünde" oder kurz „Ursünde". Dieser Ausdruck soll darauf hinweisen, dass der Ursprung der Sünde nicht bei jedem einzelnen Menschen, sondern schon bei Adam und Eva liege und von ihnen auf alle Menschen übergegangen sei (Röm 5,12).
Der „Kirchenvater" Augustin (gest. 430) hat die Vorstellung gehabt, dass die Sünde mittels menschlicher Fortpflanzung übertragen wird. Er verstand zwar den Geschlechtsakt nicht als Sünde, wohl aber als das Mittel, durch das die Sünde von einem Menschen auf den anderen vererbt wird. In der mittelalterlichen Theologie wurde diese Vorstellung weitgehend übernommen.
Auch in der Reformation wurde an der Vorstellung Augustins festgehalten. Man nahm an, der Mensch sei in seinem Wesen und von Geburt an sündig. Außerdem wurde betont, dass der Mensch nichts zu seinem Heil beitragen könne, sondern ganz auf Gottes Gnade angewiesen sei.
Seit der Aufklärung wurde die Lehre von der Erbsünde in der evangelischen Theologie kritisiert und teilweise auch aufgegeben. Im 20. Jahrhundert haben berühmte Theologen wie Karl Barth, Paul Tillich und Gerhard Ebeling den Begriff Erbsünde zwar abgelehnt, die gemeinte Sache aber neu zu verstehen gesucht.
Dabei wurde auch darauf hingewiesen, dass ein Erbe, das ich nicht ausschlagen kann, im Grunde nicht meine eigene Tat sein kann. Es ist vielmehr ein Geschick, für das ich nicht verantwortlich bin. Wenn man also von Erbsünde spricht und darunter so etwas wie eine Zwangserbschaft versteht, dann ist eine Verantwortlichkeit des Menschen für seine Sünde nicht mehr vorstellbar. Denn was einem aufgezwungen wurde, dafür ist man nicht verantwortlich.
2. Genetische Prädispositionen
Dennoch kommen wir alle mit so etwas wie einem Erbe auf die Welt, das wir nicht ausschlagen können. Wir bringen nämlich eine genetische Prägung mit. Unsere Eltern vererben uns die Rahmenbedingungen unserer Persönlichkeitsmerkmale. Dies wurde an eineiigen Zwillingen nachgewiesen, die getrennt voneinander aufgewachsen sind, aber dennoch ähnliche Persönlichkeitsmerkmale und Vorlieben entwickelten [1].
Daraus kann man schließen, dass wir nicht als tabula rasa, als leere Tafel oder unbeschriebenes Blatt, auf die Welt kommen. Wir tragen vielmehr schon bei unserer Geburt genetische Prägungen in uns, denen wir uns nicht entziehen können. Wie stark diese Veranlagungen sich später ausprägen, hängt allerdings von den Einflüssen ab, denen wir im Leben ausgesetzt sind.
Nun wird wohl niemand behaupten, dass er nur positive Prägungen von seinen Eltern mitbekommen hat. Es gibt eben auch viele negative Veranlagungen, die wir mitbringen, zum Beispiel cholerische Gefühlsreaktionen, einen Hang zur Aggressivität oder eine Veranlagung zum Suchtverhalten.
Insofern ist die These Augustins, Sünde werde mittels menschlicher Fortpflanzung übertragen, nicht ganz falsch. Es ist zwar nicht die böse Tat selbst, die dem Neugeborenen mitgegeben ist, aber immerhin der Hang zu ihr. Dieser ist zwar bei den Menschen unterschiedlich ausgeprägt, aber freisprechen kann sich von ihm niemand.
3. Psychische Wechselwirkungen
Nach unserer Geburt leben wir nicht isoliert, sondern eng verbunden mit unseren Eltern und der übrigen Familie. Dadurch sind wir stark deren Einflüssen ausgesetzt. Auch hier mischen sich gute mit weniger guten oder sogar schlechten Einflüssen. Wir wissen, dass gerade die Einflüsse, denen wir in den ersten beiden Lebensjahren ausgesetzt sind, entscheidende Weichenstellungen für unsere spätere Entwicklung, unser Fühlen, Denken und Handeln, darstellen.
Zeitlebens bleibt es so, dass wir von Menschen, mit denen wir eng verbunden sind, beeinflusst werden. Umgekehrt ist es aber auch so, dass wir diese Menschen beeinflussen. Die Psychologie hat gezeigt, dass in längerfristigen intensiven Beziehungen die Personen wechselseitig aufeinander einwirken: Das Sein von Person A ist durch das Sein von Person B bedingt und umgekehrt. Darum ist B für das Sein von A mitverantwortlich, aber umgekehrt ist auch das Sein von B durch das von A hervorgerufen.
Konkret bedeutet dies zum Beispiel: B trägt Mitschuld an den lebensfeindlichen, zerstörerischen Gefühlen, Gedanken und Taten von A. A wiederum muss sich fragen lassen, was er dazu beigetragen hat, dass B ihn in solches Sein getrieben hat. Unser individualistisches Denken klammert solche systemischen Prozesse weitgehend aus.
Deutlich wird uns daran die Verstrickung in zerstörerische Strukturen, deren wir uns gar nicht entziehen können. Und wir ahnen etwas davon, was die Bibel meint, wenn sie beispielsweise von Mächten und Gewalten spricht, derer wir nicht Herr werden (Eph 6,12). Wir leben in einer Wirklichkeit, die von Sünde bestimmt ist und sich unser bemächtigt, und wir sind zugleich mitverantwortlich für diese Wirklichkeit.
Erbsünde ist hier nichts, was uns genetisch mitgegeben ist, sondern etwas, das wir während unseres Lebens als Erbe der wichtigen Beziehungen, in denen wir leben, davontragen.
4. Kulturelle Vererbung
Die Bibel sieht den Menschen nicht so sehr als Individuum, sondern vor allem als Teil einer Gemeinschaft. Ganz Israel war für die Einhaltung der Weisungen Gottes verantwortlich, und wenn ein Israelit diese missachtete, fiel das auf das ganze Volk zurück. Ein Privatverhältnis des einzelnen Menschen zu Gott war damals unvorstellbar.
Man wusste auch sehr genau, dass der einzelne Mensch und die Gemeinschaft einander gegenseitig beeinflussen. Heute beschäftigt sich die Soziologie mit den gesellschaftlichen Gruppen und ihren Wechselbeziehungen.
Soziologisch lässt sich sagen, dass eine Wechselbeziehung besteht zwischen dem Fühlen, Denken und Handeln eines einzelnen Menschen und den sozialen Systemen, in denen der Mensch lebt. Jeder Mensch nimmt Einfluss auf soziale Gruppen. Andererseits tritt uns jede soziale Gruppe mit Erwartungen entgegen. Eine soziale Gruppe besteht dabei nicht nur aus einzelnen handelnden Menschen, sondern sie handelt auch als ganze Gruppe. So entsteht eine Wechselbeziehung zwischen dem einzelnen Menschen und der Gemeinschaft, in der er lebt.
Auch hier gilt: Das lebensfeindliche Handeln Einzelner beeinflusst das soziale System in der Weise, dass dieses Erwartungen an die Gesellschaft ausbildet, welche die einzelnen Menschen zu einem lebensfeindlichen Handeln drängen oder darin bestärken. Theologisch gesprochen: Der einzelne sündige Mensch unterliegt einerseits der ihn zur Sünde drängenden Macht der Gemeinschaft, ist aber andererseits für diese Macht selbst mitverantwortlich.
Der amerikanische Psychologe Michael Tomasello hat diesbezüglich von kultureller Vererbung gesprochen [2]. Kinder wachsen in eine Welt hinein, in der sie an die Errungenschaften der vorangegangenen Generationen anknüpfen können. Wir „erben" also sozusagen eine Kultur, die sich in unseren Gesetzen, Institutionen, Verkehrsregeln usw. ausdrückt, aber auch in unseren Gewohnheiten, Wahrnehmungen und Deutungen der Wirklichkeit. Diese Kultur nehmen wir in der Regel als etwas Selbstverständliches wahr, als das Normale, das immer schon da war und uns sinnvoll und notwendig erscheint. Darum ist es schwer, wenn auch nicht ausgeschlossen, dass wir uns vorstellen, unsere Kultur habe eine falsche Richtung eingeschlagen. Wir handeln einfach dieser kulturellen Gegebenheit entsprechend, ohne unsere Tat bewusst zu reflektieren.
Man kann sogar sagen: Das allerwenigste von dem, was wir tun, ist eine bewusste Entscheidung. Das meiste von dem, was wir tun, übernehmen wir einfach, ohne darüber nachzudenken. Das hängt damit zusammen, dass sich die organische Entwicklung unseres Gehirns innerhalb der sozialen Einflüsse vollzieht, die auf uns wirken. Dies hat auch einen entscheidenden Vorteil: Der Mensch kann sich hervorragend an verschiedene und sich verändernde Umweltbedingungen anpassen.
Die Folge davon ist jedoch: Wir wollen in aller Regel so weiterleben, wie wir es kennengelernt haben und gewohnt sind. Wir verteidigen dieses Leben sogar nach Kräften – auch dann, wenn es in den Abgrund führt.
Das ist keine theologische Aussage, sondern eine soziologische. Der Philosoph und Theologe Ivan Illich hat es prägnant so ausgedrückt: „Wenn Verhalten, das zum Wahnsinn führt, in einer Gesellschaft als normal gilt, lernen die Menschen um das Recht zu kämpfen, sich daran zu beteiligen" [3].
5. Fazit
Mich erinnert der zitierte Satz an den gegenwärtigen Kampf darum, den Klimawandel, der nicht mehr aufzuhalten ist, wenigstens einzudämmen. In der Theorie sind wohl die meisten Menschen in Deutschland dafür, entsprechende Maßnahmen zu ergreifen. Wenn es aber darum geht, dass sie selbst von diesen Maßnahmen betroffen sind, sieht es anders aus. Dann will man doch sein bisheriges Leben mit bequemer Autonutzung, uneingeschränktem Konsum, Flug- und Kreuzschiffurlaub sowie einem von Windrädern freien Blick in die Landschaft unbedingt fortsetzen und ist auch bereit, dafür zu kämpfen. Das „normale" Leben (das Leben, wie es bisher war) soll weitergehen, auch wenn es zum Wahnsinn führt.
Mir wird daran deutlich, dass wir, wenn wir die gute Tat suchen, nicht mit ein bisschen Anstrengung und gutem Willen ans Ziel gelangen. Es sind vielmehr wirklich „Mächte und Gewalten", mit denen wir kämpfen. Ich muss mir diese Mächte und Gewalten nicht als „böse Geister" (Dämonen) vorstellen, sondern kann sie durchaus als Kräfte deuten, die in den Prozessen und Strukturen der Welt gründen.
Gegen diese zerstörerischen Prozesse und Strukturen, denen wir unterliegen, hilft aber nicht einfach ein guter Wille. Es braucht dazu, folgt man der Lutherübersetzung von Eph 6,10-17, der „Waffenrüstung Gottes", die in Wahrheit, Gerechtigkeit und Glaube sowie Geist und Wort Gottes besteht. Nur im echten Hören auf Gottes Wort, im Bitten um seine Kraft, im Ringen um die Wahrheit und im Festhalten am Glauben kann das zerstörerische Erbe, das wir alle mit uns herumtragen, besiegt werden.
Auf den Begriff Erbsünde sind wir dabei nicht angewiesen. Er ist so vorbelastet und missverständlich, dass man lieber auf ihn verzichten sollte. Vielleicht sollten wir stattdessen von zerstörerischen Verstrickungen sprechen oder von Strukturen des Bösen, denen wir unterliegen.
Dem aufgeklärten, auf seine Autonomie bedachten Menschen mag es nun ein Dorn im Auge sein, dass eine Theologie, die davon ausgeht, dass wir unvermeidlich mit einem zerstörerischen Erbe behaftet sind, der menschlichen Freiheit keinen Raum mehr lasse. Dem entgegne ich, dass Psychologie, Soziologie und Philosophie schon lange darum wissen, dass wir bestenfalls von einer relativen, also begrenzten Freiheit des Menschen ausgehen können. Berühmt ist Sigmund Freuds Formulierung, dass das Ich „nicht einmal Herr ist im eigenen Haus" [4].
Und schon Paulus wusste: „Ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. [...] So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich." Das bedeutet für Paulus keine Resignation vor dem Bösen. Denn Erlösung, also Befreiung, gibt es „durch Jesus Christus, unsern Herrn" (Röm 7,15b.17.19.25).
Es geht also nicht um einen Zwang zum Sündigen. Wir sind zwar verstrickt in Strukturen, die Macht über uns ausüben. Doch wir können von dieser Macht befreit werden durch eine diesen Strukturen überlegene Macht. Wir müssen diese Macht Gottes, die Kraft seines Geistes, nur wollen, und das heißt: um sie bitten und es dann auch zulassen, dass sie in uns mächtig wird.
Anmerkungen:
[1] Siehe hierzu: Kerstin Eva Zeter: Vererbung.
[2] Siehe zum Folgenden Welzer: Nachruf auf mich selbst, S. 13-15.81.137.
[3] Zitiert nach Welzer: Nachruf auf mich selbst, S. 86; dort zitiert nach Marianne Gronemeyer: Die Grenze. Was uns verbindet, indem es trennt. oekom, München 2018, S. 117.
[4] Zum philosophischen Verständnis der „relativen Freiheit" siehe Rafael Ferber: Willensfreiheit, S. 193. Das Freud-Zitat ist entnommen aus Wolfgang Schoberth: Einführung in die theologische Anthropologie, S. 141.
Literatur:
- Barth, Karl: Die kirchliche Dogmatik. Band IV/1: Die Lehre von der Versöhnung. Theologischer Verlag Zürich, 5. Aufl. 1986. S. 556-573.
- Dziewas, Ralf: Von der „Sünde der Welt" zur „Sündhaftigkeit sozialer Systeme". Sünde als Kategorie der Gegenwartsanalyse aus freikirchlich-baptistischer Perspektive. In: Rochus Leonhardt (Hg.): Die Aktualität der Sünde. Ein umstrittenes Thema der Theologie in interkonfessioneller Perspektive. Beiheft zur Ökumenischen Rundschau Nr. 86. Frankfurt/Main 2010. S. 95-119.
- Ferber, Rafael: Willensfreiheit. In: Ders.: Philosophische Grundbegriffe Band 2. Verlag C.H. Beck, München 2003. S. 156-196.
- Moeller, Michael Lukas: Die Wahrheit beginnt zu zweit. Das Paar im Gespräch. Hamburg, 26. Aufl. 2006.
- Saarinen, Risto: Art. Erbsünde. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Band II. Mohr Siebeck Tübingen, 4. Aufl. 1999. Sp. 1394-1397.
- Schoberth, Wolfgang: Einführung in die theologische Anthropologie. Wissenschaftliche Buchgesellschaft Darmstadt 2006.
- Welzer, Harald: Nachruf auf mich selbst. Die Kultur des Aufhörens. S.Fischer Verlag Frankfurt/Main 2021.
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danke für Deinen langen, lehrreichen Artikel. Was Erbsünde aus Deiner Sicht ist, erklärst Du sehr gut.
Als ich ihn las, kamen mir Begriffe wie Widerstand (Rebellion), Emanzipation, Fortschritt in den Sinn, als Gegensatz zum bequemen Hinnehmen bestehender Zustände, Konventionen und Doktrinen. Hierbei wurde viel gekämpft und gelitten, meist ohne Hoffnung auf göttliche Gnade und Hilfe.
Herzliche Grüße
Hans-Jürgen
ja, es gibt sozusagen "weltliche" Bewegungen, die tiefgreifende Veränderungen herbeiführen. Bei dem Stichwort "Emanzipation", das du nennst, fiel mir die 68er-Bewegung ein, die eine fundamentale kulturelle und auch politische Umwälzung bewirkt hat. Ein erstaunliches Ereignis, geht man davon aus, dass die herrschende Kultur uns als das Normale und Selbstverständliche erscheint. "Fortschritt" im positiven Sinn des Wortes gibt es immer wieder in verschiedenen Bereichen, natürlich in der Medizin, aber auch in der Politik. Ich denke an die "friedliche Revolution" in der DDR, die durch Michail Gorbatschow ermöglicht wurde. Als gegenwärtiges Phänomen einer positiven Bewegung, die eigentlich ohne Vorankündigung entstanden und auch schwer zu erklären ist, sehe ich die fridays-for-future-Demonstrationen der Jugend, die meiner Meinung nach auch eine politische Neuorientierung ermöglicht oder zumindest gefördert hat. Je nach politischer Einstellung kann man natürlich all diese Beispiele auch als negative Entwicklungen verstehen.
Ich jedenfalls danke Gott dafür, dass er positive Entwicklungen in der politischen Kultur und darüber hinaus möglich macht und auch durch Menschen, die nicht an ihn glauben, Positives bewirkt. Das biblische Beispiel für einen "Heiden", durch den Gott wirkte, ist der Perserkönig Kyros, der die Deportierten des Volkes Israel aus dem Exil entließ, so dass sie in ihr Land zurückkehren konnten (2Chr 36,22f; Esr 1,2f). Ohne Gottes Wirken durch solche Menschen sähe es viel dunkler in der Welt aus.
Viele Grüße
Klaus
vielen Dank für dein verlinktes, selbst geschriebenes und vertontes Lied sowie die Anmerkungen dazu. Du bist ja wirklich musisch begabt. Ich habe mich dann auch weitergeklickt zu dem Interview mit Wolf Biermann. Die Sätze, die du zitierst, passen gut in unsere Zeit, in der manche Menschen "die Freiheit aufs Spiel setzen, weil sie sie nicht mehr achten. Sie brauchen erstmal wieder was auf die Fresse! Sie brauchen wieder die Ketten. Sie brauchen die Leiden der Diktatur, damit sie sich nach der Freiheit sehnen." Man hat den Eindruck, dass der Biermann da ganz recht hat, wenn man an Demonstrierende heute denkt.
Interessant ist auch seine Antwort auf die Frage, was für ihn an die Stelle der Utopie getreten sei: "Die hoffnungslose Hoffnung auf die Vernunft des Menschen. Wir haben ja eben leider kein höheres Wesen." Es ist wohl so: Wenn man keinen Gott kennt und ehrlich ist, bleibt nur die hoffnungslose Hoffnung auf die Vernunft - welch traurige Perspektive!
Viele Grüße
Klaus
danke für diesen Artikel. Ich bin seit Langem der Ansicht, dass der Mensch genetisch sowohl eine Veranlagung zum Guten wie auch zum Bösen in sich trägt. Vieles, was wir heute unter böse einordnen, z. B. List, Heimtücke, Gewaltbereitschaft, hat den Urmenschen bei Jagd und Kampf geholfen, ebenso beim Wettbewerb um knappe Nahrungsressourcen, zu überleben und sich zu vermehren. Andererseits waren auch soziale Eigenschaften, Sprache, Wissen und Religion hilfreich, um in der Gruppe seine Überlebenschancen zu steigern. Dieses Erbe tragen wir in uns, und biologisch unterscheidet uns relativ wenig von den frühen Homo sapiens, allenfalls ist die Bandbreite suboptimaler erblicher Dispositionen, die durchgehen (z. B. mangelnde Sehschärfe) größer geworden. Ich bin selber Brillenträger und hätte es wohl als früher Jäger nicht weit gebracht.
Wenn die Bedingungen entsprechend sind, z. B. bei extremen Hungersnöten, wird das sog. Böse auch schnell wieder aktiviert. Wenn die ganze Gruppe oder auch Familie nicht überleben kann, treffen Menschen auch heute noch Entscheidungen, vor denen einem graut, wenn man sie aus der Distanz, mit vollem Bauch und hinter dem warmen Ofen betrachtet.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine wichtigen Gedanken, die mich zu einigen Präzisierungen anregen. Es ist wohl wirklich so, dass der Mensch prinzipiell die Möglichkeit hat, Gutes und Böses zu tun. Die Frage wäre dann aber, welche Seite dessen, was ihm prinzipiell möglich ist, der Mensch faktisch realisiert. Die Bibel entwirft in dieser Hinsicht kein positives oder neutrales, sondern ein recht negatives Menschenbild (z.B. Gen 8,21; Röm 3,9-18; aber auch der ganze Zusammenhang Gen 2-4.6-9.11). Ein Entkommen aus der von Beginn an herrschenden Gewaltspirale gibt es demnach nur in der Bindung an den Gott Israels - bis hin zu Jesus, der bewusst den Weg der Gewaltlosigkeit gegangen ist (Mt 26,52f). Insofern würde ich die Frage stellen, ob Heimtücke und Gewaltbereitschaft wirklich überlebenswichtig waren oder sind. Bezüglich der Jagd von Tieren, die Gewalt einschließt, wäre meine Frage, ob Menschen wirklich Fleisch essen müssen - eine Frage, die ja heute unter ganz anderen Bedingungen neu gestellt wird.
Ich sehe auch, dass das "Erbe" sozialer Eigenschaften wie Sprache, Wissen und Religion durchaus positiv zu bewerten und gar nicht wegzudenken ist aus der menschlichen Entwicklung. Aber ich würde auch hier die Ambivalenz dieser Eigenschaften betonen, die dazu führt, dass Menschen gerade mit Worten, mit ihrem Wissen und ihrer Religion unglaublichen Schaden angerichtet und zerstörerisch gewirkt haben und es immer noch tun. Zum Beispiel ist Wissen an sich nichts Negatives; Wissen wird aber offensichtlich vom Menschen immer wieder zu Gewalt und Zerstörung missbraucht (Atombombe, Klimawandel).
Wie du auch feststellst: Unter entsprechenden Bedingungen wird das Böse schnell vom Menschen aktiviert. Mir scheint, dass solche Bedingungen ständig gegeben sind oder vom Menschen als gegeben empfunden werden, weil sich Menschen natürlicherweise von verschiedenen Seiten bedroht fühlen; dass das Leben bedroht ist, gehört zur Existenweise in unserer Welt. Im Bedrohtsein aber reagiert der Mensch wohl intuitiv so, dass er die Bedrohung abzuwenden versucht, und sei es um den Preis, andere zu bedrohen. Man könnte noch ergänzen: Es bedarf gar keiner faktischen Bedrohungssituation, damit der Mensch lebensbedrohend wirkt. Das Angebot kurzfristiger Glücksgefühle (deren Nichtempfinden schon als Bedrohung des eigenen Lebens in seiner Fülle empfunden werden kann) reicht schon aus, um lebensbedrohend zu agieren, wie z.B. der Konsum auf Kosten der Produzenten im globalen Süden zeigt oder auch der gegenwärtige Überkonsum, der die kommenden Generationen ihrer Lebensmöglichkeiten beraubt.
Ich denke, diesem durch innere und äußere Einflüsse hervorgerufenem Agieren entkommen wir nur durch ein grundsätzlich neues Paradigma, eine fundamental andere Weltanschauung, die bereit ist, die Nichterfüllung eigener Sehnsüchte und Wünsche in Kauf zu nehmen um der Lebensmöglichkeiten des Nächsten willen. Der barmherzige Samariter wäre dafür ein Beispiel und natürlich Jesus selbst. Für einen solchen Verzicht aber scheint mir das Vertrauen, mit dem eigenen Leben und eigenen Wünschen bei Gott geborgen zu sein, eine hervorragende Voraussetzung zu sein. Paulus spricht geradezu von einer "neuen Kreatur" (2Kor 5,17, Gal 6,15). Billiger ist "das Gute" wohl nicht zu haben. Es scheint mir aber auch gar nicht oder nur in Extremfällen dem eigenen Glück entgegenzustehen, wie der Begriff "Verzicht" suggerieren mag. Das Glück aller und das Wissen um den eigenen Beitrag dazu steigert vielmehr das eigene Glücksempfinden.
Dieser von mir beschriebene Hang, immer wieder das Böse zu realisieren und nicht das Gute, gilt nach meiner Überzeugung übrigens für alle Menschen und ist deshalb keine moralische Überheblichkeit. Hier hat keiner dem anderen prinzipiell etwas voraus, es gibt nur graduelle Unterschiede. Siehe nochmals Röm 3,9.
Viele Grüße und einen schönen 4. Advent
Klaus
Tja, das Thema mit der Verantwortlichkeit gegenüber Sünden führt immer auch zur Erbsünde.
Es gibt Dinge für die wir verantwortlich sind und es gibt Dinge für die wir nicht verantwortlich sind, deren Folgen wir allerdings auch tragen müssen, weil das System und unsere Realität begrenzt wurde und es so möchte, dass uns die Tragweite bewusst wird damit sich die Liebe, Selbstlosigkeit, Güte und Gnade offenbart.
Jemand kann eine Vergewaltigung als Täter durchführen. Jemand kann eine Vergewaltigung als Mitwisser verschweigen. Jemand kann eine Vergewaltigung als Rächer rechtfertigen. Jemand kann eine Vergewaltigung als Verantwortungsloser ignorieren. Jemand kann eine Vergewaltigung als Opfer erfahren haben.
Und doch ist vielen Fällen eine Schuld, Teilschuld und Mitverantwortung für einander unausweichlich. Nur weil die Möglichkeit oder der Drang zur Vergewaltigung vorhanden ist, muss man dem allerdings nicht nachgeben und diesen nähren, fördern, usw. Schon die Entscheidung dagegen zu sein, zeigt, dass es die Erbsünde gibt, da sonst ein solcher Gedanke nicht existieren könnte.
Die Zurechnungsfrage und Verantwortungsfrage lautet: Kannte ich die Folgen? Kannte ich das Verbot? Kannte ich das Leid? Kannte ich ihr Wesen? Und schon wird man zum Erben eine wichtigen Information, einer Information mit er alles anfing.
vielen Dank für deine Ergänzungen zu dem, was wir als Erbe der Geschichte immer mitbringen und in welch unterschiedlicher Gestalt dieses Erbe ausgeprägt ist. Sehr wahr: Nicht nur der unmittelbare Täter trägt Verantwortung für das, was geschehen ist. Viele andere (vor und nach der Tat) sind auch in das Geschehen verstrickt.