Warum sollen Christen Gutes tun?
Die schwierige Antwort auf eine einfache Frage
Klaus Straßburg | 23/08/2023
Man kann ja mal fragen, warum Christen eigentlich Gutes tun sollen.
1. Die einfache Antwort
Die einfache Antwort auf diese Frage wäre: weil sie Gott gehorchen sollen. Dann täten Christen deshalb Gutes, weil Gott es befiehlt und weil Gottes Befehl natürlich Gehorsam zu leisten ist.
Dann ginge es beim Gutes-Tun eigentlich nur darum, einer höchsten Autorität Genüge zu tun. Man könnte von einer gesetzlichen Ethik sprechen. Das Geschöpf, dem man Gutes tut, käme in dieser Perspektive gar nicht vor.
Eine Variante dieser einfachen Antwort könnte noch sein: Christen sollen Gutes tun, um durch ihren Gehorsam in den Himmel zu kommen.
Diese Variante ist nicht nur gesetzlich, sondern sie ist schlichtweg falsch. Denn das Seelenheil der Menschen hängt nach evangelischem Verständnis gerade nicht davon ab, ob und wie viel Gutes sie vorzuweisen haben (Röm 3,23f; Eph 2,8f).
2. Dietrich Bonhoeffers Antwort
Viel komplexer ist die Antwort, die Dietrich Bonhoeffer auf die Frage, warum Christen Gutes tun sollen, gegeben hat.
Bonhoeffer hat in seinem Buch "Nachfolge" zwischen billiger und teurer Gnade unterschieden. Billige Gnade ist die Gnade, die für den begnadigten Menschen folgenlos ist. Bonhoeffer schreibt:
Billige Gnade heißt Gnade als Schleuderware, verschleuderte Vergebung, verschleuderter Trost, verschleudertes Sakrament; [...] Gnade ohne Preis, ohne Kosten. [...] Billige Gnade heißt Gnade als Lehre, als Prinzip, als System; heißt Sündenvergebung als allgemeine Wahrheit [...]. Billige Gnade ist Predigt der Vergebung ohne Buße [= Umkehr], ist Taufe ohne Gemeindezucht, ist Abendmahl ohne Bekenntnis der Sünden, ist Absolution ohne persönliche Beichte. Billige Gnade ist Gnade ohne Nachfolge, Gnade ohne Kreuz, Gnade ohne den lebendigen, menschgewordenen Jesus Christus.
Die billige Gnade also, die allen Menschen ohne Unterschied zugesagt, ihnen nachgeworfen wird, kostet diese Menschen nichts, fordert keine Umkehr von ihnen, ruft sie nicht in die Nachfolge, ruft sie nicht in ein Leben, das den Einsatz ihres eigenen Lebens von ihnen fordert.
Dieser billigen Gnade setzt Bonhoeffer die teure Gnade entgegen:
Teure Gnade ist der verborgene Schatz im Acker, um dessentwillen der Mensch hingeht und mit Freuden alles verkauft, was er hatte, die köstliche Perle, für deren Preis der Kaufmann alle seine Güter hingibt [Matth 13,44-46], die Königsherrschaft Christi, um derentwillen sich der Mensch das Auge ausreißt, das ihn ärgert [Matth 5,29], der Ruf Jesu Christi, auf den hin der Jünger seine Netze verlässt und nachfolgt [Matth 4,18-22]; teuer ist sie, weil sie dem Menschen das Leben kostet, Gnade ist sie, weil sie ihm so das Leben erst schenkt; teuer ist sie, weil sie die Sünde verdammt [Röm 8,3], Gnade, weil sie den Sünder rechtfertigt. Teuer ist die Gnade vor allem darum, weil sie Gott teuer gewesen ist, weil sie Gott das Leben seines Sohnes gekostet hat – "ihr seid teuer erkauft" [1Kor 6,20; 7,23] –, und weil uns nicht billig sein kann, was Gott teuer ist.
Die teure Gnade also hat Jesus das Leben gekostet und kann deshalb auch für uns nicht folgenlos sein. Teure Gnade führt zur Lebensveränderung, zur Lebenshingabe. Weil die teure Gnade dem Sünder ein Leben schenkt, das er nicht mehr verlieren kann, darum gibt er sein vergängliches Leben voller Freude hin zugunsten des Lebens der anderen Geschöpfe.
Die Lebenshingabe muss nicht immer gleich den Tod bedeuten. Sie bedeutet aber, sich selbst zurückzunehmen, selbstbezogene Interessen zurückzustellen, für das eigene Leben scheinbar Unerlässliches (etwas, was ich meine, unbedingt haben zu müssen) zu relativieren und gerade so ein erfülltes Leben zu führen.
Bonhoeffers Worte enthalten viel Wahrheit und gelten heute noch genauso wie vor 86 Jahren, als das Buch erstmalig erschien. Dennoch ist die Rede von der teuren Gnade missverständlich. Denn Gnade ist tatsächlich nicht nur billig, sondern umsonst (Jes 55,1; Röm 4,4f; 11,6). Sie ist nicht abhängig von unseren Taten. Sie gilt auch denen, die keinerlei gute Taten vorweisen können. Denn Gnade, die von guten Taten abhängt, wäre keine Gnade mehr.
Das wusste natürlich auch Dietrich Bonhoeffer. Er wollte nicht sagen, dass die Gnade von guten Taten abhängig ist, sondern dass sie nicht folgenlos bleiben kann. Aber seine Rede von der teuren Gnade kann im ersten Sinne missverstanden werden.
3. Die Antwort des Heidelberger Katechismus
Der reformierte Heidelberger Katechismus aus dem Jahr 1563 stellt wie Bonhoeffer den Zusammenhang zwischen Gottes Gnade und menschlichen guten Taten heraus. Er tut das durch die Gliederung des Katechismus, die wir uns deshalb kurz vor Augen führen müssen.
Der Katechismus beginnt mit einem kurzen Teil über das Elend des Menschen, das darin besteht, dass er Gottes Weisungen nicht vollständig befolgen kann. Der zweite Teil spricht dann unter der Überschrift "Von des Menschen Erlösung" von der Gnade Gottes. Und im dritten Teil werden dann unter der Überschrift "Von der Dankbarkeit" die Zehn Gebote behandelt.
Das ist ein wesentlicher Unterschied zu Martin Luthers Katechismen, die mit der Beschreibung der Zehn Gebote beginnen und erst danach das Glaubensbekenntnis mit den Sätzen über die Erlösung durch Jesus Christus behandeln.
Für Martin Luther bestand die wichtigste Funktion der Zehn Gebote darin, uns unsere Sünde vor Augen zu halten, so dass wir uns nach der Gnade Gottes ausstrecken. Für die reformierte Theologie besteht die wichtigste Funktion der Zehn Gebote darin, uns einen Maßstab für das rechte Verhalten an die Hand zu geben, um das wir uns nach dem Zuspruch der Gnade Gottes aus Dankbarkeit für diese Gnade bemühen.
Der Grund für unsere guten Taten liegt also dem Heidelberger Katechismus zufolge in der Dankbarkeit:
86. Frage
Dieweil wir denn aus unserm Elend ohne all unser Verdienst aus Gnaden durch Christum erlöset sind, warum sollen wir gute Werke tun?
Antwort
Darum, dass Christus, nachdem er uns mit seinem Blut erkauft hat, uns auch durch seinen Geist erneuert zu seinem Ebenbild, dass wir mit unserm ganzen Leben uns dankbar gegen Gott für seine Wohltat zeigen und er durch uns gepriesen werde. Danach auch, dass wir bei uns selbst unsers Glaubens aus seinen Früchten gewiss sind und mit unserm gottseligen Wandel unsere Nächsten auch Christo [= für Christus] gewinnen.
Die Antwort besagt: Gottes Gnade geht unserem Gutes-Tun voraus. Seine Gnade betrifft nicht nur unser Seelenheil, sondern auch unser Handeln: Durch Gottes Geist getrieben tun wir Gutes, und zwar aus Dankbarkeit für Gottes Gnade. In dieser Dankbarkeit preisen wir Gott, stärken unseren eigenen Glauben, den wir an seinen guten Taten ablesen und legen ein Zeugnis für Christus ab, um unsere Mitmenschen für den Glauben an ihn zu gewinnen.
Problematisch ist vor allem die Aussage, dass sich an den guten Taten der Glaube ablesen lässt. In der reformierten Frömmigkeit führte das dazu, dass man zum Beispiel an seinen erfolgreichen und zu Reichtum führenden Taten einen rechten und starken Glauben meinte ablesen zu können. Dass das nicht funktioniert und die guten Taten in übler Weise instrumentalisiert, liegt auf der Hand.
4. Meine persönliche Motivation, Gutes zu tun
Mir geht es jetzt aber um die Verbindung der Dankbarkeit mit den guten Taten. Ich will mir angesichts dieser Verbindung einmal über meine eigene Motivation klarwerden: Wenn ich mich darum bemühe, Gutes zu tun, dann denke ich nicht daran, dass ich jetzt Gott für seine Gnade danken will.
Wenn ich zum Beispiel einer jungen Mutter dabei helfe, ihren Kinderwagen eine Treppe hinaufzutragen, denke ich nicht: Ich tue das jetzt aus Dankbarkeit Gott gegenüber oder weil ich Gott damit preisen will. Ich denke auch nicht daran, durch meine Tat ein Zeugnis für Christus abzulegen. Und schon gar nicht denke ich daran, mir selbst die Stärke meines Glaubens vor Augen zu führen. Sondern ich denke ganz einfach, dass diese Frau Hilfe gebrauchen kann und ich ihr diese Hilfe gewähren will.
Ich nehme mal an, dass es vielen Christen und Christinnen ebenso gehen wird. Ich fände es schon sehr merkwürdig, wenn man als Christ deshalb Hilfe leisten würde, weil man Gott für seine Gnade dankbar ist oder weil man Christus bezeugen will – ganz zu schweigen davon, mir selbst zu dienen, weil mir durch meine Hilfestellung mein toller Glaube bewusst wird. Bei einem solchen Denken würde ja der hilfsbedürftige Mensch gar keine Rolle spielen, sondern es ginge nur um Gott, um Christus und um mich selbst – der hilfsbedürftige Mensch wäre nur Mittel zum Zweck.
Ich vermute, dass die Verfasser des Heidelberger Katechismus das nicht wirklich gemeint haben. Sie wollten einfach – wie Dietrich Bonhoeffer mit seiner Rede von der teuren Gnade – herausstellen, dass die Gnade Gottes immer gute Taten auf Seiten des Menschen mit sich bringt. Und das finde ich entscheidend wichtig.
Ich habe mich gefragt, warum ich beispielsweise der Frau mit dem Kinderwagen helfen würde. Ich könnte ja auch an ihr vorbeigehen und denken: Was interessiert mich ihr Problem? Jeder muss selber mit seinen Problemen klarkommen. Ich habe schon genug mit mir selbst zu tun.
Aber ich gehe nicht an der Frau vorbei. Meine Motivation, ihr zu helfen, könnte ich so ausdrücken: Sie ist ein Mensch, der wie ich von Gott geliebt ist. Gott ist ihr gnädig, so wie er mir gnädig ist. Er will Gutes für sie. Sie soll ein gutes Leben haben, und ihr Kind auch. Und Gott hat mir mein Leben nicht nur gegeben, um selber ein gutes Leben zu haben, sondern auch, um anderen zu einem guten Leben zu verhelfen.
Natürlich mache ich mir all diese Gedanken nicht in der konkreten Situation. Es ist aber der Hintergrund meines Bemühens, Gutes zu tun. Ich habe es sozusagen immer im Hinterkopf. Meine guten Taten resultieren also tatsächlich aus Gottes Gnade, die allen Menschen gilt, und aus Gottes gutem Willen für alle seine Geschöpfe. Meine guten Taten sind insofern auch ein Stück Dankbarkeit für Gottes umfassende Gnade, denn ohne seine Gnade gäbe es diese Motivation zum Guten nicht.
Vielleicht hätte ich dann eine andere Motivation, Gutes zu tun. Ob sie genau so stark wäre wie meine christliche Motivation, weiß ich nicht. Ich vermute aber, dass das, was ich inhaltlich als das Gute bezeichne, dann etwas anderes wäre. Denn ich merke immer deutlicher, dass sich meine Vorstellung vom Guten inhaltlich vom gesellschaftlichen Mainstream stark unterscheidet. Aber das ist ein anderes Thema.
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Verwendete Literatur:
- Bonhoeffer, Dietrich: Nachfolge. Hg. von Peter Zimmerling. Brunnen Verlag, 3. Aufl. Gießen 2020. Die Zitate finden sich auf den Seiten 40-42.
- Der Heidelberger Katechismus. Hg. von Otto Weber. Gütersloher Verlagshaus Gerd Mohn, Gütersloh 1978. Lizenzausgabe mit Genehmigung des Luther Verlages, Bielefeld 1978. Copyright: Furche Verlag H. Rennebach KG, Hamburg 1963. Das Zitat ist aus S. 47. Die in den Text eingefügten Schriftstellen wurden ausgelassen und die Orthographie wurde an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst.
Grafik: Gerd Altmann auf Pixabay.
vielleicht sollten wir anfangen das menschliche zu relativieren, da es ohnehin nur vorübergehend ist und uns als eine Zelle oder ein Gedanke Gottes begreifen. Wir in im und er in uns, denn dann begreifen wir uns alle und alles als eine Familie und eine Struktur, die in und aus Liebe pulsiert und lebt, völlig unabhängig wie sich die Endlichkeiten und Beschränkung, die eigene und unserer Mitmenschen auswirken. Es geht somit um ein Bewusstsein, das weit größer ist, als alles menschliche, auch wenn es menschlich angefangen hat. Daher kann sich das Gute nur dadurch welchem Ziel es dient und somit der Frage, was das Ziel sein sollte. Vielleicht ist das erste Ziel: Wahrhaftigkeit, denn ohne es gibt es kein Vertrauen und keine Liebe, die darauf wachsen kann.
ich kann dem Gedanken der Liebe - "wir in ihm und er in uns" - viel abgewinnen. Es geht darum, dass wir in Christus sind, so dass er uns nicht vergisst, sondern in sich trägt und für uns sorgt, und dass Christus (und so auch unsere Mitmenschen) in uns ist, wir seine und unserer Nächsten Bedürfnisse und Interessen kennen und wahrnehmen, ihr Denken und Fühlen in unser eigenes Denken und Fühlen aufnehmen. Vielleicht meinst du das auch damit, dass "wir uns alle und alles als eine Familie und Struktur begreifen, die in und aus Liebe pulsiert". Das ist wirklich ein Bewusstsein, das weit größer ist als unser Individualismus, den wir heute als etwas Grundmenschliches so hochhalten.
Vielleicht kann man sagen: Die Wahrhaftigkeit des Menschseins ist der Glaube an die "Macht der Liebe", an den Gott, der die Liebe ist und uns zur Liebe berufen hat.