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Wahre und unwahre Frömmigkeit - eine Religionskritik

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Veröffentlicht von in Theologie aktuell · 31 Oktober 2024
Tags: ReligionIdeologieGnadeOffenbarungErkenntnisPolitik

Wahre und unwahre Frömmigkeit – eine Religionskritik
oder: Warum US-Evangelikale Donald Trump wählen
Klaus Straßburg | 31/10/2024

Wenn das Böse unter einem Deckmantel gut gedeiht, dann ist die beste Tarnkappe zweifellos die der Religion und der kulturellen Tugend.
(Richard Rohr)1

Es mag überraschend sein, dass das Böse sich als Gutes tarnt, also gar nicht als Böses in Erscheinung tritt. Mehr noch: Es verbirgt sich unter dem Mantel der Religion, die nur das Beste für den Menschen will. Darum schrieb Paulus, der Satan verwandle seine Gestalt in einen Engel des Lichts (2Kor 11,14).

Indem das Böse sich als wahre Religion und echte Frömmigkeit darstellt, kann es nur sehr schwer als das erkannt werden, was es in Wahrheit ist. Und wenn das Böse gar nicht als Böses erkannt wird, kann es sich mit Leichtigkeit durchsetzen.

Doch es gibt auch eine gute Nachricht: Das Böse hat trotzdem keine Chance. Denn Gottes Geist wirkt permanent dieser falschen Frömmigkeit entgegen. Er schafft wahre Religiosität und echte Frömmigkeit und versetzt so unzählige Menschen in die Lage, das Böse zu entlarven (1Kor 12,10).

Das Böse kann zwar viel Unheil schaffen und Leid verursachen. Aber letztlich muss es sogar gegen seinen Willen dem Guten dienen (Röm 8,28). Dies vorausgesetzt können wir uns ohne Angst und Sorge mit dem Bösen auseinandersetzen.

Im ersten Teil schauen wir uns an, wie der evangelische Theologe Karl Barth das Böse verstanden hat, das sich als Frömmigkeit und Religiosität tarnt. Im zweiten Teil blicken wir dann zum US-amerikanischen Präsidentschaftswahlkampf. Er ist ein aktuelles Beispiel für unwahre Religiosität. Der dritte Teil schließlich zeigt auf, wie das sich als Frömmigkeit verkleidende Böse besiegt werden kann.


1. Wahre und unwahre Religiosität

Der evangelische Theologe Karl Barth (1886-1968) hat nach den erschütternden Erfahrungen des Ersten Weltkriegs wahre und unwahre Religion, echte und unechte Frömmigkeit unterschieden2. Große Teile der protestantischen Christenheit und Theologenschaft hatten sich der allgemeinen Kriegsbegeisterung hingegeben und damit sich selbst diskreditiert. Man war religiös und zugleich im nationalistischen Kriegstaumel befangen. Barth erkannte in dieser Situation, dass Religiosität noch längst nicht bedeutet, Gott zu bezeugen. Wahre Religiosität, die der Liebe Gottes entspricht, gibt es nur als gnädiges Geschenk Gottes.

Dabei geht es um etwas sehr Zentrales: Was ist zuerst da – der Glaube oder die Gnade? Ist der menschliche Glaube die Voraussetzung dafür, dass Gott gnädig ist, oder erweckt die Gnade allererst den menschlichen Glauben?

Barths Antwort war klar: Echten Glauben gibt es nur als Gnadengeschenk. Gottes Gnade ist voraussetzungslos. Auch der frömmste Glaube ist keine Voraussetzung der Gnade, sondern umgekehrt: Die Gnade ist Voraussetzung des Glaubens. Sie ist die Kritik aller Religion und Frömmigkeit, die meint, schon vor dem Geschenk der Gnade existieren zu können.

Barth hat die radikale Behauptung aufgestellt, dass Religion, Frömmigkeit und Theologie, die ohne das Gnadengeschenk Gottes auszukommen meinen, auf Unglauben beruhen. Jede Form der Religiosität ist Menschenwerk, Glaube aber ist Gotteswerk. Das betrifft auch die Theologie, und zwar Barths Theologie eingeschlossen. Wir können uns keinen festen Grund legen, auf dem wir stehen können. Der einzige Grund, auf dem wir stehen können, ist schon vor uns gelegt: Gottes Gnade, die in Jesus Christus offenbart ist (1Kor 3,11).

Wenn das stimmt, kann der Mensch nur geduldig darauf warten, dass ihm immer neuer Glaube geschenkt wird. Er kann sich aus eigener Kraft nicht zu echtem Glauben aufschwingen. Was der Mensch selbst hervorbringt, ist immer nur eine pervertierte, unwahre Religion und darum gerade kein echter Glaube.

Ein solcher "Glaube" ist Widerstand gegen Gottes Offenbarung. Ein solcher "Glaube" versucht, Gott und anderen Mächten zugleich zu dienen, Jahwe und Baal gemeinsam anzubeten (1Kön 18,21). Dieser "Glaube" hat Jesus ans Kreuz gebracht. Er beherrscht auch uns, die wir nicht einmal wissen, was wir beten sollen. Würde uns Gottes Geist nicht leiten, gäbe es kein echtes Gebet, sondern nur unwahres Geplapper (Röm 8,26).

Darum müssen unsere Frömmigkeit und unsere Theologie sich ständig von Gott her in Frage stellen und aufheben lassen. Jede Frömmigkeit und Theologie ist relativ, und sie wird wahr und lebendig nur dadurch, dass Gott selbst sie zum Leben erweckt.

Die Welt kann viel Religion ertragen und sogar schätzen. Sie kann sich die Religion einverleiben und sich mit ihr brüsten. Aber das funktioniert nur mit der unwahren Religion. Wo sich wahre Religion ereignet, verweigert sie sich jeder Vereinnahmung und wird zum echten Zeugnis Gottes. Wenn das geschieht, ereignet sich aber nicht weniger als ein Wunder.

Dieses Wunder umfasst auch das ethische Handeln, mit dem Gott bezeugt wird. Dann geschieht es, dass von Natur aus gottlose Menschen Gott dienen. Gottlose Menschen werden in das Wirken des Geistes Gottes hineingerissen und tragen zur Erneuerung der Welt bei. Das passiert nicht durch moralische Vorschriften oder Traditionen, sondern durch die Eigendynamik des sich verwirklichenden Reiches Gottes.

Die Christenheit nimmt dabei auch politisch Stellung. Sie ist aber befreit von allen Vorgaben, ideologischen Abhängigkeiten und Einstimmungen in den Zeitgeist. Nachfolge Christi ist vor allem Kreuzesnachfolge, das heißt: Christinnen und Christen werden für ihr Handeln oft nicht hofiert, sondern abgelehnt, bekämpft, diffamiert, verfolgt. Und der Gegner derer, die Christus nachfolgen, ist zuerst die fromme, religiöse Welt, die auch Jesus ans Kreuz brachte.

Biblische Beispiele für diesen Konflikt der wahrhaft Glaubenden mit der religiösen Welt gibt es zuhauf. Jesus stand im Dauerkonflikt mit den religiösen Führern seiner Zeit und wurde von ihnen in Zusammenarbeit mit der staatlichen Autorität hingerichtet. Viele seiner Jünger mussten ebenfalls Verfolgung und Hinrichtung erleiden. Und schon die Propheten des Alten Testaments wurden weitgehend von ihrer religiösen Umwelt abgelehnt.

Soweit einige Schlaglichter auf Karl Barths Religionskritik. Sie wurde, wie gesagt, nach dem Ersten Weltkrieg entworfen. Kann sie aber heute noch Geltung beanspruchen? Ist sie nicht zu radikal formuliert?

Man kann einmal überlegen, worin sich unechte Frömmigkeit heute zeigen könnte – auch bei uns selbst. Wir halten uns vielleicht für gute Christen. Zugleich sind wir aber selbstgewiss, überheblich gegenüber Andersglaubenden, die wir gern verurteilen, um uns selbst besser zu fühlen. Wohl kaum ein Christ wird sich davon freisprechen können.

Vielleicht hängen wir auch an Gewohntem und sind deshalb unbeweglich im Denken, so dass Gottes Geist uns nicht weiterführen kann. Oder wir laufen jeder neuen Idee nach, ohne danach zu fragen, ob sie mit Gottes Ideen im Einklang steht. Wir gehen unbarmherzig und ungerecht mit denen um, die uns fremd sind. Und wir spielen das Spiel dieser Welt mit, in dem es um Macht und eigenen Vorteil geht, ein Spiel, das uns gar nicht mehr bewusst wird, weil es zu unserer zweiten Natur geworden ist. Indem wir uns weigern, uns selbst zu hinterfragen, verhindern wir, dass Gott an uns arbeiten und unser Denken und Handeln prägen kann (Röm 12,2).

In dem Bewusstsein, dass wir mit allen anderen religiösen Menschen in demselben Boot sitzen, können wir nun auch einen Blick nach Amerika werfen. Denn dort spielt sich gerade in aller Deutlichkeit ein Schauspiel unwahrer Religiosität ab.


2. Warum viele Evangelikale in den USA Donald Trump wählen

In Deutschland können sich die meisten Menschen kaum vorstellen, dass so viele Amerikaner Donald Trump als Präsidenten sehen möchten. Unter seinen Anhängern sind auch viele evangelikale Christinnen und Christen. Wie ist das möglich?

Offensichtlich gibt es sehr viele Gründe, die – zwar nicht alle, aber viele – amerikanische Evangelikale dazu bewegen, Donald Trump zu wählen. Ich habe ein wenig recherchiert und bin in kurzer Zeit auf folgende Gründe gestoßen3:

1. Viele Evangelikale gehen davon aus, dass die Vereinigten Staaten von Amerika von weißen Christen für weiße Christen gegründet worden seien – wobei man mit "Christen" konservative Christen meint. Amerikanisch sein heiße deshalb, konservativer Christ zu sein. Die USA seien wie Israel eine von Gott auserwählte Nation (siehe dazu auch den Artikel Der christliche Zionismus). Diese Gründungsgeschichte der Vereinigten Staaten sei heute in Vergessenheit geraten und müsse wiederbelebt werden. Deshalb müssten auch Mauern gegen Migranten errichtet werden.

Donald Trump wird als Garant dieser Wiederbelebung gesehen. Man kann daraus den Schluss ziehen, dass etwa die Hälfte der US-Bevölkerung, darunter viele Evangelikale, eine nationalistische und rassistische Weltanschauung vertreten.

2. Manche Evangelikale streben an, die Trennung von Staat und Religion aufzuheben, also einen religiösen Staat zu begründen. Ein religiöser Staat kann aber nur eine Diktatur der Religion sein. Denn ein Staat, der Gott repräsentiert, kann keinen Widerspruch dulden. Jeder Widerspruch gegen den Staat wäre zugleich ein Widerspruch gegen Gott. Aktuelle Beispiele für einen solchen Gottesstaat sind der Iran und Afghanistan.

Donald Trump macht sich diese christliche Einstellung zunutze und hat schon in seiner ersten Amtszeit einige Forderungen evangelikaler Christen erfüllt. Er stellt weitere entsprechende Maßnahmen in Aussicht.

3. Viele Evangelikale halten daran fest, dass Homosexualität Sünde sei. Mit dieser Auffassung fühlen sie sich bei Donald Trump besser aufgehoben als bei seiner Gegenkandidatin Kamala Harris. Die Auslegung der Bibelstellen zu diesem Thema ist – auch unter evangelikalen Christen – umstritten.

4. Auch Schwangerschaftsabbruch ist nach Auffassung vieler evangelikaler Christinnen und Christen Sünde. Trump hat bereits in seiner ersten Amtszeit das Abtreibungsrecht in den USA verändert. Dadurch ist es den Bundesstaaten möglich, Schwangerschaftsabbrüche einzuschränken oder ganz zu verbieten, wovon auch etliche Staaten Gebrauch gemacht haben.

Das ethische Problem des Schwangerschaftsabbruchs kann hier nicht behandelt werden. Es wird in der deutschen Theologie unterschiedlich beurteilt. Meiner Meinung nach ist es christlich geboten, dem Lebensrecht des ungeborenen Kindes den Vorrang vor dem Selbstbestimmungsrecht der Frau einzuräumen. Das gilt insbesondere, weil es beim Selbstbestimmungsrecht der Frau nicht einfach um das Recht geht, über ihren Körper zu verfügen ("Mein Bauch gehört mir"), sondern um das Leben des in ihrem Körper heranwachsenden Kindes. Darüber hinaus sind aber unbedingt Überlegungen über das Zustandekommen der Schwangerschaft (z.B. durch Vergewaltigung) und über medizinische Indikationen anzustellen. Außerdem müssten psychosoziale Maßnahmen zur Verfügung gestellt werden, die der Frau das Austragen des Kindes erleichtern.

5. Es geht in der Wahlentscheidung evangelikaler Christinnen und Christen auch um Besitzstandswahrung. Denn sie betrachten redlich erarbeiteten Wohlstand als Anzeichen der Gnade Gottes. Das Christentum sei deshalb untrennbar mit dem Kapitalismus verbunden.

Donald Trump steht denen, die so denken, nahe, weil er als Unternehmer erfolgreich war und reich geworden ist. Ihm wird in der Wirtschaftspolitik mehr zugetraut als Kamala Harris.

6. In dieselbe Richtung weist es, wenn sozialstaatliche Maßnahmen abgelehnt werden, weil sie angeblich Faulheit fördern. Dahinter steht das konservative Narrativ, dass jeder Mensch die Chance habe, durch ehrliche Arbeit Wohlstand zu erlangen.

Dass nicht alle Menschen dieselben Chancen haben, sondern diese abhängig sind z.B. von Hautfarbe und Herkunftsfamilie, wird dabei nicht bedacht. Es wäre aber christlich, solche gesellschaftlichen Ungerechtigkeiten sozialstaatlich abzufedern.

7. Zwei Drittel der amerikanischen Evangelikalen glauben nicht an den menschengemachten Klimawandel und verteidigen damit ihren Komfort-Lebensstil. Eine Änderung des Lebensstils ist nicht erwünscht. Sie stehen damit Donald Trump nahe.

In der deutschen Christenheit wird weitgehend anerkannt, dass der Klimawandel menschengemacht ist und dass es einer christlichen Ethik entspricht, Gottes Schöpfung zu bebauen und zu bewahren (1Mo/Gen 2,15).

8. Möglicherweise kommt es den evangelikalen Christen in den USA entgegen, dass der Wahlkampf sehr emotional geführt wird. Denn es geht ja schließlich bei der Zukunft der USA um den christlichen Glauben, ja mehr noch: um das Heil Amerikas und der ganzen Welt. Wen sollte das kalt lassen?

Die Emotionalisierung des Wahlkampfs wird von Donald Trump vorangetrieben. Das verbindet die Evangelikalen mit ihm.

9. Donald Trump ist dafür bekannt, nicht gerade einen besonders christlichen Lebensstil geführt zu haben. Doch alle Sünden werden ihm von den Evangelikalen verziehen. Auch Israels König David sei schließlich ein Sünder gewesen und wurde dennoch von Gott zu seinem Werkzeug erwählt. Warum sollte dies bei Trump anders sein?

Auch dass etliche Gerichtsverfahren gegen Trump laufen, führt nicht dazu, dass seine christlichen Anhänger sich von ihm distanzieren. Im Gegenteil: Sie verstehen diese Verfahren als politisch motiviert. Insofern widerfahre Trump eine politische Verfolgung, die bekanntlich auch Jesus habe erleiden müssen.

10. Viele US-Evangelikale glauben, dass Gott Donald Trump beim Attentatsversuch in Pennsylvania vor einigen Wochen gerettet und gesegnet habe. Er habe das nicht wegen der herausragenden Persönlichkeit Trumps getan, sondern wegen seiner Entscheidungen zur Unterstützung Israels. Er sei der rechte Mann, um die von Gott auserwählte US-Nation zu Gott zurückzuführen. Das behauptet zum Beispiel der Gründer einer der größten evangelikalen Gemeinden in Kalifornien mit über 10.000 Mitgliedern, Pastor Jack Hibbs, der die Calvary Chapel in Chino Hills leitet.

Die Calvary Chapel ist mit mehreren Gemeinden auch in Deutschland aktiv. Ob und inwieweit sie auch in Deutschland konservatives oder nationalistisches Gedankengut verbreitet, ist mir nicht bekannt.

Soweit einige Gründe, die Evangelikale in den USA zur Wahl Donald Trumps bewegen. Die Aufstellung zeigt, dass der gegenwärtige Wahlkampf von politischen Ideologien bestimmt wird, die mit religiösen Begründungen vermischt werden. Frömmigkeit mischt sich dabei mit konservativer oder gar nationalistischer Ideologie. Natürlich wird die evangelikale Unterstützung Trumps biblisch begründet. Man kann aber fragen, ob dabei nicht biblische Texte oftmals so lange verbogen werden, bis sie in das schon vorher vorhandene eigene Weltbild passen. Karl Barth würde das als unwahre Religiosität bezeichnen.

Wie schon gesagt, ist kein Christ davon frei. Man sollte sich deshalb der Gefahren des eigenen Glaubens bewusst sein und versuchen, nicht der eigenen Weltanschauung, sondern den biblischen Texten zu folgen. Wir müssen den eigenen Glauben und die eigene Ethik immer wieder von Gott hinterfragen und uns auf neue Wege leiten zu lassen.

Der Blick nach Amerika ist nur ein gegenwärtig aktuelles Beispiel für das, was unwahre Religion anrichten kann. Dass es dabei nicht um eine allgemeine Evangelikalenkritik oder einen Antiamerikanismus geht, zeigt ein Zitat des amerikanischen katholischen Theologen Richard Rohr4:

Damit uns die gemeinschaftliche, verborgene Natur der Sünde und des Bösen nicht als abgehobenes theoretisches Konstrukt erscheint, müssen wir uns fragen, wieso die scheinbar so ernsthafte katholische Kirche fähig war, jahrzehnte-, vielleicht jahrhundertelang Tausende Fälle von Kindesmissbrauch zu ermöglichen, zu leugnen und unter den Teppich zu kehren, trotz ihrer 2000-jährigen Geschichte moralischer Lehren und Ausbildung. Oder wie es bei der durch und durch geordneten US-Regierung mit drei rationalen Kontrollebenen und dem Grundsatz "Ein Mensch, eine Stimme" zu der massiven politischen Dysfunktion, der grundsätzlichen Unmoral und der massiven Täuschung kommen konnte, unter denen Amerika heute leidet? Und wie können gut 40 Prozent der Amerikaner diesen Zustand als unproblematisch empfinden? Trotz unserer Religion, unserer guten Erziehung, trotz aller Reformen und Revolutionen scheint es, dass wir durchaus imstande sind, die Taten des Todes mitzutragen. Religionen, Regierungen und alle Organisationen und Unternehmen sind ganz und gar des Bösen fähig, ohne es auch nur als solches zu erkennen – weil es uns nützt, wenn sie unmoralisch handeln. Das Böse findet seine Tarnung in der schweigenden Zustimmung der Masse, wenn es persönliche Vorteile zu bringen scheint. [...] Wenn wir die wahre Form des Bösen und unsere Beteiligung daran nicht sehen oder erkennen, wird es uns kontrollieren und dabei kein bisschen wie Sünde aussehen. Wäre "vereinbarte Täuschung" vielleicht ein besserer Ausdruck?

Wenn man das liest, scheint unsere Lage aussichtslos. Doch das Evangelium ist eine gute Nachricht. Und kein Böses in dieser Welt kann es zu einer schlechten machen.


3. Der Sieg über die unwahre Frömmigkeit

Reife Religion muss uns anleiten, die vielen Verkleidungen des Bösen zu durchschauen. Sonst wird die Zukunft jedes Einzelnen immer von irgendeiner Form geleugneten Todes beherrscht.
(Richard Rohr)5

Das ist leicht gesagt. Doch wie kommen wir dahin, die vielen Verkleidungen des Bösen zu durchschauen? Karl Barths Antwort war: Wir müssen warten – warten bis Gott uns die Erkenntnis schenkt. Bis er sich selbst und damit auch seinen Widerpart, das Böse, offenbart. Nicht wir selbst schaffen es, das Böse zu entlarven, sondern Gott schafft es – in uns und durch Läuterung unserer Einsicht und Vernunft.

Bis ausreichend viele Menschen das Böse entlarven, kann es noch großen Schaden anrichten. Es kann Leid über einzelne Menschen oder die gesamte Menschheit bringen – und das alles sogar im Namen Jesu Christi. Dann verkleidet es sich als "Engel des Lichts" (2Kor 11,14).

Aber wenn Gott uns gnädig ist und seinen Geist auf viele von uns ausgießt, und wenn wir uns für diesen Geist öffnen und ihn in uns wirken lassen, wenn wir dann Gottes Wort an uns ernst nehmen, dann hat das Böse keine Chance mehr.

Es spricht nicht das letzte Wort. Auch die pervertierte Religiosität spricht nicht das letzte Wort. Sie wird vergehen wie alles andere Zerstörerische auch, und die wahre Religiosität wird sich durchsetzen. Darum können wir nur bitten. Darum ist unsere stärkste Macht gegen die unwahre Frömmigkeit das Gebet, in dem wir uns für Gottes Wirken in uns öffnen.

Wir können das Böse nicht selber besiegen. Wir können aber Gottes siegreiche Macht in uns wirksam werden lassen.


* * * * *


Quellennachweise:
1 Siehe Richard Rohr: Vom Bösen, S. 52.
2 Zu diesem Kapitel siehe Kraus: Theologische Religionskritik, S. 4-60.
3 Zu diesem Kapitel siehe:
  • https://www.tagesschau.de/ausland/amerika/usa-evangelikalen-100.html
  • https://www.deutschlandfunk.de/usa-religion-politik-trump-100.html
  • https://www.domradio.de/artikel/evangelikale-verehrung-fuer-donald-trump-traegt-groteske-zuege
  • https://reformiert.info/de/politik/das-attentat-macht-praesidentschaftskandidat-donald-trump-fuer-evangelikale-zum-auserwaehlten-23819.html.
4 Siehe Richard Rohr: Vom Bösen, S. 54f.
5 Siehe Richard Rohr: Vom Bösen, S. 57.

Verwendete Literatur:
  • Hans-Joachim Kraus: Theologische Religionskritik. Neukirchener Beiträge zur Systematischen Theologie. Band 2. Neukirchener Verlag. Neukirchen Vluyn 1982.
  • Richard Rohr: Vom Bösen. Eine neue Theologie. Claudius Verlag, München 2022.

Foto: Unbekannter Urheber auf Pixabay (Urheber nicht genannt).




2 Kommentare
2024-11-01 17:39:26
Hallo Klaus,

danke für diesen Beitrag. Er zeigt mir einen neuen Aspekt von Barths Theologie. Ich frage mich dabei allerdings sofort, warum Gottes Gnade bei der Gewährung echten Glaubens anscheinend so begrenzt ist oder er nicht mehr davon ausschüttet.

Mit Richard Rohr und seinem spirituell-psychologischen Ansatz kann ich mehr anfangen. Ich habe zwei Bücher von ihm in meiner kleinen theologischen Sammlung, und die sind auch, anders als diverse andere, beim letzten Umzug nicht ausgemustert worden.

Die evangelikal-politischen Ansätze in den USA finde ich besorgniserregend, etwas Ähnliches habe ich auch in Brasilien kennengelernt, oft verbunden mit Geschäftsmodellen. In Deutschland sehe ich die evangelische Kirche, die vor knapp hundert Jahren weitgehend mit dem Zeitgeist mitgegangen ist, dies wieder tun, nur dass das Pendel gerade zur anderen Seite ausgeschlagen ist. Dass die katholische Kirche bei allen Schwächen hier ein deutlich klareres, weltweit vertretenes Profil hat, wäre für mich ein Grund zu konvertieren.

Viele Grüße

Thomas
2024-11-01 18:13:13
Hallo Thomas,

danke für deinen Kommentar. Die Frage stellt sich wirklich, warum Gott nicht mehr von seinem Geist ausschüttet. Der calvinistischen Prädestinationslehre, wonach Gott die einen mit Glauben begnadet und die anderen eben nicht, kann ich nicht folgen, und Barth hat sie auch abgelehnt. Er hat stattdessen von dem einen Verworfenen gesprochen, nämlich Jesus am Kreuz, der die Rettung für alle bewirkt hat. Gottes Gnade gilt also allen Menschen, seine Gnade ist immer größer als seine Verwerfung. Warum trotzdem nur so wenige Menschen glauben, kann ich nur so erklären: Gott gießt seinen Geist zwar großzügig aus, aber seine Wirksamkeit wird von den meisten Menschen nicht zugelassen. So kommt ein subjektives Element in den Gedankengang hinein, das ja wohl auch nicht gänzlich zu verneinen ist. Der Mensch kann sich also nicht selber zum Glauben und Lieben aufschwingen, aber er kann sich beidem versagen.

Die Haltung vieler Evangelikaler in den USA kann ich auch nur mit Erschrecken wahrnehmen. Ich vermute, dass Trump gewählt wird mit allen Unwägbarkeiten, die daraus folgen. Dass die EKD sich dem Zeitgeist verschrieben hat, ist mir besonders durch ihre Haltung nach dem Beginn des Ukraine-Kriegs deutlich geworden, als sie beschloss, ihre in Jahrzehnten erarbeitete Friedensethik über den Haufen zu werfen und eine neue auszuarbeiten - als wäre die Friedensethik nur für Friedenszeiten gedacht gewesen. Das hat dazu geführt, dass eine deutliche Stellungnahme zum Krieg ausgeblieben und die Kirche in dieser Frage gespalten ist, so wie die Gesellschaft auch.

Viele Grüße
Klaus
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