Vom Recht des Stärkeren, vom Sieg und von der Liebe
Klaus Straßburg | 11/05/2022
Es zeigt sich in unseren Tagen, wie sehr wir der Stärke huldigen und ihr alle denkbaren Opfer bringen. Wie in allen Kriegen geht es auch im gegenwärtigen um den Sieg. Die Ukraine müsse siegen, fordert man, oder sie dürfe zumindest nicht verlieren. Russland müsse den Krieg verlieren, sagt die Ukraine mitsamt der westlichen Staaten, während Russland selbstverständlich siegen will.
Nur der Sieg scheint zu zählen, und dem Sieger gehört die Welt. Das gilt keineswegs nur für den Krieg. Es ist eine Lebenserfahrung, die offenbar tief im Bewusstsein der Menschheit verankert ist. Darum konnte die Popgruppe ABBA im Jahr 1980 mit The Winner Takes It All einen Welthit landen:
The winner takes it all, Der Gewinner bekommt alles,the loser has to fall. der Verlierer muss fallen.It's simple and it's plain. Es ist einfach und schlicht.Why should I complain? Warum sollte ich mich beklagen?
Der Song gehört zu den am häufigsten gecoverten ABBA-Titeln. Er beschreibt eine zerbrochene Liebe und damit das Scheitern einer Beziehung, in der es Gewinner und Verlierer gerade nicht geben sollte. Im weiteren Sinne beschreibt er aber die Welt, in der wir leben und die wir vielleicht leidend, resignierend oder verzweifelt zur Kenntnis nehmen, ohne sie verändern und ihr entkommen zu können.
Wir sind in diese Welt hineingewachsen. Schon in der Schule waren die Leistungsstärksten die Sieger und durften sich auch so fühlen. Das Leistungsprinzip teilte schon die Kinder und Heranwachsenden unbarmherzig auf in Sieger und Verlierer. Seither ist jeder Schritt auf dem Lebensweg davon bedroht, dass man unterliegt und zu den Verlierern zählt – oder aber man obsiegt und erlangt den Ruhm und die Ehre des Gewinners.
Besonders das Wirtschaftsleben ist so konstruiert, dass die Stärkeren sich durchsetzen, indem sie die Schwächeren besiegen. Kein Wirtschaftsunternehmen kann auf Dauer bestehen, ohne sich gegen die Konkurrenten durchzusetzen. Nur die Stärksten können im Konkurrenzkampf bestehen und überleben. Dabei ist nicht die Konkurrenz an sich das Problem, sondern die Unbarmherzigkeit, mit der den Schwächeren das Existenzrecht bestritten wird.
In diesem System des Kampfes um den Sieg wachsen wir auf, und weil es fast alle Ebenen unseres Lebens prägt, verinnerlichen wir es bis in die letzten Fasern unseres Fühlens, Denkens und Handelns. Ein anderes System kennen wir ja nicht – ausgenommen die glücklichen, aber seltenen Erfahrungen, in denen echte Liebe sich ereignet, in denen es nicht um Sieg oder Niederlage geht und der Schwache schwach sein darf, ohne vom Starken ausgelöscht zu werden. Diese Erfahrungen lassen uns lebenslang nach Liebe streben und sie als das höchste Glück erleben – und doch ist diese Liebe so schwer zu erlangen und, wenn wir sie empfangen, ständig bedroht.
Denn die Liebe ist dadurch gekennzeichnet, dass sie vom System des Sieges und der Niederlage angefochten wird. Dieses System steht der Liebe diametral gegenüber. Geht es doch der Liebe nicht darum zu siegen, sondern glücklich zu machen. Sie kennt das System des beständigen Kampfes um den Sieg gar nicht. Sie opfert sich vielmehr selbst und hat gerade darin ihr Sein. Die Liebe weiß, dass das Glück nur als gemeinsames möglich ist. Denn wie sollte ich glücklich sein, solange du unglücklich bist? Das System des Kampfes um den Sieg hingegen weiß nichts vom Glück des anderen. Es kennt nur den Sieg und meint, in ihm sein Glück zu finden. Es ist daher ein System, das in die Vereinzelung führt. Einsamkeit ist deshalb eine weltweite Empfindung, besonders in den sogenannten entwickelten Ländern.
Der liebende Mensch hingegen gibt sich hin an den Mitmenschen, um ihm das Glück zu schenken, das im gemeinsamen Glücklichsein besteht. Doch das gelingt nur so lange, wie bei beiden die Bereitschaft währt, keine Sieger zu sein. Da wir aber alle das System von Sieg und Niederlage verinnerlicht haben, da wir also der Stärkere, Potentere sein wollen und es nicht ertragen können, von jemandem übertroffen zu werden, da wir also sein wollen wie Gott, den wir uns so vorstellen, dass er sich von niemandem besiegen lässt, setzt sich der Kampf um den Sieg auch in der Liebesbeziehung immer wieder durch. Und er erscheint uns, auch wenn wir darunter leiden, als das Normale, Unumgängliche, so dass wir gar nicht mehr die Frage stellen, ob wir diesem Kampf entsagen können. Er wird zum Alltäglichen, Selbstverständlichen, und wenn man ihn überhaupt als ein Übel erlebt, dann als ein notwendiges.
Der liebende Mensch will sich nämlich nicht auf Dauer und nicht ganz an den Mitmenschen hingeben, will sich nicht vollends zurücknehmen und leiden um des gemeinsamen Glückes willen, sondern sucht zuletzt doch das einsame Glück auf Kosten des Mitmenschen. Und der geliebte Mensch will nicht auf Dauer und nicht ganz der Bedürftige sein, will nicht vollends auf die Überlegenheit verzichten, sondern selber der Stärkere sein, weil er nur darin das Glück zu finden meint. Der eine will nur bedingt abhängig sein von den Bedürfnissen des Schwachen, der der Liebe bedarf, und der andere will nur bedingt abhängig sein von der Hingabe des Starken, der Liebe zu geben hat. So ist die Liebe beider durchsetzt vom Streben nach Sieg, Stärkersein und Unterdrückung.
Das alles sind keine rein philosophischen Überlegungen, sondern es sind Lebenserfahrungen, für welche die christliche Botschaft sensibilisiert. Denn nach dieser Botschaft war Jesus Christus der eine Mensch, der seine Liebe zu den Mitmenschen konsequent durchgehalten hat und um dieser Liebe willen sich selbst opferte. Er war aber auch der Mensch, der es erleben musste, dass die von ihm Geliebten ihre Liebesbedürftigkeit nicht eingestehen wollten. Sie wollten die Stärkeren sein, die Sieger über das Böse und die Sünde, diejenigen, die keiner Vergebung und darum auch keiner Liebe bedürfen. Darum empfanden sie Jesu Liebe als maßlose Arroganz und Bedrohung ihres Strebens nach dem Sieg. Deshalb beschlossen sie, ihn zu beseitigen.
Jesus aber strebte nicht nach dem Sieg, sondern nach dem Glück der anderen. Darum gab er sein Leben hin, ohne sich zu wehren, also ohne nach dem Sieg des Stärkeren zu streben. Seine vermeintliche Niederlage aber war der Sieg der Liebe. So bringen nicht nur diejenigen, die der Stärke huldigen, Opfer dar, wie eingangs bereits festgestellt, sondern auch diejenigen, die in der Liebe leben. Der Unterschied besteht darin, dass die einen sich dem Streben nach Stärke opfern, die anderen aber dem Streben nach Liebe.
In einer Welt, in der das System von Sieg und Niederlage herrscht, gibt es die Liebe nur als leidende Liebe. Der liebende Mensch kann er selbst nur sein als leidender Mensch. Jesus ging diesen Weg der leidenden Liebe bis zum Extrem der Hingabe seines Lebens. Gerade indem er sein Leben dem Erlöschen preisgab, lebte er aber die Liebe zu seinem himmlischen Vater und zu den Menschen. Auch der Tod konnte den Sieg über diese Liebe nicht erringen. Denn nach der Botschaft der Evangelien hatte Jesu Gemeinschaft mit Gott, den er Vater nannte, über den Tod hinaus Bestand, indem der Vater ihn zum ewigen Leben erweckte.
Daran wird deutlich, dass am Ende nicht das System von Sieg und Niederlage das Leben gewährt, sondern allein die Liebe. Das System von Sieg und Niederlage hingegen tötet – und zwar nicht nur den Unterlegenen, sondern auch den Sieger. "Alle, die das Schwert ergriffen haben, werden durch das Schwert umkommen", sagte Jesus (Mt 26,52). Das gilt nicht nur für die körperliche Gewalt, sondern für alle Formen der Gewalt und ihre Täter. Aber die scheinbar Siegenden drohen nicht nur ihr irdisches Leben zu verlieren, sondern auch die Gemeinschaft mit Gott. Denn all jene, welche die Gemeinschaft mit Gott aufkündigen, indem sie den von Gott geschaffenen und geliebten Menschen ihr Leben nehmen, verlieren grundsätzlich ihr Existenzrecht: Sie haben sich selbst aus der Gottes- und Menschengemeinschaft ausgeschlossen. Nur aufgrund der Liebe Gottes, der ihnen ihre Schuld vergibt und ihr Existenzrecht zurückgibt, wird es möglich, dass sie dennoch ihr Leben und die Gemeinschaft mit Gott behalten.
Das System von Sieg und Niederlage ist so stark in unserer Welt verankert, dass wir ihm nicht entkommen können. Das geht so weit, dass im äußersten Extremfall auch der liebende Mensch gewalttätig und das heißt schuldig werden muss. Es gibt extreme Ausnahmesituationen, in denen auch dem Wohlmeinenden nur die Wahl zwischen Schuld und Schuld bleibt. Viel zu schnell jedoch werden die Menschen diesen Ausnahmefall als gegeben erklären, ja zum Regelfall machen. Viel zu oft und ohne alle Alternativen überhaupt geprüft zu haben, werden sie den Sieg erstreben und damit dem System des Kampfes um den Sieg den Vorrang einräumen vor der Liebe. Viel zu selten werden sie bereit sein, selber zu leiden und ihr Leben hinzugeben. Die Liebe wird damit verraten und dieser Verrat als unumgänglich erklärt.
Wenn aber die Entscheidung für das Schuldigwerden in rechter Weise vollzogen wird, wird der Mensch sie im vollen Bewusstsein seiner Schuld vor Gott und den Menschen vollziehen. Das heißt, er wird seine Schuld auf sich nehmen nicht im Bewusstsein der Stärke und des Sieges, sondern der Schwäche und der Niederlage. Er wird seine Schuld vor den Menschen eingestehen und vor Gott bekennen. Er wird nicht in seinen Taten triumphieren und sich als Sieger aufspielen, sondern er wird sich als ein Mensch gebärden, der am Streben der Menschheit nach Stärke Anteil hat und schwach ist, weil er einen Weg gehen muss, den er eigentlich nicht gehen will. Er wird ihn nicht unter lautem Siegesgeschrei gehen, sondern unter Tränen.
Nur so kann dieser Weg in der Bitte um Vergebung gegangen werden. Dann wird die Schuld getragen, und zugleich lässt man sie sich abnehmen von dem vergebenden Gott. Das ist nur in Reue möglich und im aufrichtigen Bestreben, das Ausmaß der Gewalt so gering wie möglich zu halten und den Zustand des Schuldigwerdens so bald wie möglich zu beenden. Dazu gehört auch das Bestreben, als Sieger nicht alles zu bekommen und den Verlierer nicht zu zerstören, sondern ihm eine Existenzmöglichkeit zu lassen.
Aber das ist, wie gesagt, ein extremer Ausnahmefall, der allerdings auch zur Wahrheit eines Lebens in der unerlösten Welt gehört und deshalb hier genannt wird, wissend um die Gefahr, dass die Mehrheit der Menschen ihn immer wieder flugs zum Regelfall erklären wird. Deshalb sei nochmals betont: In den meisten Situationen ist der Weg der Liebe gangbar, auch wenn die Menschheit davon nichts wissen will. In den meisten Fällen führt die Liebe zum Ziel oder näher an das Ziel heran – auch eine unvollkommene, nur bedingt gelebte Liebe. Sie ist allemal stärker als das System des Kampfes um den Sieg. Und sie belohnt die Liebenden für die von ihnen gebrachten Opfer mit dem gemeinsamen Glück, das wir alle erstreben und doch nur dann erlangen können, wenn wir zum Leiden bereit sind. Darum hat Jesus gerade den Liebenden und Leidenden ein glückliches Leben verheißen (Mt 5,3-12).
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deinen Beitrag kann ich nicht zustimmen. Du baust einen Popanz auf, den du anschließend im Sinne des Christentums demontierst. Damit erreichst du weniger als mit einer realistischen Darstellung der Ausgangssituation.
„Wir sind in diese Welt hineingewachsen. Schon in der Schule waren die Leistungsstärksten die Sieger und durften sich auch so fühlen. Das Leistungsprinzip teilte schon die Kinder und Heranwachsenden unbarmherzig auf in Sieger und Verlierer. Seither ist jeder Schritt auf dem Lebensweg davon bedroht, dass man unterliegt und zu den Verlierern zählt – oder man obsiegt und erlangt den Ruhm und die Ehre des Gewinners.“
Das stimmt in dieser Allgemeinheit nicht. Wir haben in der Schule Noten bekommen, aber auch Zusammenarbeit und Sozialverhalten gelernt. Der schlichte Notendurchschnitt beim Abitur sagte weder etwas aus über die Qualität dessen, was man gelernt hatte noch über den weiteren Erfolg im Leben – mehrere Mitschüler vom unteren Ende der Notenskala haben sich noch gewaltig herausgemacht – und schon gar nicht über das Glück im Leben. Auch das mögliche Gegenargument, dass wir als Abiturienten ja bereits auf der Siegerseite waren, trifft nicht zu. Karl-Josef Laumann z. B. ist mit Hauptschulabschluss Landesminister geworden.
„Besonders das Wirtschaftsleben ist so konstruiert, dass die Stärkeren sich durchsetzen, indem sie die Schwächeren besiegen. Kein Wirtschaftsunternehmen kann auf Dauer bestehen, ohne sich gegen die Konkurrenten durchzusetzen. Nur die Stärksten können im Konkurrenzkampf bestehen und überleben. Dabei ist nicht die Konkurrenz an sich das Problem, sondern die Unbarmherzigkeit, mit der den Schwächeren das Existenzrecht bestritten wird.“
Wieder einmal so ein Lamento über das Thema „böse Wirtschaft“. Daran ist so viel falsch, dass ich zwei Seiten lang dazu kommentieren könnte. Das Wirtschaftsleben ist – anders als im sog. Sozialismus und dort mit schlechten Ergebnissen – nicht „konstruiert“. Marktwirtschaftliche Verhältnis bilden sich in menschlichen Gesellschaften von alleine aus und beruhen weniger auf Konkurrenz um des Sieges willen als auf Tausch zum beiderseitigen Vorteil. Klar gibt es einzelne Akteure (Egozentriker wie Trump z. B.), die daraus ein Spiel um Sieg oder Niederlage machen, aber sie sind eher die Ausnahme als die Regel. Es gibt sinnvolle politische Eingriffe, um z. B. Monopole zu verhindern, damit eben nicht alle außer dem Mächtigsten aus dem Markt gedrängt werden.
„In diesem System des Kampfes um den Sieg wachsen wir auf, und weil es fast alle Ebenen unseres Lebens prägt, verinnerlichen wir es bis in die letzten Fasern unseres Fühlens, Denkens und Handelns.“
Das, was du beschreibst, erinnert mich an finstere Zeiten mit Sprüchen wie „alles Schwache muss weggehämmert werden“, „Siegen oder untergehen“ u.a.. So sehe ich die Verhältnisse nicht. Selbst in Spielen wie Schach, auf das du dich mit deinem Bild beziehst, stimmt es nicht ganz. Es gibt die sog. Remisbreite, wo trotz Positions- oder Materialvorteilen der eigentlich Überlegene nicht gewinnen kann, es gibt u. a. das sog. Salonremis, es gibt das Spiel nur zum Spaß mit Formen wie „Blitz“ oder „Tandem“ und es gibt Vereinsspieler, die mehr aus sozialen Gründen dabei sind als dass sie unbedingt gewinnen wollten.
Christentum bildet meiner Meinung nach nicht den Gegenpol zur Einteilung in Sieg oder Niederlage, sondern den Gegenpol zu weltlicher Macht, Macht verstanden als die Fähigkeit, jemanden gegen dessen Willen zu etwas zu zwingen. Jesus hat in diesem Sinne keine Macht ausgeübt, und er hat das in einem Ausmaß nicht getan, die bis heute spektakulär ist.
Dementsprechend hat er weltlich auch verloren. Seine Gegner haben ihn in relativ jungen Jahren getötet, und er hat noch nicht einmal selbst etwas Schriftliches hinterlassen. Dennoch ist das römische Reich, das damals die in Europa und dem Nahen Osten herrschende Macht war, längst zerfallen und Geschichte, während Jesus immer noch aktuell ist. Der Spruch „Jesus ist Sieger“ trifft also zu, aber er hat gesiegt durch das gelebte Gegenkonzept zu weltlicher Macht.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine ausführliche Stellungnahme. Ich habe versucht, vielleicht etwas zugespitzt eine Diskrepanz zu beschreiben zwischen dem Recht des Stärkeren in unserer Welt und der Liebe. Dass es dabei auch Zwischentöne und Ausnahmen gibt, sei unbestritten. Dass aber das Recht des Stärkeren weitgehend regiert und dass wir alle im Kampf darum stehen, der Stärkere zu sein (es sei denn, die Liebe, die immer uneigennützig ist, hat uns ergriffen), scheint mir ebenso unbestreitbar.
Man könnte noch viele andere Beispiele aufführen neben denen, die ich nannte, z.B. die Diskrepanz zwischen den sportlich Erfolgreichen und nicht Erfolgreichen (wobei aber - nicht immer, aber oftmals - schon der zweite Platz als Misserfolg gilt. Über den Zweiten spricht man bald nicht mehr; wer weiß schon noch, wer letztes Jahr deutscher Fußball-Vizemeister war?) oder zwischen den sozial Starken und Schwachen. Ich denke, jemand auf den unteren Stufen der sozialen Leiter könnte das gut nachvollziehen - von den Menschen im globalen Süden mal ganz zu schweigen.
Ich habe auch nicht gesagt, dass mit einer schlechten schulischen Leistung die Weichen für das ganze Leben gestellt sind. Aber wer beruflich Erfolg haben will, muss eben wieder die Leistung bringen, die von ihm erwartet wird, sonst hat er keine Chance. Mir geht es gar nicht um eine Kritik daran, dass Leistungen belohnt werden, sondern an der Unbarmherzigkeit, mit der Menschen, welche die erwarteten Leistungen nicht bringen, abgeschrieben werden.
Ich habe auch nicht den Sozialismus als positives Gegenbeispiel ins Auge gefasst; deshalb habe ich ausdrücklich vom "Wirtschaftsleben" und nicht vom "Kapitalismus" oder von der "Marktwirtschaft" gesprochen. Das Wirtschaftsleben im sog. Sozialismus ist gewiss nicht humaner als das im Kapitalismus - soweit diese Klassifizierungen überhaupt noch greifen.
Alles in allem muss man zusehen, dass man auf der Gewinnerstraße bleibt und sich dazu oft gegen andere durchsetzen: Man muss besser sein, schneller, anpassungsfähiger, die Erwartungen erfüllen, und wenn man einmal einen gewissen Status erreicht hat, bekommt man oft noch etwas nachgeschmissen. Da trifft das geflügelte Wort zu "Der Teufel scheißt immer auf denselben Fleck". Ich denke, die Rede vom "Leistungsprinzip", von "sozialer Ungleichheit" und vom immer neuen Ringen um "Chancengleichheit" ist nicht aus der Luft gegriffen. Und nach meinem Empfinden hat das schon in der Schule begonnen.
Ich sehe auch den Gegenpol des christlichen Glaubens zur weltlichen Macht, wie du es beschreibst. Gerade diese Macht hat beruht aber doch auf Stärke und auf der Fähigkeit, sich durchzusetzen, also über andere zu siegen. Der Krieg zeigt das wie in einem Brennglas und in all seiner Brutalität.
Wie gesagt, es gibt Ausnahmen vom allgemeinen Kampf um den Sieg (vom "Kampf aller gegen alle", in denen "der Mensch den Menschen ein Wolf ist" [Thomas Hobbes]) und auch Zwischentöne - aber eben da, wo die Liebe regiert, die, wie Jesus, sich den Schwachen zuwendet, die die eigene Stärke nicht ausnutzt auf Kosten des Schwächeren und die nicht um den eigenen Vorteil, den Sieg kämpft, sondern um das Glück des Nächsten (siehe auch den barmherzigen Samariter im Gegensatz zu den beiden Leviten).
Viele Grüße
Klaus
der Gegenbegriff zu "Recht des Stärkeren" ist für mich nicht Liebe, sondern Rechtsstaatlichkeit. Wenn du so radikal behauptest, es regiere bei uns weitgehend das Recht des Stärkeren, bestreitest du damit in meinen Augen, dass wir einen Rechtsstaat haben. War das deine Absicht?
Viele Grüße
Thomas
gute Frage. Der Rechtsstaat ist sicher ein Korrektiv dazu, dass der Stärkere sich permanent durchsetzt. Er hat aber auch seine Grenzen. So ist es mitunter schwer für einen einzelnen Konsumenten, sich gegen einen Konzern rechtlich durchzusetzen, der gleich mehrere Hände voll Juristen in seinen Reihen hat, die seine Interessen vertreten. Ich will nicht sagen, dass das ausgeschlossen ist, zumal man ja auch die Hilfe der Verbraucherberatungen in Anspruch nehmen kann. Aber jeder, der sich mit einem Konzern anlegen will, wird sich das gründlich überlegen oder schon aus finanziellen Gründen ausschließen. Ein Beispiel mag auch der Abgasskandal sein. Soweit ich weiß, haben die Geschädigten nur eine relativ kleine Entschädigung erhalten. Es gibt Leute, deren Verfahren gegen einen Automobilkonzern noch heute läuft - mit ungewissem Ausgang. Das kann sich kaum jemand leisten. In den USA ist es meines Wissen ganz anders gelaufen.
Aber das spricht nicht gegen den Rechtsstaat. Es gibt eben nicht das perfekte System. Auch die Demokratie hat ihre Schwächen und ist dennoch das beste Staatswesen, das wir kennen. Aber die Schwächen aller Systeme zeigen doch wieder, dass überall dort, wo sich die Möglichkeit auftut, der Stärkere versucht, sich durchzusetzen. Die sog. gesetzlichen "Schlupflöcher" sind doch ein Beleg dafür. Da arbeiten zig gut bezahlte Topjuristen daran, an neuen Gesetzen irgendwelche Lücken zu finden, die dann erbarmungslos ausgenutzt werden - auf Kosten der Schwächeren (z.B. Cum-Ex-Geschäfte auf Kosten des Staates bzw. der Steuerzahler). Man mag ja heute gar nicht mehr zu einer Bank gehen, um sich beraten zu lassen, weil man davon ausgehen muss, dass die Bank in der Beratung ausschließlich ihre eigenen Interessen verfolgt und nicht die des Kunden. Ich denke, das war vor einigen Jahrzehnten noch anders.
Also: Ein Rechtsstaat ist gut, aber die Stärkeren versuchen dennoch, sich durchzusetzen, und es gelingt ihnen auch allzu oft, wenn auch nicht immer. Wenn es zu einem Rechtsstreit kommt, ist für den Ausgang nicht selten entscheidend, wer die besseren Juristen bezahlen kann. Und es werden ja längst nicht alle Bereiche des Lebens rechtlich geregelt, aber das wäre auch gar nicht wünschenswert.
Meine Aussage wäre dann so zu fassen: Das Recht des Stärkeren regiert so weit, wie der Stärkere nicht rechtlich gemaßregelt wird.
Viele Grüße
Klaus