Versponnen und kurzsichtig
Klaus Straßburg | 11/09/2020
Das auf dem Foto ist Frieder. Frieder ist so etwas wie das Wahrzeichen einer deutschen kleinen Großstadt. Jedenfalls ein Teil des Wahrzeichens.
Nein, Frieder trägt kein Moskitonetz über dem Kopf. Er war kein Entdecker und Weltreisender, der neue Kontinente erforschte und sich vor Stechmücken kaum retten konnte. Frieder war eher bodenständig und heimatverbunden. Wahrscheinlich hat er die Umgebung seiner Stadt nie verlassen.
Eigentlich hat sich Frieder schon lange überhaupt nicht mehr bewegt. Darum ist er auch von hässlichen Geschöpfen befallen worden, die ihn eingesponnen haben. Und außerdem haben Vögel etwas auf ihm hinterlassen – igittigitt.
Vielleicht schaut Frieder deshalb etwas traurig aus. Aber eigentlich hat er ja auch selbst ein bisschen Schuld. Wer sich lange nicht bewegt, wird eben eingesponnen und besch…
Ich hoffe, dass Frieder noch den Durchblick hat. Die lange Bewegungslosigkeit – der Ruhestand sozusagen – kann einem schon die Sicht rauben. Wahrscheinlich blickt Frieder deshalb nach unten auf die Straße. So sieht er wenigstens, was unmittelbar vor ihm passiert. Damit er nicht stürzt.
Aber das ist eigentlich gar keine Gefahr. Denn Frieder bewegt sich ja nicht. Darum kann er auch nicht stürzen. Leider kommt er so aber auch nicht voran. Armer Frieder!
Als ich Frieder entdeckte, dachte ich: Wenn das das Wahrzeichen der Stadt ist, wie mag es dann um die Stadt bestellt sein? Ob sie sich auch schon so lange nicht bewegt hat? Ob ihr auch schon die Weitsicht genommen ist? Und kommt sie vielleicht auch nicht voran, entwickelt sie sich nicht weiter?
Nein, nein, es gibt schon eine Menge Bewegung in der Stadt: Viele Autos fahren mitten hindurch und machen die Luft schlecht. Fahrräder sieht man nur wenige, weil es kaum Radwege gibt. Dabei würden viele Menschen gern Rad fahren.
Die Stadt bemüht sich um die Industrie, das bringt Geld ins Stadtsäckel. Leider müssen dafür Bäume gefällt und schöne Landschaft beseitigt werden. Schade!
Also Aktivität gibt es schon. Aber manchmal denkt man: Es fehlt irgendwie der Weitblick. Der Blick reicht nur ungefähr einen Meter weit – oder eine Legislaturperiode. Was danach kommt, ist im Dunkeln. Oder es interessiert niemanden.
Also entwickelt sich die Stadt nicht wirklich weiter. Es bleibt eher alles, wie es immer schon war: Autos vor Fahrrädern, Industrie vor Landschaft, Geld- und Zeitgewinn vor Umweltschutz. Das ist schön für die, die sowieso lieber alles beim Alten lassen wollen. Zu viel Veränderung ist gar nicht gut, sagen sie. Das bringt die schöne alte Welt ja ganz durcheinander.
Dabei könnte man es auch anders machen. Dafür gibt es Beispiele in anderen Städten. Aber vielleicht geht es den Stadträt*innen ja wie Frieder: Sie haben die Umgebung ihrer Stadt noch nie verlassen.
Ich will nicht ungerecht sein: Es gab auch schon richtig gute Entwicklungen. Aber leider viel zu selten. Und der große WUMMS blieb dabei aus. Also doch keine Wende hin zu einer nachhaltigen und menschenfreundlichen Stadtentwicklung.
Doch will ich eigentlich gar nicht über die Stadt reden. Nein, als Kirchenmensch dachte ich natürlich vor allem an die Kirche, als ich den traurigen Frieder so sah. Sollte es mit der Kirche vielleicht auch nicht besser bestellt sein als mit Frieder?
Jedenfalls laufen der Kirche die Leute weg. Es gibt wohl nicht wenige, die die Kirche als versponnen bezeichnen würden: eingesponnen in ihre alten Glaubensformeln, die heute niemand mehr versteht; regungslos in ihren Gottesdiensten, in denen die Kirche uralte Choräle, Sprüche und Wechselgesänge durch die Jahrhunderte trägt; kurzsichtig im Blick auf die kulturellen Veränderungen, denen sie sich beständig entzieht.
Ich weiß, dass es auch immer wieder Neuerungen gibt. Aber offensichtlich nicht genug. Den WUMMS schaffte die Kirche jedenfalls noch nicht.
Wenn ich hier von „der Kirche“ rede, dann meine ich eigentlich alle institutionellen Kirchen, Freikirchen und Gemeinschaften. Von denen gibt es in Frieders Gegend ziemlich viele. Aber sie erreichen nur die wenigsten Menschen.
Diese Menschen leben ganz einfach an der Kirche vorbei. Und die Kirche an ihnen. Obwohl es nicht wenige Christ*innen gibt, die sich aufrichtig um die Menschen bemühen. Sie möchten sich vorwärts bewegen, so gut es innerhalb der Institution geht.
Leider geht das nicht so gut. Gute Absichten werden von der Institution oft ausgebremst. Die Institution ist nämlich ziemlich eingesponnen in ihren alten Traditionen. Und manche Kirchenmenschen fühlen sich in ihren Spinnweben so richtig wohl.
Dass die Leute an der Kirche vorbei leben, liegt natürlich auch an den Leuten selbst. Viele wollen von der kirchlichen Botschaft einfach nichts wissen. Diese Leute sind auch eingesponnen in ihre Gedankenwelt und blicken kurzsichtig nur auf das, was vor Augen ist. Das, was man mit den Augen nicht sehen kann, nehmen sie nicht wahr.
Aber das ist keine Entschuldigung für den Stillstand der Kirche. Die Glaubenden sitzen nach wie vor hauptsächlich in ihren Häusern hinter dicken Wänden und warten darauf, dass die Menschen zu ihnen kommen. Sie sollen sich also am Sonntagmorgen auf die Socken machen: früher aufstehen, das Frühstück abkürzen, sich zurechtmachen, ins Auto steigen und zur Kirche fahren, einen Parkplatz suchen und die Kirche mit all den fremden Leuten betreten. Dann eine fremde Sprache hören und fremde Gebräuche mitmachen (unter Beobachtung der Eingeweihten) – und nach dem Gottesdienst alles wieder rückwärts. Ist das nicht ein bisschen viel verlangt?
Okay, für diejenigen sicher nicht, die wirklich interessiert sind an der Botschaft, aber das sind nun mal die wenigsten. Die anderen müssen doch erst noch für die Botschaft begeistert werden! Schafft man das, indem man auf sie wartet und sie – wenn sie dann einmal kommen - mit jahrhundertealten Liedern und Gebräuchen langweilt?
Wohl kaum. Jesus jedenfalls hat sich nicht in Nazareth unter das Stadttor gesetzt und darauf gewartet, dass die Menschen ihm zuströmen. Er hat sich in Bewegung gesetzt und ist dorthin gegangen, wo die Menschen waren. Am Seeufer hat er die Fischer zu sich gerufen, in der Stadt den Zolleinnehmer Matthäus. In die Städte ist er gegangen, wo die Bettler saßen, an den Teich Bethesda, wo die Kranken lagen, und schließlich in den Tempel, wo das religiöse Leben blühte. Mit dessen Traditionen war er ganz und gar nicht einverstanden. Und er hat so mit den Leuten gesprochen, dass sie es verstanden haben.
Paulus ist später nicht in irgendeiner Gemeinde hängengeblieben und hat sich dort bequem eingerichtet. Sondern er ist durch die ganze damals bekannte Welt gezogen, um die Botschaft unter die Leute zu bringen. Dabei hat er versucht, ihre Sprache zu sprechen (obwohl er sprachlich nicht sehr begabt war) und sich auf ihre Gedankenwelt einzulassen (Apg 17,22f).
Von Stillstand und Abwarten also keine Spur. Die Reformatoren haben dann viel später gesagt, die Kirche sei immer zu reformieren, also zu erneuern, umzugestalten und zu verbessern. Immer heißt: sich nicht ausruhen auf den Lorbeeren der Vergangenheit, sondern beständig und stetig sich wandeln; nicht ewige Traditionen pflegen, sondern aufbrechen zu neuen Ufern; auf die Menschen achten, die man erreichen möchte; in ihrer Sprache sprechen und in ihrer Kultur leben, ohne die Botschaft dabei preiszugeben.
Nun verändert sich natürlich auch die Kirche, aber doch eher marginal. Also ein bisschen am Rande, nicht im Zentrum. Das ist suboptimal. Und die Kirche beschäftigt sich seit vielen Jahren auch gern mit sich selbst. Das kostet viel Zeit und Kraft. Da bleibt nicht mehr viel für ein Eingehen auf die Menschen. Dabei gibt es so viele schöne Ideen.
Eine Idee besteht darin, mit den Menschen zu leben, die von Gott noch nicht genug gehört haben. Man bewegt sich auf sie zu, man bleibt bei ihnen, lebt mit ihnen und beginnt, von Gott zu erzählen – vielleicht gar nicht in einem speziellen Event, sondern im täglichen Miteinander. Dann spricht man automatisch eine andere Sprache als im Gottesdienst. Man ist sich auch näher als im Gottesdienst. Man verschweigt auch die eigenen Zweifel und Schwächen nicht. Und der andere merkt: Guck mal, das ist ja auch ein fehlbarer Mensch. Der hat Zweifel und Schwächen wie ich. Interessant!
Wir Kirchenleute sprechen oft eine alte und fremde Sprache – sozusagen eine eingesponnene. Das merkt man auch am Glaubensbekenntnis, das im Gottesdienst gesprochen wird. Es stammt aus dem 2. oder 3. Jahrhundert, genau weiß man es nicht. Ist auch egal, es ist jedenfalls sehr, sehr alt. Wir sprechen immer noch dieses alte Glaubensbekenntnis, aber wir erklären den Menschen gar nicht, was es eigentlich meint. Was bedeutet es denn, dass Gott „allmächtig“ ist? Was heißt „Sohn Gottes“? Wurde Jesus von einer Jungfrau geboren, wie wir bekennen? Warum enthält das Bekenntnis nichts von Jesu Leben, sondern gleich nach seiner Geburt kommt sein Leiden und Sterben? Was heißt, dass Jesus wiederkommen wird? Wer oder was ist der „heilige Geist“, und was macht eigentlich die Kirche „heilig“?
Alte, uralte Wörter, in die wir verwoben sind, so wie Frieder in seiner bewegungslosen Gedankenwelt (entschuldige bitte, Frieder, du warst sicher ein gutwilliger, liebenswerter Mensch).
Aber kann man mit Worten aus dem 2. oder 3. Jahrhundert heute noch seinen Glauben bekennen, als hätte sich in den vielen Jahrhunderten bis heute an den Denk- und Sprechgewohnheiten nichts geändert?
Fragen über Fragen. Man könnte noch viel mehr Fragen an die Kirche stellen.
Die Kirche fragt sich vieles auch selbst. Das ist gut so. Aber sie tut sich schwer damit, ihre Spinnweben abzuwerfen und neue Wege zu gehen. Nicht alles ist bewegungslos in der Kirche. Aber die Bewegungen sind zu klein, um zu vermeiden, dass die ekligen Spinnentiere kommen und ihr Netz anlegen.
Ein bisschen spinnert, die Kirche und die Christ*innen, denken wohl die meisten. Nicht auf der Höhe der Zeit, sondern irgendwo in der Vergangenheit hängen geblieben. So wie Frieder. Dabei gäbe es in der Gegenwart so viel zu sagen zu den verunsicherten, friedlosen und Sinn suchenden Menschen.
Wir müssen hin zu ihnen, dürfen uns nicht in unseren heimeligen Gemeinden verschanzen. Damit wir nicht irgendwann eingesponnen sind von ekligen Wesen und so traurig ausschauen wie Frieder.
Übrigens: Frieder wird nicht untergehen. Sogar das Spinnennetz lässt sich entfernen. Das ist gar nicht so schwer. Und auch die Kirche wird nicht untergehen. Weil Gott sie hält. Auch dann, wenn sie eingesponnen ist.
Aber vielleicht hast du ja ein ganz anderes Bild von der Kirche. Dann schreib es mir unten. Oder schreib mir deine Idee einer lebendigen Kirche. Oder schreib von deinen Spinnenerfahrungen – egal, du kannst alles schreiben.
Ach ja, und wenn du noch wissen willst, in welcher Stadt Frieder steht, dann gib doch mal „Henner und Frieder“ in deine Suchmaschine ein. So wirst du schnell fündig.
* * * * *
Die großen Reformatoren haben in ihrer Zeit bestimmt etwas Richtiges und Wichtiges getan. Aber heute leben wir in einer anderen Zeit und selbst die katholische Kirche schrumpft in Deutschland nicht so schnell wie die evangelische. Protestantismus, gerade auch und besonders der liberale, wirkt wie die Kunst, so Christ zu sein, dass es einem keiner anmerkt.
Kirche ist zu einem Alte-Leute-, Beamten- und Honoratiorenverein geworden, dessen Angebote für Sozialarbeit und Zeremonien immer noch gern von vielen angenommen wird, von dem man aber ansonsten gern in Ruhe gelassen wird.
Selbst die eigentliche Botschaft, so mein schlimmer Verdacht, ist inzwischen so oft und so oft von den falschen Leuten erzählt worden, dass Otto Normalverbraucher gleich abwinkt, wenn ihm jemand mit Jesus Christus kommt.
Ein Bedürfnis nach Spiritualität gibt es immer noch bei sehr Vielen, und sei es nur aus dem Gedanken heraus: „Das kann doch nicht alles sein!“ beim Blick auf das eigene komfortable Leben. Aber dann kommen heute eher die absurdesten fernöstlichen Angebote zum Zuge als ausgerechnet die evangelische Kirche, die sich mit ihrer Wort-Gottes-Ideologie und Predigtzentrierung anscheinend selbst in die Ecke gespielt hat.
Dietrich Bonhoeffer hat diese Entwicklung in einigen seiner Briefe aus dem Gefängnis in vieler Hinsicht schon vorhergesehen. Seine Empfehlung eines Rückzugs auf „Beten und Tun des Gerechten“ halte ich immer noch für sinnvoll.
Zwei Fragen habe ich aber noch:
1. Was verstehst du unter "Wort-Gottes-Ideologie"?
2. Wie würdest du "Beten und Tun des Gerechten" konkret fassen?
zu 1. Mit Wort-Gottes-Ideologie meine ich die starke Wortfixierung, angefangen von Luthers Sola Scriptura über Verbalinspirationslehren bis zur der Barmer Formulierung "Jesus Christus, wie er in der Bibel bezeugt ist, ist das eine Wort Gottes (…)" [ex Gedächtnis zitiert, deshalb bitte ich um Nachsicht, wenn es nicht genau stimmt]. Man liest, redet, predigt, hört zu, diskutiert. Da fehlt Sinnlichkeit, eigene Erfahrung, Mystik usw. usw.. Das Einzige, was noch geboten wird, ist Musik, da sind wir gut, und deswegen bin ich z. B. auch noch dabei.
2. Unter "Beten und Tun des Gerechten" stelle ich mir vor, dass Christen, die sich regelmäßig in kleineren Gebetsgemeinschaften treffen, der Außenwelt durch ihr Verhalten auffallen, irgendwann gefragt werden: Warum tut ihr das? Was lässt euch so sein? Und dann die Chance haben, sich und ihren Glauben zu erklären, mit Glaubwürdigkeitsvorschuss.
Viele Grüße
Thomas
danke für die Verdeutlichungen. Ich gebe dir recht, was die starke Wortfixierung in den Gottesdiensten anlangt. Allerdings gibt es ja vielerorts auch schon ein sog. "2. Gottesdienstprogramm". Ich habe selbst in meiner Zeit in Bünde meditative Abendandachten gestaltet. Sinnlichkeit ist als eine Dimension des Menschseins sehr gefragt, und zwar zu recht.
Ich stehe aber, wie du wahrscheinlich schon ahnst, hinter Luthers sola scriptura und der Aussage, dass der in der Bibel bezeugte Jesus das eine Wort Gottes ist. Das liegt daran, dass ich selber unendlich viel aus der Bibel gelernt und erfahren habe und noch immer lerne bzw. erfahre - Stärkung, Trost, Angerührt-sein. Und wenn ich deinen Blog lese, habe ich den Eindruck, dass es dir nicht anders geht. Aber das ist nur mein Eindruck, weil du ja öfter deine Gedanken zu Bibeltexten äußerst.
Vielleicht stößt du dich an dem "Sola" und an dem "EINEN Wort Gottes"? Luther hat tatsächlich das Heil in der Bibel gefunden (seine "reformatorische Entdeckung") und nicht in der Philosophie. Und Karl Barth hat sich ebenfalls auf die Bibel gegründet, hat aber später auch anderen menschlichen Worten eine gewisse Wahrheit zuerkannt (seine sog. "Lichterlehre": Das eine große Licht und die vielen kleinen Lichter, die vom großen Licht angestrahlt werden, wenn ich mich recht erinnere; müsste, wenn du es genau wissen willst, nochmal nachlesen).
Kleinere Gruppen von Christ*innen, die sich regelmäßig treffen zum Gebet und Bibellesen, gibt es doch schon. Ich nehme selbst an so einem Hauskreis teil. Wenn man dann gefragt wird, warum man das tut, ist das sicher ein guter Anknüpfungspunkt für ein Gespräch. Allerdings habe ich oft die Erfahrung gemacht, dass auch viele Gespräche über den Glauben nicht dazu führten, dass die Gesprächspartner sich zum Glauben bewegt fühlten - jedenfalls nicht so, dass es äußerlich sichtbar war und ich es bemerkt habe. Was im Innern geschah, kann ich natürlich nicht beurteilen. Jedenfalls sind solche Gruppen immer eine gute Sache, wenn sie offen sind und keine Blase darstellen, in der man sich immer nur selbst bestätigt.