Verrückte Welt – und kein Grund zur Resignation
Klaus Straßburg | 04/04/2023
1. Liegt alles an Gottes Segen?
Ein altes Sprichwort lautet:
An Gottes Segen ist alles gelegen.
Dieses Sprichwort drückt eine menschliche Erfahrung aus: die Erfahrung, dass wir uns noch so sehr bemühen können, unsere Pläne zu verwirklichen und unser Leben und die Welt positiv zu gestalten – es kann alles ganz anders kommen. Christen fügen hinzu: Es kann alles ganz anders kommen, wenn Gott es so will.
Oder die umgekehrte Situation: Wir bemühen uns nicht, wir haben es vielleicht aufgegeben, ein bestimmtes Ziel zu erreichen – und plötzlich wird uns etwas von Gott geschenkt, womit wir gar nicht mehr gerechnet hatten. Also: Es liegt alles an Gottes Segen, wenn etwas aus unserem Leben wird und das Weltgeschehen eine positive Wendung nimmt.
Man kann sich aber auch fragen, ob das wohl sein kann: Wenn alles an Gottes Segen gelegen ist, dann heißt das ja, dass nichts an unserem Denken und Handeln gelegen ist. Aber kommt es denn nicht auch darauf an, was wir tun und denken?
Die christliche Tradition legt ja viel Wert darauf, dass der Mensch an Gott und Jesus Christus glaubt. Der Mensch soll also, so scheint es, gerade nicht alles Gott überlassen, sondern selbst aktiv werden: Er soll sich für den Glauben entscheiden. Wer an Jesus glaubt, wird nicht zugrunde gehen (Röm 10,11). Man müsste daraus schließen: Am Glauben ist alles gelegen.
Noch viel mehr sieht sich der moderne Mensch zur Aktivität aufgerufen, wenn es darum geht, sein Leben zu gestalten. Er macht sich einen Plan für sein Leben und entscheidet, was er tut und was er lässt. Er will ein sinnvolles Leben führen und trifft selbst die Wahl, was für ihn sinnvoll ist und was nicht.
2. Ein großer deutscher Dichter hat nichts erreicht
Überrascht hat mich vor diesem Hintergrund ein Gedicht von Heinrich Heine, das mir in einem Alten- und Pflegeheim begegnete, und zwar auf einem Kalender mit Sinnsprüchen, der dort aushing. Da standen folgende Verse:
Tag und Nacht hab ich gedichtet
und hab doch nichts ausgerichtet;
bin in Harmonien geschwommen
und bin doch zu nichts gekommen.
Mal abgesehen davon, ob es hilfreich ist, diesen Gedanken in einem Alten- und Pflegeheim auszuhängen – ich war überrascht davon, dies von einem so berühmten Dichter wie Heinrich Heine zu hören. Er wird bis heute gelesen und geachtet, gehört zu den großen deutschen Dichtern und könnte doch wirklich von sich behaupten, etwas erreicht zu haben: Bis heute vermittelt er Menschen Einsichten, die ihnen offenbar wichtig sind, die sie weiterführen, die ihnen etwas zu sagen haben. Bis heute hilft er Menschen, die Welt und sich selbst zu verstehen.
Dennoch hat Heine offensichtlich das Gefühl gehabt, nichts ausgerichtet zu haben und zu nichts gekommen zu sein. Wie kann das sein?
Ich denke, dass der Dichter zu den Menschen gehörte, die die Welt und sich selbst nicht in einer oberflächlichen Selbstgenügsamkeit betrachteten, sondern kritisch in den Blick nahmen. Und er erkannte: Ich lebe in einer verrückten Welt, in der all meine guten Ideen, meine Schriften und Taten letztlich nichts ausrichten können – es bleibt eine verrückte Welt.
So entstand in ihm der Eindruck, dass nichts von seinem Werk vor dem Bestand haben kann, was eigentlich nötig wäre und weiterführen würde. Nichts ist hilfreich angesichts des Schicksals, das jedem Menschen bevorsteht: der Tod. Allein durch den Zeitablauf wird jedes noch so große Menschenwerk relativiert. Es wird in seiner Bedeutung zweifelhaft, so dass am Ende die bange Frage steht: Ist nicht alles Schall und Rauch, was ich geschaffen und bewirkt habe?
3. Unangenehme Fragen, die sich uns manchmal aufdrängen
Wahrscheinlich kommen wir alle einmal an den Punkt, an dem sich uns solche Fragen aufdrängen: Welchen Sinn hat das eigentlich alles, was ich hier tue? Welchen bleibenden Wert hat mein Lebensplan, der so schnell über den Haufen geworfen werden kann? Was ist eigentlich geblieben von den Ideen, die ich in meiner Jugend oder noch vor zehn, zwanzig Jahren hatte? Und was wird von dem, was ich dachte und tat, bleiben, wenn ich nicht mehr auf dieser Welt bin?
Und wenn ich als Christ an meinen Glauben denke und ihn einmal kritisch in den Blick nehme, dann kann ich nicht umhin festzustellen: Dieser Glaube, dieses Gottvertrauen ist offensichtlich mit so viel Unglauben und Misstrauen durchsetzt, dass ich mich ernsthaft fragen muss, ob nicht der Unglaube und das Misstrauen Gott gegenüber viel größer ist als das bisschen Glaube und Vertrauen auf Gott.
Vielleicht machen wir auch die Beobachtung: Wir mühen uns und tun, was wir können, um die Welt ein wenig besser zu machen. Wir versuchen, Freude in die Welt zu bringen. Hier und da gelingt es uns auch, einen Menschen glücklich machen. Aber die Welt dreht sich weiter, wie sie sich immer gedreht hat. Jedes Glück vergeht. Die Menschen sind, wie sie sind. Es gibt Fortschritte, aber ebenso viele Rückschritte. Die Finsternisse dieser Welt bleiben finster. Daran können wir nichts ändern.
4. Von einem, der aus Kleinem Großes macht
Doch es gibt auch eine andere Perspektive. Sie ist durch meinen Glauben bestimmt. Ich glaube, dass Gott durch all das Vergängliche, Unvollkommene und Vergebliche, was ich tue, etwas bewirken kann. Die Welt dreht sich zwar weiter, die Menschen bleiben dieselben und die Finsternisse verwandeln sich nicht in Licht. Und doch bewirkt Gott im Kleinen und Unmerklichen etwas Großes und Spürbares – und zwar durch Menschen. Ich hoffe, auch durch mich.
Ich kann die Welt nicht verbessern. Ich kann die Menschen nicht verändern. Ich kann das Böse und den Tod nicht aus der Welt schaffen. Ich kann nur mit meinen bescheidenen Mitteln versuchen, hier und da ein Licht in die Finsternis zu stellen – eine flackernde Kerze in den tosenden Sturm der Welt.
Mehr kann ich nicht tun. Was daraus wird, liegt nicht in meiner Hand. Ich kann nur hoffen, dass Gott dieses flackernde Licht nicht gleich wieder verlöschen lässt; dass er aus meinen unzulänglichen Versuchen das Wunder entstehen lässt, dass sie Gott die Ehre geben und den Menschen Gutes tun. Ich kann nur hoffen, dass Gott mein kleines, bedeutungsloses Werk zu einem Puzzleteil in seinem großen, die Welt verändernden Werk macht.
5. Warum es keinen Grund zur Resignation gibt
Liegt also doch etwas an meinem Werk? Ich kann das nicht so empfinden. Meine Lebenszeit ist wie nichts in Gottes Augen (Ps 39,6). Wenn etwas aus meinem Leben wird, dann ist es das Werk des Gottes, der das Tote lebendig macht und das ins Dasein ruft, was nicht ist (Röm 4,17).
Genauso ist es auch mit meinem Glauben. Ich empfinde ihn nicht als mein Werk, meine Entscheidung für Gott, mein Vertrauen, zu dem ich mich aus eigenem Vermögen aufgeschwungen habe. Ich erlebe meinen Glauben vielmehr als Gottes Werk in mir und mit mir, so wie es Eph 2,8 sagt: Mein Glaube kommt nicht aus meiner eigenen Kraft, sondern er ist Gottes Gabe, die er mir unabhängig von meinen eigenen Taten und Entscheidungen schenkt.
Insofern halte ich daran fest:
An Gottes Segen ist alles gelegen.
Ich glaube, dass Gottes Segen ein völlig unzulängliches menschliches Werk zu einem bedeutenden Werk machen kann. Und dass Gott übrigens nicht nur durch Christinnen und Christen, sondern auch durch nicht an ihn Glaubende Gutes wirken kann.
Jesus sagte einmal zu seinen Jüngerinnen und Jüngern (Joh 15,5):
Ohne mich könnt ihr nichts tun.
Das heißt umgekehrt: Mit ihm, mit seinem Segen können "wir" etwas tun – etwas bewegen, etwas verändern, ja, etwas Unerwartetes, Unvorstellbares bewirken. Mit Gottes Segen können "wir" – kann Gott durch uns! – das Reich Gottes in dieser verrückten Welt bauen – auf dass diese Welt heller werde, auf dass die Finsternis für ihn gar nicht finster sei, sondern die Nacht leuchtet wie der Tag (Ps 139,12).
Darum ist es nicht unser Schicksal, angesichts der Finsternis zu resignieren. Vielmehr ist es unsere Berufung, uns jeden Tag aufs Neue fröhlich und hoffnungsvoll von Gott in Dienst nehmen zu lassen. Und darauf zu vertrauen, dass wir ein Licht in dieser Welt sind – wo und wann Gott uns segnen will.
Wie Jesus sagte (Mt 5,14):
Ihr seid das Licht der Welt.
Wir müssen uns nicht zum Licht machen. Wir werden dazu gemacht. Dann sind wir es wirklich.
* * * * *
Foto: Josep Monter Martinez auf Pixabay.
Hallo Klaus,
ich möchte Dir an dieser Stelle doch widersprechen. Ich würde diese Aussage gerne bewusst erweitern wollen:
Ich empfinde mein Leben auch - wenn auch nur zu einem bestimmten geringeren Teil - als "mein Werk in dieser Welt", in der ich Verantwortung übernehme - oder auch nicht. Wie wäre unsere Welt wenn sie letztlich "nur" in unserem Vertrauen auf die Liebe und die Macht Gottes stünde?
Je älter ich werde, desto mehr komme ich zu dieser Einsicht. Mit anderen Worten: Mein Glaube verändert sich mit und in meiner (schwindenden) Lebenszeit, die mir zunehmend als ein wahres Gottesgeschenk erscheint.
Mit herzlichem Gruss
Michael
vielen Dank für deinen Widerspruch. Du thematisierst damit ein theologisches Problem, nämlich die Frage nach dem Anteil des Menschen an dem Guten, was er tut. Von der Reformation herkommend setze ich diesen Anteil verschwindend gering an.
Ich möchte zunächst ein mögliches Missverständnis ausschließen: Ich meine nicht, dass christliche Existenz allein im Vertrauen auf die Liebe und Macht Gottes besteht, der es schon richten wird, und dass sie es sich deshalb bequem macht und die Hände in den Schoß legt. Sondern ich meine, dass wir zur Verantwortung für unser Leben und für die Welt gerufen sind und deshalb bereit sein sollen, diese Verantwortung auch tatsächlich zu übernehmen.
Ich meine aber auch, dass wir zu schwach sind, das Vertrauen zu Gott und die ethische Verantwortung aus eigener Kraft aufzubringen und dass wir deshalb der Kraft Gottes bedürfen, die in uns Glaube und Handeln bewirkt. Die Bibel spricht von Gottes Geist, der in den Menschen eingeht und ihn von innen heraus verändert, "auf dass sich kein Fleisch (kein Mensch) vor Gott rühme" (1Kor 1,29). Ich habe leider Christen kennengelernt, die voller Selbstruhm in Bezug auf ihre guten Taten und ihren starken Glauben waren, und fand das unerträglich.
Natürlich sind wir beteiligt, wenn Gott in uns wirkt. Wir sind gehalten, sein Wirken in uns zuzulassen, ihm nicht zu widerstreben und seinen Geist nicht "auszulöschen" (1Thess 5,19), also unwirksam zu machen. Das kann ich aber nicht als lobenswerte Tat des Menschen betrachten, sondern eher wie das Zugreifen eines Hungernden nach dem ihn rettenden Brot: Es ist eigentlich keine Entscheidung des Hungernden, das Brot zu nehmen, es ist keine Tat, zu der er sich nach Abwägung aller Vor- und Nachteile entschließt, sondern es ist das Selbstverständliche, der natürliche Reflex, dass der Hungernde das Brot dankbar ergreift, um sein Leben zu erhalten.
Auf dieser Ebene siedle ich den Anteil des Menschen an seinem Glauben und Handeln an. Unsere Schwierigkeit besteht sicher darin, dass wir uns dann ganz von Gottes Gnade abhängig machen und darauf verzichten müssen, uns unser Heil selbst zu verschaffen. Aber gerade darauf kommt es an: ganz aus dem Vertrauen darauf zu leben, dass Gott uns gnädig bleiben und uns seine Kraft nicht entziehen wird - wenn wir denn bereit sind, sie anzunehmen. Dass offenbar viele Menschen das nicht tun, ist das eigentlich Unbegreifliche und zeigt wieder, dass die Ursünde darin besteht, wie Gott sein zu wollen: sich nicht auf seine Gnade zu verlassen, sondern sie sich selber verschaffen, also die eigene Kraft an die Stelle der Kraft Gottes zu setzen.
Das alles ist für mich nicht graue theologische Theorie, sondern ein in Glaubenskämpfen errungenes Erlebnis von Freiheit: Ich muss nicht für mein Heil sorgen, muss nicht verkrampft um Glauben und Handeln ringen (was mir nicht gelungen ist), sondern kann all das aus Gottes Händen empfangen, muss nur bereit bleiben, mich ihm auszuliefern und von ihm beschenken zu lassen. Das ist schwierig genug für uns "aufgeklärte" Menschen, die wir uns keinem Herrn ausliefern, sondern unser eigener Herr sein wollen.
Viele Grüße
Klaus