Wandelt sich rasch auch die Weltwie Wolkengestalten,alles Vollendete fälltheim zum Uralten.Über dem Wandel und Gang,weiter und freier,währt noch dein Vor-Gesang,Gott mit der Leier.Nicht sind die Leiden erkannt,nicht ist die Liebe gelernt,und was im Tod uns entfernt,ist nicht entschleiert.Einzig das Lied überm Landheiligt und feiert.Rainer Maria Rilke
Zu schnell scheint sich die Welt zu wandeln. Die Zukunft ist unbekannt, und das Unbekannte macht Angst. Und doch: Aller Wandel, alles Vollendete, fällt nicht ins Nichts, sondern fällt heim zu seinem uralten, ewigen Grund.
Denn über dem Unbekannten, das uns Angst macht, erklingt ein uralter Vor-Gesang, das Vorzeichen und die Begleitung alles Weltgeschehens: Gott singt – er singt vor aller Zeit, und er singt uns vor – –
Übertönt vom Lärm der Welt müssen wir die Ohren spitzen, um es zu hören. Denn es ist ein leises Lied, von der Leier begleitet; aber ein Lied der Freiheit und Weite. Ein Lied, das die, welche Ohren haben zu hören, von der Angst befreit.
Wir schweben im Schleier des Unbekannten. Des Todes Nebel liegt über allem. Nur das Lied heiligt und feiert das Leben.
Das Lied singt uns, die weder den Sinn der Leiden erkannt noch die Liebe gelernt haben, vom Ende der Leiden, vom Geschehen der Liebe und von der Entschleierung des Todes.
Quelle: Rainer Maria Rilke: Die schönsten Gedichte. Insel Verlag Berlin. 10. Aufl. 2020. S. 106.