Theologische Forschung und christlicher Glaube
Klaus Straßburg | 17/12/2020
In diesem Artikel erfährst du etwas
- über meine erste Begegnung mit theologischer Schriftauslegung
- über den alten und neuen Forschungsstand zur Auslegung der fünf Bücher Mose
- darüber, ob theologische Forschung für den Glauben hilfreich ist oder alles beliebig erscheinen lässt
- über die Inspiration der biblischen Schriften
- darüber, wie wir überhaupt eine Sache wirklich verstehen können.
* * * * *
Es war in den 1980er Jahren: Wir jungen Studierenden saßen im theologischen Seminar und staunten. In unseren Jugendkreisen und CVJMs hatten wir die Bibel ganz normal Vers für Vers und Kapitel für Kapitel gelesen. Jetzt aber lernten wir, dass die fünf Bücher Mose nicht nacheinander aufgeschrieben sein sollten, sondern aus verschiedenen Schriften nach und nach zusammengesetzt. „Was machen die da mit unserer Bibel?" fragten wir uns. Was bleibt von ihr übrig, wenn man sie in verschiedene ältere Textdokumente zerlegt, die danach auch noch ergänzt wurden? Das Alte Testament glich eher einem Puzzle, bei dem hier ein größerer Teil des Bildes dazukam und dort noch ein kleines Stück ergänzt wurde, bis das Bild (also das Alte Testament) vollständig war – aber aus vielen kleinen und größeren Teilen zusammengesetzt.
Schließlich musste ich meine erste theologische Hausarbeit schreiben. Wir bekamen mehrere alttestamentliche Texte zur Auswahl. Ich suchte mir den, wie ich fand, schwierigsten aus: die Geschichte von Jakobs Kampf am Jabbok (1Mo/Gen 32,23-33). Diesen schwierigen Text wollte ich endlich einmal verstehen und dachte: Ich will doch mal sehen, ob diese wissenschaftliche Methode, mit biblischen Texten umzugehen, wirklich zum Verstehen hilft. Nach drei Wochen war die Hausarbeit fertig – und ich hatte diesen schwierigen Text zum ersten Mal in meinem Leben verstanden. Ich hatte mehrere Textschichten ausfindig gemacht: einen Grundtext und mehrere Ergänzungen, bis zu dem Bibeltext, wie er uns heute vorliegt. Die schwierigen Stellen dieses Textes konnte ich durch die verschiedenen Textschichten erklären. Und die darauf aufbauende Auslegung des Bibeltextes konnte ich mit meinem Glauben gut in Einklang bringen.
1. Der alte Forschungsstand
Ich will das, was wir damals lernten, noch etwas genauer erklären: Die fünf Bücher Mose wurden nicht von einem oder mehreren Verfassern nacheinander geschrieben. Sie sind vielmehr (vereinfacht gesagt) so entstanden: Zuerst hat man sich verschiedene biblische Geschichten mündlich erzählt. Nach und nach wurden Gruppen von Geschichten zusammengefasst und aufgeschrieben. Daraus sind größere Textsammlungen entstanden, vor allem drei sogenannte „Grundschriften". Diese drei Grundschriften wurden dann wiederum miteinander verbunden. Sie wurden aber nicht hintereinander aufgeschrieben, sondern miteinander verschachtelt. Die daraus entstandenen Textkomplexe wurden weiter überarbeitet und ergänzt, und irgendwann lagen dann die fünf Bücher Mose in der uns bekannten Fassung vor.
Die drei Grundschriften, von denen ich sprach, sind also in unserem heutigen Alten Testament noch enthalten – aber ineinandergeflochten. Die eine Grundschrift nannte man „Priesterschrift", weil sie in priesterlichen Kreisen Israels entstanden sein soll. Man erkennt sie gut, weil sie eine formelhafte Sprache pflegt, an Ordnung und kultischen Einrichtungen interessiert ist und Freude an Zahlen und Symmetrie hat. Eine andere Grundschrift nannte man „Jahwist", weil dieser Verfasser oder die Verfassergruppe den Gottesnamen „Jahwe" verwandte. Und die dritte Grundschrift hieß „Elohist", weil die Verfasser für „Gott" das hebräische Wort elohim benutzte.
Vielleicht denkst du jetzt: Was für ein Unsinn! Ich kann das gut verstehen. Es kommt einem schon komisch vor, wenn eine unbekannte Person oder Personengruppe mit dem Namen „Jahwist" oder „Elohist" benannt wird. Und wenn das Alte Testament in so viele Teile zerlegt wird. Aber das war der damalige theologische Forschungsstand, und es gehörte zu dem, was wir Studierende damals im Examen wissen mussten. Und ich will ehrlich sagen: Seit meiner Seminararbeit war ich mit dieser Methode versöhnt, so gut hat mir das Ergebnis gefallen. Diese Methode kann tatsächlich schwer verständliche Texte so erschließen, dass ein Sinn deutlich wird.
2. Der neue Forschungsstand
Heute, gut 30 Jahre später, sieht die Situation völlig anders aus. Aber freu dich nicht zu früh: Verschiedene Textschichten, Überarbeitungen und Ergänzungen setzt die Forschung auch heute noch voraus. Aber die Hypothese von den drei Grundschriften ist passé. Nur die Priesterschrift hat in der Forschung überlebt. Man ist sich zwar nicht ganz einig darüber, ob sie wirklich ein zusammenhängender Text war oder eine nachträgliche Bearbeitung des bereits vorliegenden Bibeltextes. Aber meistens wird von einer fertigen Grundschrift ausgegangen, die dann in die fünf Bücher Mose eingeflochten wurde. Die Existenz der beiden anderen Grundschriften (Jahwist und Elohist) wird in weiten Teilen der europäischen Theologie nicht mehr vertreten.
Was die Zeit der Entstehung der Priesterschrift betrifft, setzt man in der Forschung meist das späte babylonische Exil an (ca. 550-539 v.Chr.) oder auch die erste Zeit nach dem Exil (ca. 539-530 v.Chr.). Bei den nicht-priesterlichen Texten geht man mehr und mehr davon aus, dass sie alle später entstanden sind, während man früher beim „Jahwisten" und „Elohisten" von einer gegenüber der Priesterschrift früheren Entstehung ausging. Auch das hat sich also verändert.
Ich weiß, ich weiß, das klingt alles sehr theoretisch, und du fragst dich vielleicht, was das überhaupt bringen soll. Wenn ich dir jetzt sage, dass die Entstehung der fünf Bücher Mose noch weitaus komplizierter ist (es gibt viele literarische Schichten, Ergänzungen und Überarbeitungen, die ich hier gar nicht alle nennen konnte) und dass in Israel und Nordamerika meistens weiterhin der alte Forschungsstand vertreten wird (also mit Priesterschrift, Jahwist und Elohist), dann ist die Verwirrung wahrscheinlich komplett. Man kann mit Recht fragen, welchen Sinn eine Forschung macht, die offensichtlich auf so unsicheren Beinen steht. In einem Bericht über den Forschungsstand schreibt ein Theologe, der am Alten Testament arbeitet, dass die Entstehung der fünf Bücher Mose sehr komplex sei und wahrscheinlich niemals vollends aufgeklärt werden könne. Wohl wahr.
Wenn das aber so ist, dann kann man sich mit Recht fragen: Wozu überhaupt noch theologische Forschung, wenn alle Forschungsergebnisse so unsicher sind?
3. Wozu theologische Forschung?
Meine Antwort lautet: Theologische Forschung ist dennoch sinnvoll, und zwar aus drei Gründen:
- Widersprüche im Alten Testament lassen sich durch die Forschung erklären. Zum Beispiel die unterschiedlichen Zahlenangaben in der Sintfluterzählung: Einmal sollen pro Tierart je sieben Paare bei den reinen Tieren und je ein Paar bei den unreinen Tieren in die Arche (1Mo/Gen 7,2f), das andere mal sollen es je ein Paar bei reinen und unreinen Tieren sein (1Mo/Gen 7,8f.15f). Auch die Dauer der Sintflut wird einmal mit 61 Tagen angegeben (1Mo/Gen 8,6-12), das andere Mal mit 1 Jahr und 10 Tagen (1Mo/Gen 7,11; 8,13). Diese Unterschiede lassen sich nicht miteinander in Einklang bringen. Sie können aber dadurch erklärt werden, dass hier Textpassagen aus unterschiedlichen Traditionen, die unterschiedliche Zahl- und Zeitangaben enthielten, miteinander verbunden wurden.
- Die theologische Forschung zeigt, dass es sich bei biblischen Texten nicht um historische Protokolle oder naturwissenschaftliche Studien handelt, sondern um Verkündigungstexte. Die Verfasser wollten schlichtweg ihren Glauben weitergeben. Dazu erzählten sie die Geschichten, die ihnen zum Beispiel von von Abraham, Isaak und Jakob überliefert waren. Es war ihnen dabei nicht entscheidend wichtig, dass jedes Detail dieser Geschichten sich genau so zugetragen hatte, wie die Geschichte es erzählte. Es kam ihnen auch nicht darauf an, dass die Welt in genau sieben Tagen entstanden ist, wie es die erste Schöpfungsgeschichte erzählt. Sondern es ging ihnen darum, dass die Welt trotz aller geschichtlichen Katastrophen nicht im Chaos versinkt. Und zwar deshalb nicht, weil Gott der Welt eine wohltuende Ordnung gegeben hat, die sich schon in der Ordnung der sieben Schöpfungstage ausdrückt. Diese Ordnung wiederholt sich bis heute Woche für Woche: eine gute Ordnung Gottes. Und es war den Verfassern der biblischen Erzählungen wichtig, dass Gott Abraham, Isaak und Jakob durch alle Widrigkeiten und Gefahren des Lebens hindurchführte und dass er ihnen (und damit Israel) einen ewigen Bund verheißen hat. Die theologische Forschung kann also deutlich machen, dass den Verfassern der biblischen Texte die Inhalte wichtiger waren als die historische Richtigkeit des Erzählten. Das bedeutet nicht, dass alles Erzählte frei erfunden ist. Aber es bedeutet, dass nicht die historische Richtigkeit den Kern des Erzählten ausmacht, sondern die Begegnung Gottes mit den Menschen und seine Fürsorge für die Schöpfung.
- Die theologische Forschung macht deutlich, dass die biblischen Texte vielfältig und vielstimmig sind. Sie sind im Laufe von Jahrhunderten entstanden. Erzählungen wurden oft erst mündlich überliefert und später aufgeschrieben. Mitunter wurde das Aufgeschriebene später ergänzt – nicht, um es für falsch zu erklären, sondern um ihm einen neuen Aspekt hinzuzufügen. Denn inzwischen hatte sich die Welt verändert und es gab neue Probleme und Fragestellungen. Außerdem fühlen und denken die Menschen unterschiedlich und setzen darum jeweils unterschiedliche Schwerpunkte, ohne damit einen anderen Akzent für falsch zu halten. So zeigt die theologische Forschung, dass der Glaube sich vielstimmig ausdrückt – nicht beliebig, aber auch nicht monoton. Es geht weder um beliebige und spekulative Aussagen über Gott und die Welt noch um die Betonung nur einer einzigen Perspektive. Das ist sachgemäß, weil Gott nicht auf einen einzigen Nenner zu bringen ist und deshalb eine einzige Sichtweise nicht behaupten darf, allein die Wahrheit Gottes zu haben. Nur eine begrenzte, nicht beliebige Vielstimmigkeit kann die Wahrheit Gottes erfassen. Denn Gott bleibt allen unseren Erkenntnisversuchen gegenüber ein Geheimnis, das von uns nicht zu ergründen ist, sondern das sich selbst uns zu verstehen geben muss, damit wir etwas von ihm verstehen. Es ist wie ein Symphonieorchester oder ein vielstimmiger Gesang, der erst durch seine Vielstimmigkeit etwas Wunderbares ist. Ein monotones Wiederholen immer derselben Töne wäre dagegen unerträglich langweilig. Und ein grenzenlos vielstimmiges Herausschreien irgendwelcher Töne ergäbe keinen Gesang, sondern ein ebenso unerträgliches Krächzen.
4. Zerstört die theologische Forschung den Glauben?
Die theologische Forschung zerlegt also den biblischen Text in verschiedene Schichten der Überlieferung, hinterfragt seine wortwörtliche Übereinstimmung mit historischen Ereignissen und lehnt die absolute Einstimmigkeit aller biblischen Aussagen über Gott ab. Man kann die Frage stellen, ob eine solche Forschung nicht den christlichen Glauben zerstöre. Ich persönlich habe die gegenteilige Erfahrung gemacht. Mir hilft diese Forschung, biblische Texte besser zu verstehen und Widersprüche nicht auszublenden, sondern als unterschiedliche Glaubensperspektiven ernst zu nehmen.
Wichtig ist mir dabei aber, dass dieser Umgang mit biblischen Texten keine Beliebigkeit bedeutet. Man könnte ja den Schluss ziehen: Wenn schon in der Bibel unterschiedlich von Gott geredet wird, dann kann sie kein Maßstab für die Wahrheit Gottes sein und wir können auch heute munter drauflosspekulieren, wer oder was Gott eigentlich sein könnte.
Dem muss ich vehement widersprechen. Denn dann würde man einer grenzenlos beliebigen Spekulation das Wort reden, hinter der schließlich jede Wahrheit abhanden käme. Die biblischen Schriften und ihre Zusammenstellung zu unserer heutigen Bibel sind zwar Texte, die in der Geschichte entstanden sind – in der Geschichte mit all ihren Brüchen, scheinbaren Zufälligkeiten und ebenso scheinbaren menschlichen Irrtümern. Das Wunder besteht für mich darin, dass durch diese geschichtlich „zufälligen" Prozesse Gott sich uns zu verstehen gibt – durch menschlich unvollkommene Worte und Textzusammenhänge. Durch Geschichtliches gibt Gott sich zu erkennen, genauso wie er sich durch den geschichtlichen Menschen Jesus von Nazareth zu erkennen gegeben hat. Wer die biblischen Texte so behandelt, als seien sie ihren Verfassern Wort für Wort von Gott eingeflüstert worden, der muss eigentlich davon ausgehen, dass Gott auch Jesus jedes seiner Worte eingeflüstert hat. Das ist aber schwer vorstellbar, will man Jesus nicht als willenloses Wesen, eine Art göttlichen Roboter, verstehen.
Doch erhebt sich hier ein gewichtiger Einwand: Sagt nicht die Bibel selbst, dass ihre Texte durch Gott inspiriert, also den Verfassern wortwörtlich eingegeben worden sind?
5. Die Inspiration der biblischen Schriften
Schon vor Jesu Geburt ist das Judentum davon ausgegangen, dass die alttestamentlichen Texte von Gottes Geist „durchweht" seien. Das Neue Testament geht davon aus, dass Jesus „vom heiligen Geist erfüllt" war (Lk 10,21; Mk 1,9-11). Auch Paulus hat für sich beansprucht, Gottes Geist zu haben und aus ihm heraus zu reden (1Kor 2,10-16; 7,40b). Jesus legte die heiligen Schriften des Judentums, also das Alte Testament, aus (Lk 24,27.44f) und betonte die Geltung des Alten Testaments (Mt 5,18), ebenso Paulus (Röm 15,4).
In den ersten Jahrhunderten nach Christus wurde die absolute Gültigkeit der biblischen Schriften immer wieder betont. Hier begegnet erstmalig der lateinische Begriff „Inspiration" (inspirátio). Das Wort bedeutet zu Deutsch „Eingebung, Erleuchtung". Die Verfasser der biblischen Schriften wurden also als vom heiligen Geist erleuchtete Menschen verstanden, und die Geltung ihrer Texte sollte nicht auf eigenen spekulativen Überlegungen beruhen, sondern darauf, dass Gottes Geist ihnen den rechten Glauben und die rechten Gedanken eingegeben hat. Die biblischen Texte wurden als von Gott „gehaucht" verstanden (griechisch theópneustos, zusammengesetzt aus theós = Gott [auch in „Theologie"] und pneuma = Geist, Wind, Hauch [auch in „pneumatisch"]). Das heißt: Die biblischen Texte gehen auf den heiligen Geist und damit auf Gott selbst zurück. Mit dieser Aussage sollte die unantastbare Wahrhaftigkeit und Irrtumslosigkeit der Bibel begründet werden.
Noch weiter ging die protestantische Theologie im 17. Jahrhundert. Sie wollte die Klarheit und Irrtumslosigkeit der Bibel gegen kritische Stimmen verteidigen, indem sie die Inspiration als wörtliches Diktat Gottes verstand (Verbalinspiration). Das wurde auf 2Tim 3,16 zurückgeführt. Für diesen Text sind zwei Übersetzungen möglich:
1. Jede Schrift ist von Gott gehaucht (theópneustos) und auch nützlich zur Lehre, zur Zurecht-
weisung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.
2. Jede von Gott gehauchte (theópneustos) Schrift ist auch nützlich zur Lehre, zur Zurechtweisung,
zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit.
Nach der ersten Übersetzung sagt der Text, dass jede biblische Schrift von Gott gehaucht ist (und nützlich zu bestimmten Zwecken). Nach der zweiten Übersetzung sagt der Text, dass jede von Gott gehauchte Schrift nützlich ist (zu bestimmten Zwecken).
Welcher Übersetzung man auch den Vorzug gibt, von einem wörtlichen Diktat durch Gott ist jedenfalls nicht die Rede. Man kann aber herauslesen, dass jedes Schriftwort von Gott „gehaucht" wurde, dass es also auf Gott selbst und das Wirken seines Geistes zurückgeht. Ich verstehe das so, wie es auch in den ersten Jahrhunderten nach Christus verstanden wurde: Die biblischen Texte wurden von Gott „gehaucht", das heißt Gott hat den Menschen, die die Texte schrieben, seinen Geist gegeben, und er wirkt bis heute mit seinem Geist durch diese Texte. Darum sind sie für uns maßgeblich.
Die Verbalinspiration, also das Wort-für-Wort-Diktat der biblischen Texte, ist demnach nicht in der Bibel ausgesagt. Wohl aber ist gesagt, dass die biblischen Texte nicht auf zufälligen Gedanken ihrer Verfasser gründen, sondern auf göttlicher Geistbegabung, und dass diese Texte deshalb bis heute Gültigkeit beanspruchen können. Dies entspricht auch einer Aussage in 2Petr 1,20f:
Eine Weissagung der Schrift entsteht nicht durch eigenmächtige Auslegung [eines Menschen]; denn nicht durch den Willen eines Menschen wurde jemals eine Weissagung hervorgebracht, sondern Menschen haben von Gott her geredet, indem sie vom heiligen Geist getrieben wurden.
Der heilige Geist aber passt in kein System, und darum ist auch das von ihm Gewirkte in kein System zu pressen. Er ist nichts Statisches, Festgelegtes und Fixierbares, sondern etwas Lebendiges und immer wieder Überraschendes. Die von ihm gewirkten Schriftworte sind deshalb auch lebendiges, immer wieder überraschendes und neu von uns zu bedenkendes und auszulegendes Wort Gottes. Darum gilt beides: Kein Buchstabe der Schrift wird vergehen und seine Gültigkeit verlieren (Mt 5,18). Und zugleich muss der Sinn der Schrift immer wieder in neue Worte gefasst werden, wie Jesus selbst es tat (z.B. Mt 5,21f.27f). Denn auch die Schrift ist nichts Statisches, Fixierbares, sondern sie wird in jeder Situation aufs Neue von Gottes Geist mit Leben gefüllt.
So beginnt der Verfasser des Lukasevangeliums seine Darstellung damit, dass er feststellt, schon viele Christen vor ihm hätten die Geschichte Jesu aufgeschrieben – und er fügt seine Darstellung hinzu, die sich in manchem von den vorausgegangenen Darstellungen unterscheidet. Offenbar hielt er es für geboten, das Ganze nun noch einmal neu aus seiner Sicht und für seine Leserschaft zu erzählen (Lk 1,1-4).
Aus Hes/Ez 20,25f kann man sogar schließen, dass manche alttestamentlichen Gebote keine unveränderlichen, statischen Vorschriften sind, sondern der lebendigen Beziehung zwischen Gott und Israel dienen. Weil diese Beziehung sich aber in der Geschichte verändert, gibt es auch eine Entwicklung dessen, was Gott von Israel fordert. Es ist jeweils das, was ihrer Beziehung in neuer Zeit und neuer Situation entspricht.
6. Mit der Bibel "eins werden"
Die Bibel ist mir das maßgebliche Zeugnis von Jesus Christus. Durch die biblischen Texte kann Gott uns unmittelbar ansprechen, ohne dass wir irgendein Hintergrundwissen hätten. Darum hat es sein gutes Recht, die biblischen Texte so zu lesen, wie sie uns vorliegen, also ohne theologische Vorkenntnisse und ohne sie in verschiedene Textschichten aufzuspalten. Um die Texte (besser) zu verstehen und Missverständnisse zu vermeiden ist es aber oftmals hilfreich, wenn man über Hintergrundwissen verfügt. Dies kann man sich heute relativ einfach durch entsprechende allgemeinverständliche Literatur aneignen.
Für jedes Verstehen und auch das Verstehen der Bibel gilt grundsätzlich: Man muss sich in die Wirklichkeit, die man verstehen will, hineinbegeben. Man kann nicht aus der Distanz heraus verstehen. Will man die Liebe verstehen, so reicht es nicht, sie auf einen biochemischen Vorgang im Gehirn zu reduzieren. Von außen her kann man nur beobachten, was geschieht, wenn jemand liebt. Um aber zu verstehen, was Lieben bedeutet, muss man aus der Rolle des distanzierten Beobachters heraustreten und – lieben.
Das gilt sogar für naturwissenschaftliche Forschungen: Um einen Vogel zu verstehen, reicht es nicht aus, ihn nur distanziert zu betrachten und seine Verhaltensweisen detailliert zu analysieren. Man muss sich vielmehr am Sein des Vogels beteiligen, muss eine Beziehung zu ihm entwickeln und ein Stück weit selbst ein Vogel werden, muss eins mit ihm werden. Erst dann kann man annäherungsweise verstehen, was ein Vogel ist. Verstehen heißt: in Beziehung stehen, sich einlassen, mehr noch: lieben. Darum bedeutet das hebräische Wort für „erkennen" zugleich „lieben". „Sie erkannten einander" meint „Sie liebten einander". Denn man kann nur das in der Tiefe seines Seins erkennen, was man liebt.
Um die Bibel zu verstehen, müssen sowohl theologisch Forschende als auch religiöse Skeptiker einig mit ihr werden, in ihr vielstimmiges Zeugnis einstimmen, zu einem grundsätzlichen Einverständnis mit ihr kommen und im Sinne eines liebenden Verstehens eins mit ihr werden. Aus der literaturwissenschaftlichen oder skeptischen Distanz heraus gelangt man nur an die Oberfläche der Texte. Solange man bloß nach Textschichten sucht oder grundsätzliche Zweifel gegenüber den Texten hegt, verschließt man sich davor, von ihnen angesprochen zu werden.
Angesprochen wird man nur, wenn man die Rolle des wissenschaftlichen oder skeptischen Betrachters aufgibt und bereit ist, die Texte zu sich selbst sprechen zu lassen. Dann eröffnen sich neue Welten des Verstehens. Es geschieht eine „Horizontverschmelzung" (so der Philosoph Hans-Georg Gadamer): Unser persönlicher Lebenshorizont verschmelzt mit dem Horizont der Texte. Leben und Textaussage werden fließen ineinander. Der Mensch versteht, was der Text sagen will. Dann erst kann sich der Mensch wirklich entscheiden, ob er die Botschaft des Textes für sich gelten lassen will oder nicht.
Siehe zum Thema des Bibelverständnisses auch die beiden Artikel 5 Tipps zum rechten Verstehen der Bibel und Ein menschliches Buch.
* * * * *
Man bedenke, die biblischen Schrift hatte nicht immer das Ziel für alle verständlich zu sein. Das war schon bei Jesu Gleichnissen so oder den Visionen der Propheten, Johannes, Hesekiel, ...
Was wäre die Konsequenz wäre jeder Buchstabe diktiert worden? Was wäre, wenn er so diktiert worden wäre, damit es absichtlich Interpretationsspiel gibt, um diejenigen zu trennen, deren Herzen nicht rein sind? Was brächte, wenn jede Person mit ihrem Hintergrund, zu anderen ähnlichen oder gegensätzlichen Ergebnisse käme? Was würde das über die Buchstaben sagen? Was noch viel wichtiger ist, was würde das über Gottes Geist und unserem eigenen Geist sagen?
Ich kenne den Geist Gottes als eine unendliche Struktur, die sich selbst auf eine Art und Weise von selbst organisiert und belebt. Wenn man darum bittet und man in sich Raum dafür schafft, dann wir man Teil davon. Dann richten sich die Buchstaben von selbst aus und zeigen den Weg. Das ist weit mehr als nur der begrenzte Ratio in dieser endlichen Struktur, weil mehr als nur diese Zeit in dem Körper in dieser Realität. Die Schrift bereit uns schon auf das nächste Leben vor, zumindest bei dem der Gottes Liebe Raum gibt.
Gott kann sich aber uns zu erkennen GEBEN, wenn er es will. Das ist eine große Gnade und kein eigenes Verdienst. Es liegt also nicht an uns, wenn wir etwas von Gott erkennen, sondern allein an seiner Gnade. Wir können nur offen dafür sein, aber das verschafft uns nicht das Recht, dass Gott sich nun auch zu zeigen habe. Wir haben keinerlei Anspruch darauf, sondern müssen es Gott überlassen, ob, wie und wann er sich uns zu erkennen gibt. Wäre es anders, dann wäre Gnade keine Gnade mehr, sondern unser Verdienst.
Doch auch wenn wir Gott erkennen, bleibt er ein unergründliches Geheimnis. Wir können ihn nicht in den Griff bekommen. Er ist immer wieder anders, als wir es uns vorgestellt haben, und er handelt immer wieder überraschend für uns. Ein Gott, den wir im Griff hätten, den wir vollkommen ergründet hätten, ein Gott, von dem uns nichts mehr verborgen wäre, wäre kein Gott, sondern ein Gegenstand unserer Welt oder ein Hirngespinst unserer Gedanken.
Weil Gott größer ist als all unsere Gedanken über ihn, haben wir ihn auch nie vollends erkannt. Wir sind darauf angewiesen, in der Erkenntnis zu wachsen. Wir sind darum auch darauf angewiesen, auf den Mitchristen zu hören, der Erkenntnisse hat, die wir nicht haben, und von ihm zu lernen. Der unergründliche Reichtum Gottes kann uns nur in der Gemeinschaft der Christ*innen aufgehen. Niemand hat ihn für sich allein erkannt, niemand die Wahrheit gepachtet. Und wir werden immer wieder in verschiedenen Lebenssituationen neue Erkenntnisse über Gott gewinnen.
Weil nicht ein einzelner Mensch alles über Gott weiß, sprechen auch schon in der Bibel viele Menschen von Gott. Sie haben Unterschiedliches mit Gott erlebt, haben in unterschiedlichen Lebenssituationen unterschiedliche Erkenntnisse über ihn gewonnen, und doch ist es derselbe Gott, von dem sie sprechen.
Gott ist so groß, dass kein Mensch vollkommene Erkenntnis von ihm hat. Jetzt blicken wir wie durch einen antiken blinden Spiegel auf Gott, aber wir werden erst erkennen, wie er ist, wenn wir von Angesicht zu Angesicht vor ihm stehen werden. Das macht für mich den Reichtum Gottes aus und auch den Reichtum der Bibel. Sie hat für jeden Menschen in jeder Lebenssituation etwas, und in jeder neuen Lebenssituation kann uns Gott wieder anders und neu begegnen. Und wenn wir zu unterschiedlichen Erkenntnissen kommen, können wir darüber reden, unsere Erkenntnisse an den vielfältigen biblischen Stimmen messen und entscheiden, ob unsere Erkenntnis richtig war oder falsch.
Die Vielfalt Gottes ist keine Beliebigkeit. Sie ist die Vielfalt der Liebe, die niemals beliebig ist, aber immer wieder neuartig, überraschend, und sie stellt sich auf die verschiedenen Menschen ein und auf die verschiedenen Lebenssituationen und Denkweisen, und gerade indem sie sich auf uns vielfältige Menschen einstellt, ist sie ein und dieselbe Liebe.