Reich Gottes – Glück der Armut
Was ist das Reich Gottes (Teil 5)
Klaus Straßburg | 14/07/2023
Die Seligpreisungen Jesu gehören zu den bekanntesten Texten des Neuen Testaments. "Selig" oder "überglücklich" sein möchten wir alle. Jesus spricht diese "Seligkeit" bestimmten Menschen zu und ruft zugleich dazu auf, an diesem übermäßigen Glück unsere Mitmenschen teilhaben zu lassen.
Wäre es nicht ein Glück, vollkommen frei zu sein von allem, was wir besitzen und worum wir uns sorgen müssen, und auch frei davon, was andere uns einflüstern und welches Verhalten sie von uns erwarten?
Wir werden diese absolute Freiheit aus eigener Kraft kaum erreichen. Und doch spricht Jesus dieses übermäßige Glück gerade denen zu, die vielem, was Menschen für unbedingt notwendig und richtig halten, den Abschied gegeben haben.
1. Die Seligpreisungen
Jesu erste Seligpreisung gilt den Armen. Um sie geht es mir heute, weil ihnen das Reich Gottes verheißen wird. Mt 5,3 und Lk 6,20 formulieren unterschiedlich:
Selig sind die geistlich Armen; denn ihrer ist das Himmelreich.
Selig seid ihr Armen; denn euch gehört das Reich Gottes.
Aber wer ist eigentlich genau mit den "Armen" oder "geistlich Armen" gemeint? Dietrich Bonhoeffer hat treffende Worte dafür gefunden:
Mangel haben die Jünger an allen Stücken. Sie sind schlechthin "arm" (Lk 6,20). Keine Sicherheit, kein Besitz, den sie ihr eigen nennen könnten, kein Stück Erde, das sie ihre Heimat nennen dürften, keine irdische Gemeinschaft, der sie ganz gehören dürften. Aber auch keine eigene geistliche Kraft, Erfahrung, Erkenntnis, auf die sie sich berufen, deren sie sich getrösten könnten. Um seinetwillen [um Jesu willen] haben sie das alles verloren. Als sie ihm nachfolgten, da verloren sie ja sich selbst und damit auch alles, was sie noch reich machen konnte. Nun sind sie so arm, so unerfahren, so töricht, dass sie auf nichts mehr hoffen können als auf den, der sie gerufen hat. [...] Über ihnen, die um Jesu willen schlechthin in Verzicht und Mangel leben, bricht das Himmelreich an. Sie sind mitten in der Armut Erben des himmlischen Reiches. Sie haben ihren Schatz tief in der Verborgenheit, sie haben ihn am Kreuz. Das Himmelreich ist ihnen verheißen in sichtbarer Herrlichkeit, und es ist ihnen auch schon geschenkt in der vollkommenen Armut des Kreuzes.
(Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge, S. 106f)
2. Die vielgestaltige Armut der Glaubenden
Die Armut der Glaubenden ist umfassend. Es ist materielle Armut insofern, als die Glaubenden die weltweite Schere zwischen Armen und Reichen als Skandal empfinden und deshalb von ihrem Besitz etwas abgeben. Wenn ich schreibe, dass sie "etwas" abgeben, trifft das schon den kritischen Kern: Was wir in den reichen Ländern dieser Welt abgeben, ist immer nur "etwas", ist immer zu wenig, um wirklich einen "Ausgleich" zwischen Armen und Reichen zu schaffen (2Kor 8,13-15).
Es kann nicht das Ziel sein, dass wir so arm werden wie die Hungernden in der Welt. Aber es würde schon viel verändern, wenn wir uns den Armen annähern und auf alles Unnötige verzichten würden. Damit meine ich alles, was nicht zu einem erfüllten Leben in unserer westlichen Gesellschaft notwendig ist. Würden wir auf das Überflüssige verzichten und dadurch ein Stück weit ärmer werden, dann könnten wir zum Abbau der Armut beitragen. Ich sage das durchaus selbstkritisch.
Aber die Armut der Glaubenden umfasst viel mehr. Indem die Jünger Jesus nachfolgten, haben sie ihre Heimat aufgegeben. Sie haben die Sicherheit ihres Broterwerbs hinter sich gelassen und die Gemeinschaft der Großfamilie, des Freundeskreises und des Dorfes. Nicht, dass sie den Kontakt völlig aufgegeben hätten. Sie sind ja immer wieder nach Hause zurückgekehrt. Aber sie haben mit dem alten Leben und den alten Denkweisen gebrochen. Jesus selbst hat diesen Bruch im Konflikt mit seinen Eltern erlebt (Mt 12,46-50).
Es geht also auch um die Armut bezüglich der Lebenshaltung, in der man einstmals beheimatet war. Diese Lebenshaltung haben Jesu Jüngerinnen und Jünger aufgegeben, als sie sich Jesus anschlossen.
Aber mehr noch: Sie sind geistlich arm geworden. Mit anderen Worten: Sie haben sich verabschiedet von aller eigenen geistlichen Kraft, von aller eigenen geistlichen Erkenntnis und Weisheit, vom Vertrauen auf das Eigene. Was die Glaubenden also an Kraft und Erkenntnis haben und worauf allein sie vertrauen können, ist das, was Jesus und sein himmlischer Vater ihnen geben. Damit haben sie alles, wessen sie bedürfen; damit wird ihnen das Reich Gottes zu eigen.
3. Die Seligkeit des Leidens
Dieses Reich Gottes ist ein Schatz, aber ein verborgener. Er ist verborgen unter dem Kreuz: dort, wo nichts mehr hilft als allein Gott. Der Schatz besteht darin, sich ganz auf Gott zu verlassen und alle Kraft, alle Erkenntnis und Weisheit von ihm zu empfangen. Dieser himmlische Schatz ist zugleich weltliche Armut.
Jetzt wird deutlich, dass das Heben dieses Schatzes durchaus mit Leid verbunden sein kann. Das übergroße Glück ist in der unerlösten Welt meist getrübt. Es stellt sich auch selten sofort ein. Oft bedarf es eines Weges durch das Leid hindurch. Am Ende aber wird das Glück des Reiches Gottes stehen.
Vielleicht sollte man tatsächlich gar nicht von "Glück" sprechen, sondern von "Seligkeit". Wir haben Schwierigkeiten, uns einen leidenden Menschen glücklich vorzustellen, obwohl ich das nicht ausschließen möchte. Dass er trotz seines Leids in einem Stand der "Seligkeit" lebt, passt vielleicht besser in unsere Vorstellungswelt. Gibt es nicht auch ein seliges Leiden – ein Leiden, das für uns ein Glück ist? Und wäre ein solches Leiden nicht so etwas wie Glück jenseits aller vorübergehenden Glücksgefühle?
4. Das selige Glück der Abhängigkeit
Das Reich Gottes ist ja keine vorübergehende Episode, kein Gefühlsüberschwang, sondern etwas Dauerndes. Die Glaubenden orientieren sich ja um des Reiches willen nicht mehr am Weltgeschehen. Sie verlassen sich nicht mehr auf das, was Menschen zuwege bringen: nicht auf den Zeitgeist, auf eine Ideologie oder ein politisches Programm, nicht auf die allgemeine Volksfrömmigkeit, auf die Familie und den Freundeskreis, nicht auf das, was allgemein gedacht und geglaubt wird und was man gemeinhin tut. Der Schatz besteht darin, jeden Halt in der Welt zu relativieren, um Halt bei Gott zu erlangen. Darum sagte Jesus (Mt 10,39):
Wer sein Leben findet, der wird's verlieren; und wer sein Leben verliert um meinetwillen, der wird's finden.
Darum gehört das Reich Gottes nach Jesu Wort auch den Kindern (Mt 19,14):
Lasst die Kinder und wehrt ihnen nicht, zu mir zu kommen; denn ihnen gehört das Himmelreich!
Die Kinder haben nichts Eigenes, worauf sie bauen könnten. Sie sind ganz angewiesen, aber deswegen nicht unglücklich. Sie leben, wenn sie sich geborgen wissen, im seligen Glück der Abhängigkeit. Darum steht uns das Reich Gottes offen, wenn wir wie die Kinder werden. Jesus sagte (Mt 18,3):
Wahrlich, ich sage euch: Wenn ihr nicht umkehrt und werdet wie die Kinder, so werdet ihr nicht ins Himmelreich hineinkommen.
Wir verschließen uns das Himmelreich und enthalten es zugleich unseren Nächsten vor, wenn wir uns an das Eigene klammern, wenn wir nicht arm sein wollen. Gelassener aber und glücklicher macht uns das Vertrauen darauf, dass wir alles, was wir brauchen, von Gott erhalten, und die Freiheit, auf alles überflüssige Eigene zu verzichten. Dann werden wir unabhängiger, können entspannter leben und von unserem Überfluss abgeben. Damit alle am Glück des Reiches Gottes teilhaben.
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Weitere Teile der Reihe zum Reich Gottes:
Teil 1: Reich Gottes – Raum der Lebenslust.
Teil 4: Reich Gottes – geheilte Lebendigkeit.
Verwendete Literatur:
- Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. Hg. von Peter Zimmerling. Brunnen Verlag. 3. Aufl. Gießen 2020. S. 106f.
- Georg Eichholz: Auslegung der Bergpredigt. Neukirchener Verlag der Erziehungsvereins, Neukirchen-Vluyn 1965, S. 26-35.
- Marco Frenschkowski: Seligpreisungen. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 7. Hg. von Hans Dieter Betz u.a. Verlag Mohr Siebeck. 4. Aufl., Tübingen 2004. Sp. 1184-1186.
- Jürgen Moltmann: Wer ist Christus für uns heute? Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 1994. S. 19-21.
- Thomas Söding: Nächstenliebe. Gottes Gebot als Verheißung und Anspruch. Herder Verlag, Freiburg im Breisgau 2015. S. 119.
Foto: Klaus Straßburg.