Reich Gottes – geheilte Lebendigkeit
Was ist das Reich Gottes? (Teil 4)
Klaus Straßburg | 07/07/2023
Jesus verkündete, dass mit seiner Person das Reich Gottes angebrochen sei. Doch das waren zunächst nur Worte. Niemand hätte ihnen auf Dauer Aufmerksamkeit geschenkt, wenn ihnen nicht die entsprechenden Taten gefolgt wären.
Die drei Evangelisten Markus, Matthäus und Lukas berichten übereinstimmend, dass Jesus nach dem Beginn seiner Verkündigung Kranke geheilt hat. Dadurch wurde konkret, was er verkündete: Das Reich Gottes ist mit ihm angebrochen.
Dem Evangelisten Markus zufolge lehrte Jesus in der Synagoge von Kapernaum und heilte dort einen Menschen, der offensichtlich psychisch schwer erkrankt war – "ein Mensch mit einem unreinen Geist", den Jesus "austrieb", wie man damals sagte (Mk 1,23-26). Schon dadurch wird deutlich, dass das abgrundtief und unerklärlich Böse im Reich Gottes keinen Platz hat.
Noch an demselben Tag geschah etwas Außergewöhnliches (Mk 1,32-34):
Als es Abend geworden war, brachten sie nach Sonnenuntergang alle zu ihm [zu Jesus], die krank und besessen waren. Und die ganze Stadt war an der Türe versammelt. Und er heilte viele, die an mancherlei Krankheiten litten, und trieb viele Dämonen aus und ließ die Dämonen nicht reden, weil sie ihn kannten.
Eine fast gespenstische Szene: Nach Sonnenuntergang, also im Dunklen, denn Straßenbeleuchtungen gab es damals nicht, läuft das ganze Dorf zusammen und bringt die Kranken mit. Manche Krankheiten waren wohl schon damals eine Sache, die man nicht gern an die große Glocke hängte; erst in der Dunkelheit machte man sich verschämt auf zu dem Haus, in dem Jesus sich aufhielt. Aber dort waren so viele versammelt, dass nichts geheim bleiben konnte. Markus berichtet: Jesus heilte viele, nicht alle. Warum nicht alle, darüber verliert er kein Wort. Wir wissen es nicht.
Wunderbare Krankenheilungen werden in der Antike oft berichtet, nicht etwa nur von Jesus. Bei Jesus aber sind die Krankenheilungen mit dem Anbruch des Reiches Gottes verbunden. Jürgen Moltmann schreibt eindrücklich:
Wenn der lebendige Gott zu seiner Schöpfung kommt, dann müssen die Mächte der Qual weichen, dann werden die gequälten Geschöpfe gesund. Das Reich des lebendigen Gottes vertreibt die Bazillen des Todes und breitet die Keime des Lebens aus. Es bringt nicht nur Heil in einem religiösen Sinne, sondern auch Gesundheit in körperlicher Erfahrung. In der Heilung der Kranken wird das Reich leibhaftig. *
Gottes Reich ist nicht nur eine Sache der Seele. Es geht nicht nur um das Seelenheil. Die Aufspaltung des Menschen in Leib und Seele ist eine Erfindung der antiken griechischen Philosophie. Das hebräische Denken kennt diese Aufspaltung nicht.
Das hebräische Wort, das wir mit "Seele" übersetzen, beschreibt den ganzen Menschen in seiner umfassenden Lebendigkeit, mit seinem inneren und äußeren Leben. Dieses Leben in all seinen Dimensionen ist dem Menschen von Gott "eingehaucht" worden (1Mo/Gen 2,7). Wenn dieses Leben durch Krankheit eingeschränkt ist, ist dem Menschen etwas von seiner Lebendigkeit verloren gegangen. Ist der Mensch aber genesen, dann ist sein Leben in der Weise wiederhergestellt, wie Gott das Leben gewollt hat.
Viele Menschen finden heute keinen Zugang zu diesen wunderbaren oder auch wunderlichen Krankenheilungen Jesu. Aber es wird ihnen vielleicht der Gedanke verständlich sein, dass Gottes Lebenskraft unsere Person auch in ihrer Körperlichkeit durchdringen und zurechtbringen will.
Vom ewigen Leben her gedacht, also von der Vollendung des Reiches Gottes her, sind die Heilungsgeschichten Jesu gar nichts Besonderes, gar keine "Wunder", sondern das Selbstverständliche. Denn im zukünftigen Reich Gottes wird es selbstverständlich keine Krankheiten mehr geben. Weil aber die Zukunft schon in die Gegenwart hineinreicht, geschieht es auch schon jetzt, dass Menschen auf unerklärliche Weise gesund werden. Die Medizin nennt solche für sie unerklärlichen Heilungsprozesse "Spontanheilungen".
Es mag ein Anstoß für uns sein, dass nicht alle Kranken geheilt werden. Wir wissen nicht, warum die einen gesund werden und die anderen nicht. Aber wir wissen, dass das Reich Gottes noch nicht umfassend und in Vollkommenheit gegenwärtig ist. Deshalb gibt es noch das Schwere, auch schwere Krankheiten, die wir in unserem Leben zu tragen haben.
Doch welche Last wir auch immer zu tragen haben, es gibt eine Hoffnung. Wer keine Hoffnung auf Gottes Reich hat, für den können die Heilungsgeschichten der Bibel eigentlich nur Märchen sein. Wer aber an der Hoffnung auf dieses Reich festhält, der wird auch die Hoffnung auf Gottes heilendes Wirken in unserer gegenwärtigen Welt und spätestens in der zukünftigen Welt nicht verlieren. Dann können ihm Jesu Heilungsgeschichten zu Erinnerungen werden, die Hoffnung wecken.
Wer durch Krankheit eingeschränkt ist, der hat etwas von seinem Leben verloren. Darum wurden Krankheiten in biblischer Zeit, als man den Tod noch nicht so massiv verdrängte wie heute, als Vorboten des Todes verstanden. Umgekehrt hat ein Mensch, wenn Jesus ihn heilte, einen Vorgeschmack der Auferstehung verspürt. Wir sagen noch heute, wenn wir einer körperlichen oder psychischen Notlage entkommen sind: "Ich fühle mich wie neu geboren." Verstehen wir die Heilung als ein Wirken Gottes an uns, dann können wir darin eine ansatzweise Erfahrung des zukünftigen Auferstehungslebens erblicken.
Zur Erfahrung des Reiches Gottes gehört offenbar der Glaube. In seiner Heimatstadt Nazareth glaubte man Jesus nicht, so dass er dort nur wenige Kranke heilen konnte (Mk 6,1-6). An einem anderen Ort brachte ein Vater seinen Sohn zu Jesus, der an Epilepsie litt. Der Glaube des Vaters war nicht besonders stark. Er sagt zu Jesus: "Ich glaube; hilf meinem Unglauben!" Schon dieser schwache Glaube reichte aus dafür, dass Jesus seinen Sohn gesund machte. Immer wieder sagte Jesus zu denen, die er geheilt hat: "Dein Glaube hat dich gerettet" (z.B. Mk 5,34; 10,52).
Mit anderen Worten: Es gibt offenbar eine Wechselbeziehung zwischen unserem Glauben und dem Wirken Gottes an uns. Ich will damit nicht sagen, dass Gott bei denjenigen, die nicht an ihn glauben, nichts bewirken kann. Umgekehrt garantiert auch der stärkste Glaube nicht, dass eine Krankheit geheilt wird. Diejenigen, die nicht gesund werden, sind also nicht etwa selber Schuld daran. Aber es kann geschehen, dass wir Gottes Wirken an uns nicht zum Zuge kommen lassen. Seine heilende Kraft kann von uns geschmälert werden (1Thess 5,19). Es ist wie eine Mauer, die wir dann zwischen uns und Gott aufrichten: Sie könnte dem Positiven, das uns erreichen will, den Weg versperren.
Richten wir also keine Mauer auf zwischen uns und Gott! Öffnen wir uns für ihn und sein Reich! Dann bleibt das Reich Gottes nicht nur ein Wort, sondern gewinnt konkrete Gestalt in unserem Leben.
* * * * *
Weitere Teile der Reihe zum Reich Gottes:
Teil 1: Reich Gottes – Raum der Lebenslust.
Teil 5: Reich Gottes – Glück der Armut.
* Jürgen Moltmann: Wer ist Christus für uns heute? Chr. Kaiser / Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 1994. S. 15-18.
Foto: Klaus Straßburg.