Nichts als Theologie
Klaus Straßburg | 24/11/2020
Die evangelische Kirche versucht seit Jahrzehnten, den Mitgliederschwund zu stoppen. Dabei wurde regelmäßig gezählt und gerechnet: Studien über die Mitglieder wurden angefertigt und die künftige Entwicklung wurde hochgerechnet. Es wurden hunderte Bücher geschrieben und immer neue Konzepte unterschiedlichster Art entwickelt. Doch die Mitgliederzahlen gehen weiter nach unten.
Ich habe überhaupt nichts gegen Visionen und Ideen. Die Kirche braucht sie, wenn sie eine Kirche sein will, die, wie die Reformatoren sagten, immer zu reformieren ist. Die Kirche sollte also niemals nur ihren alten Stand bewahren wollen.
Dennoch hab' ich da mal eine Frage: Könnte es nicht sein, dass die Grundlage des Kircheseins bei all den Ideen und Konzepten irgendwie aus dem Blick geraten ist? Dass den Menschen, die man gewinnen will, gar nicht mehr erklärt wird, was es eigentlich bedeutet, Christ*in zu sein?
Ich sage mit Absicht Christ*in. Von kirchenoffizieller Seite spricht man eigentlich immer von Mitgliedern. Darum auch das viele Zählen und Rechnen. Anscheinend geht man davon aus, dass alle, die Mitglieder der Kirche sind, damit auch schon Christ*innen sind. Christ*in zu sein ist aber etwas anderes als Kirchenmitglied zu sein.
Ich denke, die Kirche sollte nicht Mitglieder werben, sondern für das Christsein werben. Wie aber wirbt man für das Christsein?
Der evangelische Theologe Karl Barth (1886-1968) trat in einer Zeit, als es um die Kirche auch nicht gerade gut bestellt war, dafür ein, Theologie zu treiben und nichts als Theologie. Oder weniger akademisch gesagt: über den Sinn des christlichen Glaubens nachzudenken, im guten Sinne zu streiten und diesen Glauben immer neu zu formulieren.
Bezeichnenderweise hat gerade diese Konzentration auf das Treiben von Theologie nicht nur die theologische Welt verändert, sondern auch politisch enorm viel bewirkt. Denn Theologie schließt Ethik, Diakonie und Seelsorge nicht aus, sondern ein. Aber sie muss erklären können, was theologische von profaner Ethik, Diakonie von medizinischer und sozialer Arbeit und Seelsorge von psychologischer Beratung unterscheidet.
Heute müsste man den Menschen ganz neu erklären, was Christ*innen eigentlich glauben und was nicht. Was zum Beispiel bedeuten eigentlich die Aussagen des Glaubensbekenntnisses (wenn man schon ein Bekenntnis sprechen will, dessen Formulierungen bis ins 4. Jahrhundert zurückreichen)?
Können wir den Menschen den Glauben schmackhaft machen, indem wir ihnen erklären, was mit Gott, dem „allmächtigen Vater" gemeint ist? Was es heißt, dass Jesus dessen „eingeborener Sohn" ist (ich scheiterte früher, obwohl christlich sozialisiert, schon am Wort „eingeboren")? Welche Rolle der heilige Geist und die Jungfrau Maria bei dessen Geburt spielten? Muss man, wenn man Christ werden will, an die Jungfrauengeburt glauben?
Können wir für den Glauben werben, indem wir erklären, dass er frei macht (eine andere Freiheit als die, machen zu können, was man will)? Dass er tröstet und Hoffnung weckt, wo nichts zu hoffen ist? Dass er eine Lebensperspektive, einen Sinn eröffnet und Orientierung bietet in einer Zeit der Fake News? Dass er die Möglichkeit respektvoller Diskussionen und guter Vielfalt bietet in einer Zeit der Spaltungen und des Hasses? Dass er keine Glaubenshelden hervorbringt, sondern zweifelnde und angefochtene Menschen, die dennoch an ihrem Glauben festhalten?
Wenn die Orientierung, das Befreiende, der Lebenssinn, die gute Vielfalt und das Tröstliche, das der Glaube bietet, deutlich würden, dann würden sich ja vielleicht mehr Menschen für das Christsein interessieren – und möglicherweise sogar Kirchenmitglieder werden.
Um christlichen Glauben zu erklären und in das tägliche Leben der Menschen hinein sprechen zu lassen, bräuchte es theologische Arbeit. Denn das Orientierende, Befreiende, Lebenssinn Vermittelnde usw. liegt nicht auf der Hand. Es muss darum immer neu gerungen werden. Aber wer vom Kirchenpersonal hat dafür heute noch Zeit? Wer hat bei all den Aktivitäten noch Zeit für die eine entscheidende Aktivität?
Nicht, dass all das gar nicht geschähe. Es geschieht täglich und es wird immer geschehen. Andernfalls würde die Kirche sterben. Es könnte aber deutlicher geschehen. Lauter und weniger verschämt. Bei den Menschen und weniger in der Kirchennische. Weniger formelhaft, dafür persönlicher. Angefochtener, suchender. Lebensnäher. Näher bei den Menschen und ihrer Sprache. Näher an ihrer Kultur und weniger die Kirchenkultur reproduzierend.
Das ist kein Patentrezept. Aber ich denke, es ist mal eine Überlegung wert. Die Arbeit der Haupt- und Ehrenamtlichen müsste ganz neu bestimmt werden. Theologisches Verstehen träte mehr in den Vordergrund. Denn nur wer seinen Glauben versteht, kann über ihn Auskunft geben und für ihn werben.
Aber bitte in aller Gelassenheit. Denn wir machen vielleicht Kirchenmitglieder, aber keine Christ*innen.
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Um etwas erklären zu können, muss man es zunächst einmal verstanden haben. Gott aber übersteigt unser menschliches Verständnis. Theologen bringen das oft als Argument, wenn man sie mit Nachfragen in die Enge getrieben hat; es gilt aber von Anfang an.
Mein Weg für die Kirche würde sich nicht an Barth "Theologie treiben" orientieren, sondern an Bonhoeffers "Beten und Tun des Gerechten".
Dass Gott unser menschliches Verständnis übersteigt, ist für mich zweifellos richtig. Und dennoch machen wir uns als Christ*innen Gedanken über Gott, versuchen ihn (in den Grenzen, die uns gesetzt sind!) zu verstehen und von ihm zu reden. Wichtig finde ich, dass sich Christ*innen zu diesen Grenzen ihres Verstehens bekennen und nicht meinen, sie wüssten alles über Gott (wie manche Christenmenschen den Eindruck erwecken).
Das Wissen um die Grenzen menschlicher Gotteserkenntnis gehörte übrigens von Beginn an zu Karl Barths Theologietreiben. Schon 1922 wurde sein vor Theologen gehaltener Vortrag "Das Wort Gottes als Aufgabe der Theologie" veröffentlicht, der sich um folgende drei Sätze drehte:
Wir sollen als Theologen (man könnte auch sagen: als Christ*innen) von Gott reden.
Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden.
Wir sollen beides, unser Sollen und unser Nicht-Können, wissen und eben damit Gott die Ehre geben.
Das klingt widersprüchlich und war verwirrend für mich, als ich es erstmals las. Barth meinte, dass nur Gott selbst von Gott reden, d.h. nur er selbst sich offenbaren könne. Der Dogmatiker stelle Gott als Gegenstand dar und rede deshalb nicht von ihm. Der Mystiker bleibe bei sich selbst und rede so auch nicht von Gott. Der Dialektiker rede in Position und Negation, in Ja und Nein und mache so zwar deutlich, dass Gottes Wahrheit jenseits alles menschlichen Begreifens liege, rede aber eben darum auch nicht von Gott. So könne der Theologe nur darauf warten und hoffen, dass Gott selbst das Menschenwort dazu benutzt, sich kundzutun.
Der interessante Aufsatz Barths ist auch im Internet verfügbar über die Seite https://jochenteuffel.com/2019/02/02/das-ziel-unsrer-wege-ist-dass-gott-selber-rede-karl-barths-vortrag-das-wort-gottes-als-aufgabe-der-theologie-vollstaendiger-text/