Matthias Claudius über das Vaterunser
Klaus Straßburg | 09/01/2022
Manchmal fällt mir das Beten schwer. Es fehlen mir einfach die Worte. Dann denke ich: Okay, mir fällt eben heute nichts ein. Aber es gibt ja noch das Vaterunser. Und dann bete ich das Vaterunser.
Auch dieses Gebet macht es uns aber nicht immer leicht. Denn es enthält manche Formulierung, die uns heute schwer verständlich ist. Dann steht man mitunter wieder vor Worten, mit denen man nichts anfangen kann, und das Beten wird schwer. Aber es gibt Hilfen.
Matthias Claudius zum Beispiel hat seine Gedanken zum Vaterunser veröffentlicht. Einen kürzeren Text von ihm möchte ich euch heute kundtun und kommentieren. Voranstellen aber möchte ich einige wenige Anmerkungen zu seinem Lebenslauf.
1. Zur Person des Matthias Claudius
Matthias Claudius wurde am 15. August 1740 in Reinfeld (zwischen Hamburg und Lübeck) geboren (siehe zum Folgenden Wikipedia und das Nachwort von Rolf Siebke im unten genannten Sammelband Sämtliche Werke, Seiten 975-983). Sein Vater war Pfarrer, seine Mutter die Tochter eines Flensburger Ratsherrn. Claudius studierte in Jena Theologie, aber die gelehrt-distanzierte Darbietung des Stoffes rührte ihn nicht an und er wechselte zum Jura- und Verwaltungsstudium (letzteres wurde damals Kameralwissenschaft genannt). Doch auch darin fand er keine Erfüllung. Wahrscheinlich machte er in Jura und Kameralwissenschaft einen Abschluss.
Nach dem Studium kehrte Claudius zunächst in sein Elternhaus zurück und trat dann eine Sekretärsstelle bei Graf Ulrich Adolph von Holstein in Kopenhagen an. Doch auch dort hielt es ihn nur knapp anderthalb Jahre, und er zog wieder bei seinen Eltern ein, wo er nun drei Jahre lang blieb. Danach arbeitete er von 1768 bis 1770 als schlecht bezahlter Journalist bei einer Hamburger Zeitung.
Im Januar 1771 zog Claudius in das damals dänische Wandsbeck bei Hamburg und wurde dort Redakteur der Zeitung Der Wandsbecker Bothe (so die damalige Schreibweise), die viermal wöchentlich erschien. Zu dieser Zeitung gehörte ein „gelehrter Teil", für den Claudius zuständig war.
1772 heiratete Claudius die damals 17jährige Wandsbeckerin Anna Rebekka Behn, mit der er zwölf Kinder bekam. Am Hochzeitstag notierte er in sein Tagebuch:
Nun habe ich meine drei H: Hof, Heimat, Hausfrau, und wenn das vierte H, der Herr, dabei ist und bleibt, so kann man restlos glücklich sein.
Im Jahr 1775 musste der Wandsbecker Bothe seinen Betrieb aus finanziellen Gründen einstellen. Claudius zog 1776 mit seiner Familie nach Darmstadt, wo er eine Stelle in der Verwaltung antrat. Doch die ungewohnte Beamtentätigkeit, Spannungen mit dem Vorgesetzten und die fremde Umgebung führten dazu, dass die Familie nach nur einem Jahr nach Wandsbeck zurückkehrte.
Claudius publizierte seine Schriften und Gedichte fortan weiter unter dem Namen Der Wandsbecker Bothe. Seine finanzielle Lage war bisher immer schwierig gewesen. Das änderte sich erst, als er vom Jahr 1785 an einen Ehrensold des dänischen Kronprinzen Friedrich erhielt, der von Claudius' literarischen Qualitäten beeindruckt war. Friedrich verschaffte ihm 1788 auch ein Revisorenamt bei einer schleswig-holsteinischen Bank.
Durch die Wirren der napoleonischen Kriege musste Claudius mit seiner Frau 1813 Wandsbeck verlassen und nach Kiel und Lübeck fliehen. Nach der Rückkehr nach Wandsbeck erkrankte er schwer. Am 21. Januar 1815 starb Matthias Claudius. Er liegt auf dem Historischen Friedhof Wandsbek begraben.
Claudius' Leben war oft von beruflichen Sackgassen und Geldsorgen geprägt. Er musste den Tod zweier seiner Kinder erleben: Sein erstes Kind starb kurz nach der Geburt. Später verlor er seine 20jährige Tochter Christiane, der er ein Gedicht widmete. Die umfassende Anerkennung seiner literarischen Arbeit erlebte er nicht mehr.
2. Gedanken zum Vaterunser
Matthias Claudius veröffentlichte eine Reihe von fiktiven Briefen eines gewissen Asmus an dessen Freund Andres. Einer dieser Briefe beschäftigt sich mit dem Gebet und besonders mit dem Vaterunser. Ich zitiere hier einen Auszug dessen, was Claudius darüber an Andres schreibt (aus dem Buch: Matthias Claudius: Sämtliche Werke. Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 6. Aufl. Darmstadt 1987, Seiten 164-166). Dabei behalte ich die ursprüngliche Orthografie und Interpunktion bei.
Claudius schreibt über das Vaterunser:
Sieh, wenn ich's beten will, so denk ich erst an meinen seligen Vater, wie der so gut war und mir so gerne geben mochte. Und denn [gemeint ist „dann", bitte auch im Folgenden „denn" durch „dann" ersetzen] stell ich mir die ganze Welt als meines Vaters Haus vor; und alle Menschen in Europa, Asia, Afrika und Amerika sind denn in meinen Gedanken meine Brüder und Schwestern; und Gott sitzt im Himmel auf einem goldnen Stuhl, und hat seine rechte Hand übers Meer und bis ans Ende der Welt ausgestreckt, und seine linke voll Heil und Gutes, und die Bergspitzen umher rauchen – und denn fang ich an.
Hier wird schon deutlich, wie Claudius sich mit konkreten Vorstellungen beim Beten hilft: Er denkt nicht an eine abstrakte Person, einen fernen Gott, sondern an seinen leiblichen Vater. Weil Gott wie Vater und Mutter ist, können wir an unseren Vater oder unsere Mutter denken. Wohl dem, der solche Eltern hatte, die mit ihrem Leben Gott veranschaulichen konnten – wenn auch in ganz unvollkommener Weise.
Weil Gott allen Menschen wohlgesonnen ist und ihnen gern Gutes gibt, sind alle Menschen Schwestern und Brüder. Und obwohl die Bergspitzen rauchen (vermutlich dachte Claudius an Vulkane), obwohl also Gefahren lauern, hält die gute Mutter bzw. der gute Vater seine rechte Hand segnend und schützend über die Welt und teilt mit der linken Heil und Gutes aus.
Das Lebensfeindliche ist also im Glauben nicht ausgeklammert oder verdrängt, sondern es ist zusammen mit allem Lebensfreundlichen eingeklammert in das Gute, das vor der Klammer steht und von ihm sein Vorzeichen erhält. Oder im Bild von Claudius: Auch die bedrohlich rauchenden Bergspitzen liegen unter der Hand Gottes. Diese schützende Hand hält also nicht alles Leid von uns fern. Aber sie segnet uns auch im Leid. So wirken Lebensfeindliches und Lebensfreundliches gemeinsam zum Guten mit, wie Paulus sagt (Röm 8,28). Das können wir natürlich im Leid nicht spüren. Aber wir können es glauben.
Vater Unser der du bist im Himmel.
Geheiliget werde dein Name.
Das versteh ich nun schon nicht. Die Juden sollen besondre Heimlichkeiten von dem Namen Gottes gewußt haben. Das lasse ich aber gut sein und wünsche nur, daß das Andenken an Gott, und eine jede Spur, daraus wir ihn erkennen können, mir und allen Menschen über alles groß und heilig sein möge.
Ich finde es sehr sympathisch, dass Claudius gleich zu Beginn eingesteht, dass er die Bitte „Geheiligt werde dein Name" nicht versteht. Man muss sich schon ein bisschen mit dem Sprachgebrauch des Alten Testaments auskennen, um das zu verstehen.
Der Name Gottes, also im Alten Testament Jahwe, steht für Gott selbst. Es geht darum, dass Gott geheiligt werde und nicht eine Bezeichnung Gottes. „Heiligen" bedeutet: Gott soll von allem Weltlichen, Profanen unterschieden und nicht mit ihm vermischt werden. Gott ist zwar in der Welt, aber er ist nicht die Welt, sondern unterschieden von der Welt.
Die Passivform „Dein Name werde geheiligt" diente damals zur Umschreibung einer Tat Gottes. Es war ein sogenanntes „göttliches Passiv" (lateinisch passivum divinum). Gemeint ist also: Wir Menschen können Gott nicht heiligen. Darum möge Gott selbst dafür sorgen, dass wir ihn heilig halten. Er möge uns die Kraft geben, dass wir ihn nicht mit unserem Denken, Wollen und Empfinden vermischen, sondern davon freihalten.
Die große Versuchung ist ja, dass wir uns einen Gott nach unseren Vorstellungen zurechtdenken, also gedanklich einen Götzen zimmern. Davor möge uns Gott bewahren.
Matthias Claudius hat das eigentlich ganz gut erfasst, wenn er sagt, dass unser Denken an Gott uns „über alles groß und heilig sein möge". Unser Denken an Gott kann uns also etwas Großes, Wichtiges sein, aber zugleich etwas Heiliges, so dass uns bewusst ist: Gott ist von all unseren Gedanken über ihn unterschieden. Das bedeutet nun nicht, dass wir nichts von Gott wissen können. Darum sagt Claudius zugleich, dass wir ihn „erkennen können" – wenngleich uns immer bewusst sein muss, dass unsere Erkenntnis begrenzt und vorläufig ist.
Eine gute Methode, mit etwas im Glauben, was wir nicht verstehen, umzugehen, ist der Satz von Claudius: „Das lasse ich gut sein." Wir lassen es ruhen, lassen es gut sein damit und wenden uns dem zu, was wir verstehen.
Zu uns komme dein Reich.
Hiebei denk ich an mich selbst, wie's in mir hin und her treibt und bald dies bald das regiert, und daß das alles Herzquälen ist und ich dabei auf keinen grünen Zweig komme. Und denn denk ich, wie gut es für mich wäre, wenn doch Gott all Fehd ein Ende machen und mich selbst regieren wollte.
Claudius denkt an den inneren Streit und Kampf in sich selbst. Das kennen wir gut: das Schwanken in uns, die verschiedenen Sehnsüchte und Gedanken, die uns hin und her treiben und nicht weiterkommen lassen. Wir schwanken zwischen Glauben und Zweifeln, Zweifeln und Glauben. Wie gut wäre es, wenn nicht unser Schwanken uns regieren würde, sondern Gott allem inneren Streit ein Ende machen würde.
Wir können bei der Bitte „Dein Reich komme" auch an die äußeren Streitigkeiten und Kämpfe in dieser Welt denken: an die Gewalt, den Hass, die Lieblosigkeit. Innerer und äußerer Friede gehören zusammen. Möge Gott sein Reich des Friedens bereits jetzt in unserer friedlosen Welt aufrichten und einst die ganze Welt mit seinem Frieden erfüllen.
Dein Wille geschehe wie im Himmel also auch auf Erden.
Hiebei stell ich mir den Himmel mit den heiligen Engeln vor die mit Freuden seinen Willen tun, und keine Qual rühret sie an, und sie wissen sich vor Liebe und Seligkeit nicht zu retten, und frohlocken Tag und Nacht; und denn denk ich: wenn es doch also auch auf Erden wäre!
Ich finde es schön, wie konkret sich Claudius hier den Himmel vorstellt: die Engel, die kein Leid kennen und sich „vor Liebe und Seligkeit nicht zu retten wissen".
Im Himmel gibt es nichts zu leiden, weil überall Gottes Wille geschieht. Diese Liebe und Seligkeit ersehnen wir auch für unser Leben und für die ganze Welt. Und wir dürfen darum bitten, dass diese Liebe und Seligkeit schon jetzt geschehen. Gott hat offene Ohren, wenn wir ihm unsere Sehnsucht danach vorlegen. Und er gibt gern, was wir ersehnen, wenn auch noch nicht zu jeder Zeit und an jedem Ort. Doch wenn er gibt, dann können wir schon jetzt frohlocken wie die Engel im Himmel.
Unser täglich Brot gib uns heute.
'n jeder weiß was täglich Brot heißt, und daß man essen muß solange man in der Welt ist, und daß es auch gut schmeckt. Daran denk ich denn. Auch fallen mir wohl meine Kinder ein, wie die so gerne essen mögen und so flugs und fröhlich bei der Schüssel sind. Und denn bet ich, daß der liebe Gott uns doch etwas wolle zu essen geben.
Das tägliche Brot wurde damals sicher mehr geschätzt, als es die meisten Menschen in einem reichen Land heute tun. Der volle Kühlschrank ist für die meisten etwas Selbstverständliches, und das Bewusstsein dafür ist geschwunden, dass es ganz und gar nicht selbstverständlich ist, jeden Tag satt zu werden. Darum ist es gut, für die tägliche Nahrung zu danken und darum zu bitten.
Aber man muss die Bitte nicht nur auf die Nahrung beziehen, sondern kann auch alles andere Lebensnotwendige einbeziehen. So können wir heute für die tägliche Gesundheit, unser seelisches Wohlbefinden, für Frieden und Liebe in unseren Beziehungen und vieles mehr bitten.
Mir ist in dieser Bitte auch das „uns" wichtig. Es geht nicht nur um mich und meine Familie. Es geht auch um die Menschen in unserem reichen Land, für die der volle Kühlschrank keine Selbstverständlichkeit ist, und um die Mangelernährten in den armen Ländern dieser Welt. „Unser tägliches Brot gib uns heute", also auch jenen, denen es an ausreichender und gesunder Nahrung mangelt.
Dabei denke ich auch daran, dass ich selbst Verantwortung trage dafür, dass alle Menschen genug zum Leben haben. „Unser tägliches Brot gib uns heute" heißt darum für mich auch: „Hilf mir, das tägliche Brot mit denen zu teilen, die nicht genug haben."
Und vergib uns unsere Schuld als wir vergeben unsern Schuldigern.
Es tut weh wenn man beleidigt wird, und die Rache ist dem Menschen süß. Das kömmt mir auch so vor, und ich hätte wohl Lust dazu. Da tritt mir aber der Schalksknecht aus dem Evangelio unter die Augen: und mir entfällt das Herz, und ich nehm's mir vor, daß ich meinem Mitknecht vergeben und ihm kein Wort von den hundert Groschen sagen will.
Hier drückt sich die Menschenkenntnis von Claudius aus: Wir sind auf Rache bedacht, wollen es dem anderen heimzahlen. Das ist vielleicht ein natürlicher Impuls. Aber das macht es nicht besser. Weil uns vergeben wird, sollte es selbstverständlich sein, dass auch wir vergeben.
Claudius denkt an das Gleichnis vom Schalksknecht oder unbarmherzigen Knecht in Mt 18,21-35. Der König erlässt seinem Knecht die Schulden von zehntausend Talenten, nachdem dieser vor ihm auf die Knie gefallen ist und um Erbarmen gebeten hat. Daraufhin geht der Knecht zu einem seiner Mitknechte, der ihm hundert Denare schuldete, und fordert sie zurück. Auch der Mitknecht fällt auf die Knie und bittet um Erbarmen. Der Knecht aber besteht auf seiner Forderung und lässt den Mitknecht ins Gefängnis werfen. Als der König davon erfährt, lässt er den Knecht zu sich rufen, missbilligt sein Verhalten und übergibt ihn den Folterknechten, bis er seine ganze Schuld bezahlt hat.
Wichtig ist ein Vergleich der beiden Schuldsummen: Der Knecht schuldet dem König das 500.000fache dessen, was ihm sein Mitknecht schuldet. Die Schuld des Knechts war eine so riesige Summe, dass sie eigentlich nicht zu erlassen war. Wenn wir Gott so viel schuldig bleiben und er uns dennoch die Schuld vergibt, dann sollte es keine Frage sein, dass wir unserem Mitmenschen die kleine Schuld vergeben, mit der er an uns schuldig geworden ist.
Diese Fraglosigkeit des Vergebens drückt wohl auch der zweite Teil der Bitte aus: „wie auch wir vergeben unseren Schuldigern". Natürlich ist nicht gemeint, dass Gott uns so vergeben soll, wie wir vergeben. Es ist vielmehr umgekehrt: Weil Gott uns die große Schuld vergibt, darum vergeben auch wir die kleine. Etwas anderes kann es für die Glaubenden gar nicht geben.
Und führe uns nicht in Versuchung.
Hier denk ich an allerhand Exempel, wo Leute unter den und jenen Umständen vom Guten abgewichen und gefallen sind, und daß es mir nicht besser gehen würde.
Versuchungen gibt es in jedem Leben. Claudius weiß, dass wir ihnen nicht gewachsen sind und allzu leicht vom guten Weg abweichen. Darum bleibt nur die Bitte, Gott möge uns vor Versuchungen bewahren.
Sondern erlöse uns von dem Übel.
Mir sind hier die Versuchungen noch im Sinn, und daß der Mensch so leicht verführt werden, und von der ebnen Bahn abkommen kann. Zugleich denk ich aber auch an alle Mühe des Lebens, an Schwindsucht und Alter, an Kindesnot, Kalten Brand und Wahnsinn, und das tausendfältige Elend und Herzeleid das in der Welt ist und die armen Menschen martert und quält, und ist niemand der helfen kann. Und Du wirst finden, Andres! wenn die Tränen nicht vorher gekommen sind, hier kommen sie gewiß, und man kann sich so herzlich heraussehnen, und in sich so betrübt und niedergeschlagen werden, als ob gar keine Hülfe wäre. Denn muß man sich aber wieder Mut machen, die Hand auf den Mund legen, und wie im Triumph fortfahren:
Denn dein ist das Reich, und die Kraft und die
Macht und Herrlichkeit in Ewigkeit,
Amen.
Eigentlich geht es in dieser Bitte nicht um die Übel, an denen wir leiden, sondern um das Böse, das wir tun. Darum wurde die alte Formulierung der Bitte „Erlöse uns von dem Übel" auch abgeändert in die genauere „Erlöse uns von dem Bösen". Damit wir den Versuchungen nicht erliegen, sollen wir von unseren bösen Antrieben befreit werden.
Die Tränen können einem aber nicht nur angesichts von Gebrechen und Verzweiflung kommen, die Menschen befallen können, sondern noch viel mehr angesichts dessen, was Menschen einander antun. Nicht wenige Menschen haben die Hoffnung aufgegeben, dass die Menschheit vor sich selbst noch zu retten sei. Es scheint keine Hilfe zu geben.
Aber für Glaubende gibt es keinen Grund zu verzweifeln. Denn nicht wir selbst müssen uns vom Bösen erlösen, was tatsächlich nicht möglich wäre, sondern Gott kann uns davon befreien. Es ist sein Reich, das uns versprochen ist, und seine Kraft, die alles verändern kann und letztlich auch verändern wird. Deshalb können wir darum bitten, dass Gott „uns" befreien möge von allem Bösen – mich selbst, aber auch die anderen Menschen und die ganze Schöpfung. Das ist der Triumph Gottes über alles Böse, mit dem wir das Vaterunser beenden können.
3. Schluss
Das Vaterunser ist uns von Jesus gegeben worden. Es ist ein recht kurzes Gebet. Wir schließen daraus, dass es nicht auf die Länge eines Gebetes ankommt, sondern auf seinen Gehalt und unsere innere Beteiligung. Wenn uns beim Beten die Worte fehlen oder wenn wir uns nicht konzentrieren können, dann kann es hilfreich sein, das Vaterunser zu sprechen.
Aber auch die Bitten des Vaterunsers mögen uns mitunter fremd erscheinen und unser Innenleben nicht widerspiegeln. Martin Luther hat den Tipp gegeben, dass wir das, was uns gerade nichts sagt, schnell hinter uns lassen können, ohne uns lange dabei aufzuhalten. Stattdessen können wir bei der Bitte, die uns aus dem Herzen spricht, lange verharren und unsere eigenen Gedanken ins Vaterunser einflechten. Auch so kann man das Vaterunser beten.
Es kann auch helfen, sich bei den Bitten etwas Konkretes vorzustellen, so wie Matthias Claudius es vorgeschlagen hat. Denn unser Beten soll mit unserem konkreten Leben zu tun haben, mit Situationen, Sorgen, Hoffnungen. Und Gott hat ein offenes Ohr für alles, was unser Leben gerade prägt und uns innerlich bewegt.
Hinweis: Viele Texte von Matthias Claudius, auch etliche Briefe an Andres, sind auf der Website glaubensstimme.de abrufbar.
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danke für diesen spannenden, historischen und aktuellen Blick in die subjektive Geschichte des Gebets. Dazu eine konkrete Frage: Du warnst an einer Stelle davor, dass wir der Versuchung widerstehen mögen, uns unseren eigenen Gott zurecht zu denken, uns einen Götzen zu zimmern. Können wir als Fehler machende Wesen überhaupt dieser Situation entgehen? Und noch etwas schärfer: wer entscheidet heute was uns als Götzendienst erscheint und was nicht? Danke für deine Aufklärung!
Mit besten Grüßen
Michael
danke für deine Rückmeldung und deine wichtigen Fragen. Wie du schon richtig vermutest, können wir Menschen als unvollkommene Wesen tatsächlich der Versuchung, uns einen Gott nach unserem Gutdünken auszumalen, nicht entgehen. Im Alten Testament ist ja das bekannteste Beispiel das "Goldene Kalb", das sich Israel in einer Situation baute, als ihr Anführer und ihre religiöse Autorität lange nicht vom Berg zurückkehrte. Im Neuen Testament sind es die Pharisäer und Schriftgelehrten, deren Gottesbild nicht der Praxis Jesu entsprach und die deshalb beständig mit ihm im Streit lagen. Aber auch die Jünger Jesu schienen schwer von Begriff zu sein, weshalb sie Jesus fragte: "Versteht ihr noch nicht?"
Ich will damit sagen: Gott entzieht sich unserer Erkenntnis. Wir sind von uns aus nicht in der Lage, ihn in rechter Weise zu erkennen. Wir sind deshalb darauf angewiesen, dass er sich uns zu erkennen gibt. Und darum bitten wir auch: "Führe uns nicht in Versuchung." Paulus drückt den Sachverhalt herrlich dialektisch aus: "Wenn jemand meint, etwas erkannt zu haben, so hat er noch nicht erkannt, wie man erkennen soll; wenn aber jemand Gott liebt, der ist von ihm erkannt" (1Kor 8,2f). Unserem Lieben (und d.h Erkennen) Gottes geht somit voraus, dass wir von Gott erkannt (und d.h. geliebt) werden. Gotteserkenntnis ist ein Geschenk, das Menschen allerdings ablehnen können.
Meine Antwort auf deine erste Frage wäre also: Nein, wir können dem nicht entgehen, uns einen gedanklichen Götzen zu bauen, aber Gott kann uns sich selbst so zu erkennen geben, dass dies nicht geschieht. Darum gehört zur Erkenntnis das Gebet um Erkenntnis.
Deine zweite Frage ist, finde ich, schwieriger zu beantworten. Um sich nicht mit seiner Gotteserkenntnis zu verrennen, ist es sicher hilfreich, in der Bibel zu lesen, sich an Jesus zu orientieren, sich mit anderen Glaubenden auszutauschen, Gottesdienste zu besuchen oder christliche Lektüre zu lesen. Die Bibel und die Person Jesu spielen dabei meiner Meinung nach eine herausragende Rolle. Anhand all dieser Kommunikationsmedien kann man seinen eigenen Glauben überprüfen und korrigieren. Letztlich muss man sich aber selber für eine bestimmte Sicht der Dinge entscheiden. Es gibt - jedenfalls auf evangelischer Seite - keine Instanz, die uns vorgibt, was wir zu glauben haben und was nicht. Das impliziert Freiheit, aber auch Verantwortung. Auch hier kann nur das Gebet darum helfen, dass Gott uns vor "Götzendienst" bewahren und unsere Gedanken in rechte Bahnen lenken möge. Ich denke, dass uns dann von Gott auch Gewissheit geschenkt wird. Dennoch müssen wir bereit sein, uns immer wieder zu revidieren bzw. vom Geist Gottes revidieren zu lassen. Noch einmal Paulus: "Der Geist (Gottes) bezeugt unserem Geist, dass wir Kinder Gottes sind" (Röm 8,16). Gottes Geist selbst also schafft in uns die Gewissheit, dass wir nicht vollkommen daneben liegen, sondern - bei aller Unvollkommenheit und Vorläufigkeit - etwas Richtiges von Gott erkannt haben.
Das schließt natürlich nicht aus, dass man seiner Sache sehr gewiss ist und trotzdem falsch liegt. Dagegen hilft eigentlich nur das Beten, das Lesen, das Sich-Orientieren an Jesus, das Hören auf andere und der Austausch mit ihnen, auch ein Blick in die lange kirchliche Tradition (der Glaube fängt nicht erst mit mir an!) und die echte Bereitschaft, auch liebgewordene Vorstellungen, wenn es sein muss, aufzugeben und sich durch das Gelesene, Gehörte und mit anderen Besprochene eines Besseren belehren zu lassen.
Meine Antwort auf deine zweite Frage wäre also: Wir müssen uns selbst entscheiden, worin Götzendienst besteht und worin nicht, und wenn wir uns ernsthaft um Erkenntnis bemühen, ernsthaft darum bitten, die Bibel und Jesus ernst nehmen und auch zum Umdenken bereit sind, dürfen wir darauf vertrauen, dass Gott uns nicht in die Irre gehen lassen wird. Letztlich sind wir also auch hier auf Gottes Gnade angewiesen und haben nicht mehr als das Vertrauen zu ihm. Aber damit haben wir wohl schon alles, was wir brauchen.
Ich hoffe, dir damit weitergeholfen zu haben. Viele Grüße
Klaus
vielen Dank für Deinen neuesten Beitrag über meinen Lieblingsdichter Matthias Claudius. Ich bin sehr froh über die ausführlichen Zitate und das von Dir dazu Geschriebene, auch im Diskussionsteil. Selbst schrieb ich, oben anklickbar, etwas zum Vater Unser, nicht so reichhaltig und gedankentief wie Du und der Dichter.
Herzliche Grüße
Hans-Jürgen
danke für deine freundliche Rückmeldung. Ich habe Matthias Claudius erst jetzt entdeckt - zum einen durch das Gedicht zu Heiligabend im "Theologischen Adventskalender", das mir nicht mehr aus dem Kopf ging, und zum anderen durch deine Bemerkung in einem Kommentar, dass er dein Lieblingsdichter sei. Daraufhin habe ich mir antiquarisch seine "Gesammelten Werke" gekauft, die im Internet für wenig Geld zu haben sind, aber auch noch im Buchhandel lieferbar. Ich könnte mir vorstellen, dass ich noch öfter etwas aus seinen Werken hier im Blog veröffentlichen werde.
Deine eigenen Gedanken zum Vaterunser finde ich übrigens nicht etwa oberflächlich oder ohne Tiefgang. Es kommt ja nicht auf die Länge eines Beitrags an.
Viele Grüße
Klaus