Licht und Finsternis in der Bibel
Eine weihnachtliche Reise durch zwei Landschaften unseres Lebens
Klaus Straßburg | 24/12/2023
Heute möchte ich mit euch ein Experiment machen. Ich werde mit euch durch die Jahrhunderte springen, durch vollkommen unterschiedliche weltgeschichtliche und persönliche Situationen, um den biblischen Worten über Licht und Finsternis nachzugehen. Ein solches Verfahren ist nicht ungefährlich. Aber ich wage es trotzdem, weil Licht und Finsternis viel mit Weihnachten und mit unserem Leben zu tun haben.
Weihnachten 2023 ist anders. Die Lichter der Innenstädte und die Kerzen in den Wohnzimmern werden empfindlich gestört von den finsteren Bildern, die von Krisen, Krieg und Tod erzählen. Die Wirtschaft dümpelt vor sich hin, Politiker und Expertinnen liegen im endlosen Streit miteinander. Der Umbau zu einer klimaneutralen Gesellschaft verläuft holprig, und manche sind persönlich davon betroffen. Ein Problem scheint das andere abzulösen, ohne dass tragbare Lösungen in Sicht sind. Wie wird es weitergehen? Manche klinken sich aus den täglichen Nachrichten aus, weil sie die massive Gewaltanwendung in den Kriegen nicht mehr ertragen können und keinen Silberstreif am Horizont sehen. Die Sehnsucht nach einem Ende der Gewalt, nach Lösungen und nach Sicherheit ist groß.
Ist Weihnachten 2023 nur eine romantische Flucht aus all diesem Bedrückenden, eine kurze Atempause, ein Verschließen der Augen vor den Problemen, wenigstens für einen kurzen Moment? Was kann die Botschaft von der Geburt des Erlösers noch bewirken mit ihrer Erzählung vom Licht in der Finsternis und vom Lobgesang der Engel dort, wo es keinen Grund zum Loben zu geben schien? Schon gibt es Menschen, die zwar an die Geburt des Erlösers glauben, die aber zugleich erschrecken angesichts der nicht endenden Finsternisse und die Zweifel daran hegen, dass noch eine Wendung zum Licht hin möglich ist.
1. Das Erschrecken vor dem Licht
Allerdings kann man nicht nur vor der Finsternis, sondern auch vor dem Licht erschrecken. Das stellt uns die Weihnachtsgeschichte jedes Jahr vor Augen. Die Hirten auf dem Felde gingen in der Finsternis ihrem unheimlichen und gefährlichen Nachtwerk nach. Sie galten selbst als finstere und furchterregende Gesellen, die man des Raubs an den ihnen anvertrauten Tieren verdächtigte. Sie waren von der ehrenwerten Gesellschaft ausgeschlossen. So mögen sie sich mit ihrer Lage abgefunden haben, kannten sie doch seit Jahr und Tag nichts anderes als das Zusammensein mit den Tieren und mit der finsteren Seite des Lebens.
Diese Hirten nun, so erzählt es der Evangelist Lukas, werden plötzlich aus ihrer trübseligen äußeren und inneren Finsternis herausgerissen durch die Herrlichkeit Gottes, die mit einem gleißenden Lichtglanz einhergeht (Lk 2,9). Mit Bedacht hat der Evangelist hier das Wort "Herrlichkeit" gewählt, griechisch dóxa, das in seiner Grundbedeutung "Lichtglanz" heißt. Denn wo der HERR der Welt in diese eintritt, kann das Licht nicht ausbleiben.
Wir werden verstehen, dass die in ihrer Finsternis hausenden Hirten von dem unerwarteten und unerklärlichen Aufstrahlen des hellen Lichts in Angst und Grauen versetzt wurden. Erst von außen her, durch die Stimme eines Engels, wurde ihnen der Schrecken genommen. Denn der Engel überbrachte ihnen eine Frohbotschaft, nämlich die Botschaft von dem Retter, der alle Not heilen sollte, die Botschaft vom verheißenen und ersehnten Messias, der kommen sollte, sein Friedensreich aufzurichten. Erst durch diese Botschaft gewannen die Hirten ihre Fassung zurück (Lk 2,10-12).
Und nachdem eine unzählbare Engelschar einen Lobgesang auf den HERRN angestimmt hatte und die Engelerscheinung mitsamt des Lichtglanzes erloschen war, regten sich die Hirten wieder. Sie konnten nun nicht einfach in der Finsternis bleiben, als wäre nichts geschehen, sondern sie mussten den angekündigten Erlöser aufsuchen. Sie wollten nicht nur von ihm hören, sondern den Erlöser auch leibhaftig sehen und ihn in seiner Armut und seinem Ausgeliefert-sein wahrnehmen. Hatte doch Gott die Bedürftigkeit erwählt, um seinen geliebten Geschöpfen in ihrer Bedürftigkeit nah zu sein (Lk 2,13-15).
Wahrscheinlich gleichen wir jenen Hirten auf dem Felde mehr, als wir uns eingestehen. Denn auch wir haben uns an manche Finsternis gewöhnt und uns mit einer gewissen Hoffnungslosigkeit abgefunden. Die Welt ist nun mal finster, meinen wir, daran ändern auch die winzigen Lichter nichts, die wir zuweilen anzünden. Gewalt und Tod beherrschen die Welt. Manche sagen auch: Der Teufel ist der Herr der Welt.
Und wir gleichen den Hirten wohl auch darin, dass ein zu helles Licht in uns nicht etwa Hoffnung weckt, sondern im Gegenteil Angst einflößt. Denn es will sich nicht in unsere Wahrnehmung der Welt einpassen, oder besser gesagt: Wir können es nicht in unsere Weltanschauung einordnen. Denn die Finsternis hat sich auch in unseren Köpfen festgesetzt. Sind die etwas zu grell strahlenden glitzernd-bunten Lichter und der etwas zu laute Jubel in den Weihnachtsshows bei näherem Hinsehen nur ein Ausdruck für die Finsternis, die in unseren Seelen herrscht?
Gottes Herrlichkeit jedenfalls passt nicht in unsere finstere Zeit. Und wer es wagt, dennoch einmal eine konkrete Hoffnung zu äußern, die Hoffnung auf eine friedlichere und gerechtere Welt ohne die Auswüchse von Gewalt und Unterdrückung zum Beispiel – wer eine solche Hoffnung äußert, wird schnell der unrealistischen Naivität bezichtigt. Keinen Grund scheint es zu geben, in dieser Welt noch solche Hoffnungen zu haben.
Gottes Lichtglanz hat in der so verstandenen Welt keinen Ort. Er hat aber einen Ort in den biblischen Schriften, den schriftlich festgehaltenen Worten jener Menschen, die an den Gott glaubten, der die Welt mit Licht erfüllt. Darum konnten sich diese Glaubenden mit der Finsternis der Welt nicht abfinden. Gehen wir also einmal jenen aufgeschriebenen Worten nach. Wir springen dabei, wie gesagt, kühn durch Jahrhunderte und durch vollkommen unterschiedliche weltgeschichtliche Stationen und persönliche Situationen.
Das ist nicht ungefährlich. Denn es verleitet uns dazu, zu vergessen, dass diese Worte in der Welt entstanden sind. Wir dürfen diese von Menschen aufgeschriebenen Worte nicht mit dem ursprünglichen Sprechen Gottes verwechseln. Wir hören in den biblischen Schriften nicht die unmittelbare Stimme Gottes, sondern die Stimme von Menschen, durch deren menschliche Worte Gott zu uns sprechen will. Diese menschlichen Worte aber sind unvollkommene Worte, welche die Größe Gottes nur in menschlich-unvollkommener Weise zum Ausdruck bringen können. Das Wunder besteht darin, dass Gott durch diese unvollkommenen Worte dennoch zu uns spricht.
Trotz dieser Gefahr des Missverständnisses wagen wir es, den Sprung durch die Jahrhunderte zu machen. Wir vergegenwärtigen uns dabei die symphonische Vielfalt der biblischen Aussagen. Und wir lernen daraus, dass jede Systematisierung Gottes ihn schon verfehlt hat, weil der Eine und Einzige von uns nicht wie ein Objekt unseres Denkens in ein System gepresst werden kann. Es bleibt uns also nichts anderes, als mit den vielfältigen Aussagen zu leben und gerade darin die Wahrheit Gottes und die Wahrheit der Welt zu entdecken. Machen wir uns auf den Weg durch die biblischen Landschaften des Lichts und der Finsternis!
2. Gott ist Licht und Lichtquelle
Gott wird im Neuen Testament mit dem Licht gleichgesetzt (1Joh 1,5):
Das ist die Botschaft, die wir von ihm gehört haben und euch verkündigen: Gott ist Licht, und es ist keinerlei Finsternis in ihm.
Wir können das so übersetzen: Gott ist ausschließlich gut, heilbringend, Leben spendend. Böses, Zerstörerisches und Tödliches ist nicht in ihm, und deshalb dient alles, was er tut, dem Leben. In Gott ist kein Vernichtungswille, sondern ausschließlich Liebe zum Leben.
Weil Gott nichts anderes als Licht ist, ist er auch die Quelle alles Lichts, das es auf Erden gibt (1Mo/Gen 1,2-4):
Die Erde war wüst und öde, und Finsternis lag auf der Urflut, und der Geist Gottes schwebte über den Wassern. Und Gott sprach: Es werde Licht! Und es ward Licht. Und Gott sah, dass das Licht gut war. Und Gott schied das Licht von der Finsternis.
Die Schöpfungsgeschichte in 1. Mose/Genesis 1 ist erst relativ spät entstanden, nämlich im 5. bis 6. Jahrhundert vor Christus. Dennoch ist diese Geschichte die Grundlage für den Glauben im Alten und Neuen Testament. Bevor Gott sein Schöpfungswerk beginnt, sind Finsternis und Chaos da. Es gibt noch kein Licht, noch nichts Lebensförderliches. Weil Leben so nicht möglich ist, schafft Gott als erstes das Licht. Gott sieht, wie gut das Licht ist. Darum trennt er Licht und Finsternis voneinander.
Das heißt: Licht und Finsternis sind verschiedene Dimensionen in unserer Welt. Das Licht ist die Leben ermöglichende Dimension. Sie hat Vorrang vor der Finsternis, die eine zwiespältige Rolle einnimmt: In der Nacht dient sie der Regeneration des Lebens, im Tod aber zerstört sie das Leben. Beide Dimensionen sind da, aber der Schöpfer scheidet sie voneinander. Dadurch ist ihre unterschiedliche Rollenverteilung festgelegt.
3. Finsternis verliert ihr Finster-sein
Licht und Finsternis sind aber nicht so voneinander geschieden, dass das Licht nicht auf die Finsternis einwirken könnte. Das Licht leuchtet vielmehr in die Finsternis hinein, ja mehr noch: Es leuchtet in der Finsternis (Joh 1,5.9a):
Das Licht scheint in der Finsternis, und die Finsternis hat's nicht ergriffen [andere Übersetzungsmöglichkeit: die Finsternis hat`s nicht überwältigt]. [...] Es [= das "Wort", das Jesus ist] war das wahre Licht.
Weil das Licht in der Finsternis der Welt scheint, ist die Welt nicht nur finster, so sehr sie sich auch finster darstellt. Ein Licht, das nicht zur Welt gehört, aber von außen her in die Welt kommt und die Welt erleuchtet, durchbricht die totale Finsternis.
Mit anderen Worten: Ohne Gottes Leben schaffendes Handeln gäbe es in unserer Welt nur den Tod. Ohne seine Liebe, die das Leben bewahrt, gäbe es nur Hass und Zerstörung. Die Welt ist nicht so finster, wie wir meinen. Die Finsternis versucht zwar, möglichst viel Raum einzunehmen, aber sie kann das Licht nicht verdrängen (nach der obigen zweiten Übersetzungsmöglichkeit). Wenn schon ein kleines Licht der Finsternis ihre totale Dunkelheit nimmt, um wie viel mehr bringen dann Gottes Liebe und Güte Hoffnung und Freude in die Welt. Die Welt kann dann in all ihrer Finsternis nicht mehr total finster sein.
Das ist noch gut verständlich. Aber nun gehen wir einen Schritt weiter und lesen von der Transformation der Finsternis zum Licht. Gott spricht (Jes 42,16):
Ich [Gott] werde Blinde auf einem Weg geleiten, den sie nicht kennen, werde sie auf unbekannte Pfade treten lassen. Ich werde Finsternis vor ihnen zu Licht machen und Holpriges zu Ebenem. Dies sind die Dinge, die ich tat, und ich lasse sie nicht.
Die Worte sind von dem sogenannten zweiten Jesaja im babylonischen Exil gesprochen wurden. Es war eine Zeit, in der die Israeliten in der Fremde lebten, in die sie von der Großmacht Babylonien verschleppt worden waren. Es gab keine Hoffnung, in absehbarer Zeit in die Heimat zurückkehren zu können.
Nach diesen Worten stehen die beiden Dimensionen Licht und Finsternis nicht auf Dauer nebeneinander. Gott bewirkt vielmehr, dass die Finsternis zu Licht wird. Die Menschen, die blind sind für das Licht, blind für jede Hoffnung, werden von Gott auf Wege geführt werden, von denen sie nichts ahnen. Die Finsternis wird in sich zusammenbrechen, und der holprige Weg, der für Blinde nicht zu bewältigen ist, wird zum ebenen Weg werden. Solches hat Gott schon in der Vergangenheit getan, und er wird es wieder tun.
Für uns bedeutet das: Gott kann der Finsternis, die uns betrifft, ihre lebensfeindliche Kraft nehmen. Er findet Wege für die Welt, die uns unbekannt sind und auf die wir deshalb auch nicht hoffen. Er findet Wege aus unseren persönlichen Nöten heraus und auch aus den Kriegen und aus dem Klimawandel. Er kann uns auf diesen Wegen geleiten, auch wenn wir keinen einzigen dieser Wege sehen können. Mehr noch: Er kann das, was uns die größten Sorgen bereitet, zu einer Chance werden lassen; er kann nicht nur in der Finsternis helfen, sondern die Finsternis selbst zur Hilfe machen, Finsternis zu Licht werden lassen.
Der Apostel Paulus hat das einmal so ausgedrückt (Röm 8,28a):
Wir wissen aber, dass denen, die Gott lieben, alle Dinge zum Guten mitwirken.
Und Dietrich Bonhoeffer fasste seinen Glauben in folgende bedenkenswerte Worte*:
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle Dinge zum Besten dienen lassen.
Ich glaube, dass Gott uns in jeder Notlage so viel Widerstandskraft geben will, wie wir brauchen. Aber er gibt sie nicht im voraus, damit wir uns nicht auf uns selbst, sondern allein auf ihn verlassen. In solchem Glauben müsste alle Angst vor der Zukunft überwunden sein.
Ich glaube, dass auch unsere Fehler und Irrtümer nicht vergeblich sind und dass es Gott nicht schwerer ist, mit ihnen fertig zu werden als mit unseren vermeintlichen Guttaten.
Ich glaube, dass Gott kein zeitloses Fatum [Schicksal] ist, sondern dass er auf aufrichtige Gebete und verantwortliche Taten wartet und antwortet.
Auch Finsternis kann also zum Guten führen. Durch jede Notlage hindurch, auch durch unsere eigenen Fehler und Irrtümer, kann Gott uns zum Guten führen. Wir kennen oft nur ein Entweder – Oder: entweder Licht oder Finsternis. Diese strenge Unterscheidung von Licht und Finsternis gilt bei Gott nicht. Auch Finsternis kann Licht ins Leben bringen. So verliert die Finsternis ihr Wesen des alle Hoffnung raubenden Finsteren.
Aber wir gehen noch einen Schritt weiter. Gott kann nicht nur Finsternis zu Licht machen, sondern es kann sogar geschehen, dass Finsternis für ihn gar keine Finsternis ist (Ps 139,11f):
Spräche ich: Nur Finsternis verschlinge mich und Nacht sei Licht für mich [oder: bis in mich hinein?], so wäre auch Finsternis nicht finster für dich [Gott], und die Nacht leuchtete wie der Tag. Finsternis wäre wie Licht.
Deutlicher kann man die Mauer zwischen Licht und Finsternis nicht einreißen. Von einer Trennung zwischen Licht und Finsternis kann nun keine Rede mehr sein. Was für uns Finsternis ist, kann vielmehr für Gott wie Licht sein, also Unheil wie Heil, Böses wie Gutes, Tod wie Leben. Die Dimensionen verschieben sich im Angesicht Gottes: In unseren Augen haben die Dinge offensichtlich einen anderen Charakter als in Gottes Augen. Was für uns hoffnungslos ist, kann für Gott voller Hoffnung und Chancen sein.
Man kann daraus schließen, dass wir die Finsternis oft viel zu ernst nehmen. Sie drängt sich uns unheimlich auf, um jede Hoffnung im Keim zu ersticken. Natürlich sollen wir vor dem Unheil nicht die Augen verschließen oder es für heilvoll erklären. Aber wir sollen auch mit der Möglichkeit rechnen, dass es vielleicht gar nicht so unheilvoll ist, wie es sich für uns darstellt. Wir sollen es getrost in Gottes Hände legen, der es besser einzuschätzen weiß als wir. Es muss nicht sein, aber es könnte sein, dass im Unheil das Heil verborgen ist.
4. Gott erschafft auch die Finsternis
Doch die biblische Sicht geht noch einen Schritt weiter. Der oben schon zitierte zweite Jesaja erlaubt sich tatsächlich zu sagen, dass Gott nicht nur das Licht, sondern auch die Finsternis erschafft (Jes 45,7):
Der das Licht bildet und die Finsternis schafft, der Heil vollbringt und Unheil schafft, ich, der HERR, bin es, der all dies vollbringt.
Jesaja widerspricht damit der Schöpfungsgeschichte aus 1. Mose/Genesis 1. Oder ergänzt er sie nur? Er spricht zu einem verzweifelten Volk, das kein Ende der Verbannung kommen sieht.
Diesem Volk sagt er: Was ihr gerade erlebt, diese undurchdringliche Finsternis, diese absolute Ausweglosigkeit, dieses abgründige, unerklärliche Unheil – all dies kommt nicht von bösen und anonymen Mächten her, es kommt auch nicht durch ein blindes Schicksal über euch, sondern es kommt von mir her, von dem Gott, der euch liebt. Macht euch keine Sorgen, ihr seid keinen bösen Mächten ausgeliefert, ihr seid nicht in der Hand einer Schicksalsmacht, gegen die man nichts ausrichten kann, sondern ihr seid in meiner Hand, in der Hand des Herrn der Geschichte, der euch durch dieses Unheil gehen, aber euch niemals darin untergehen lässt.
Das gilt auch für uns: Kein Schicksal bestimmt über uns und keine bösen Mächte, seien sie menschlich oder übermenschlich. Über uns bestimmt allein der Gott, der die ganze Welt in seiner Hand hält und uns nicht für immer dem Unheil preisgibt. Ist es nicht besser, darum zu wissen, dass die Not, die uns getroffen hat, von Gott ausgeht, anstatt zu rätseln, woher sie kommt oder sie gar bösen Mächten zuzuschreiben?
Wenn Gott uns eine Last auflegt, wird er sie nicht zu schwer für uns machen und wird sie zu seiner Zeit auch wieder von uns nehmen.
Das Buch der Klagelieder des Alten Testaments drückt in derselben Situation ebenfalls diesen Gedanken aus (Klgl 3,34-39):
Wenn man alle Gefangenen auf Erden mit den Füßen niedertritt und eines Mannes Recht vor dem Höchsten beugt, um einen Menschen im Rechtsstreit zu beugen – sollte der Herr das nicht sehen? Wer hat je etwas gesagt und es ist geschehen, ohne dass der Herr es befahl? Geht nicht aus dem Mund des Höchsten hervor das Böse und das Gute? Was beklagt sich der Mensch, der noch am Leben ist? Ein jeder klage über seine Sünden!
Die Frage, die auch wir oft stellen, lautet: "Sieht Gott denn das Unheil nicht? Warum greift er nicht ein?" Antwort: Wer noch lebt, soll sich nicht beklagen. Ihm ist immerhin das Leben geschenkt – trotz seiner Sünden, über die zu klagen er Grund genug hätte. Er freue sich aber seines Lebens, und statt zu klagen frage er sich lieber: "Warum darf ich noch leben?"
Ein anderes Wort des Alten Testaments bietet noch einen weiteren wichtigen Aspekt. Dort heißt es, dass Gott "im Dunkeln wohnen will" (1Kön 8,12). Gott erschafft also die Finsternis nicht, um uns in ihr allein zu lassen, sondern er lebt selbst in der Finsternis. Was hier alttestamentlich bezeugt wird, bekräftigt das Neue Testament dadurch, dass Gott in Jesus Christus in die Finsternis dieser Welt gekommen ist und in ihr Not und Tod selbst erlitten hat.
Wo also ist Gott in all dem Leid dieser Welt? Er ist dort, unter den Leidenden – mitten in ihrer Finsternis. Er ist auch in unserer Finsternis, welcher Art sie auch sei. Er kennt unsere Not, er leidet mit uns und er wird ihr ein Ende bereiten – wenn nicht in dieser Welt, dann in der neuen, in der es keine Finsternisse mehr geben wird.
Das ist keine billige Vertröstung auf ein Jenseits. Das diesseitige Unheil kann einen Menschen bis an die Grenzen seiner Kraft quälen. Hat Gott dieses Unheil befohlen, wie es das zitierte Klagelied behauptet? Das kann nicht für alles Unheil gelten. Auch die Klagelieder sprechen in eine bestimmte Situation hinein, in der dieses Wort tröstlich gewirkt haben mag: Gott und nicht der babylonische König hat das erste und das letzte Wort über das Unheil, das über Israel gekommen ist. Darum wird Gott Israel auch aus diesem Unheil wieder befreien. Damit ist dem Unheil ein Stück seiner Schärfe genommen. Die Anfechtung angesichts des Unheils ist aber nicht aus der Welt geräumt. Wir können Gott nicht immer verstehen.
Noch einen anderen Aspekt bringt der Prophet Amos ein. Er kritisiert während einer politischen und wirtschaftlichen Blütezeit Israels scharf die herrschenden sozialen Ungerechtigkeiten. Und er kündigt dem Volk an, dass Gott es ins Unheil stürzen wird – vermutlich, um es zur Umkehr zu bewegen. In diesem Zusammenhang fällt der Satz (Am 3,6b):
Geschieht ein Unglück in einer Stadt, ohne dass der HERR es bewirkt hat?
Was Amos anspricht, ist der Aspekt des Gerichts Gottes über die Menschen, die Unheil in die Welt bringen. Sie werden selber Unheil erfahren, aber nicht um ihrer Bestrafung willen, sondern um die Ungerechtigkeit, die sie anderen Menschen antun, zu beenden. Gottes Gericht dient einem guten Zweck: Es will die Menschen zur Umkehr rufen und so ihren ungerechten Lebenswandel beenden. Bei Amos ist dieser Ruf zur Umkehr sehr verhalten, kaum hörbar. Doch zerstört Gott nicht um des Zerstörens willen. Er will auch mit seinem Gericht nicht zerstören, sondern aufbauen. Das Gericht mag hart sein, aber es ist wohl nötig, um der Ungerechtigkeit ein Ende zu bereiten und einen Neuanfang zu machen.
Möge es geschehen, dass auch wir unserem Unrecht ein Ende setzen, bevor Gott zum letzten Mittel greift und uns durch sein Gericht dazu zwingt.
Was bedeutet das nun alles für unsere menschlichen Nöte und Sorgen – Krankheiten, Beziehungsprobleme, Einsamkeit, Mobbing, Enttäuschungen, Brüche auf dem Lebensweg, Gewalt und Unrecht und was es alles an Finsterem, Bösen in der Welt gibt?
Ich denke, man kann aus der biblischen Sicht der Finsternis den Schluss ziehen: Das Böse und Beschwerliche in der Welt hat gar kein Eigenleben. Es ist nicht nur wesenlos, sondern es ist auch vollkommen machtlos. Es wird total von Gott bestimmt. Es darf nur insoweit wirken, wie Gott es zulässt, und es darf nur das wirken, was Gott ihm erlaubt. Das Böse und Beschwerliche hat kein Sein in sich selbst, sondern es ist, was es ist, nur von Gott her.
Das bedeutet für uns: Wir sind niemals in der Hand böser Mächte, sondern immer in der Hand des guten Gottes. Die bösen Mächte haben ihre Daseinsberechtigung nur von Gott her. Gott gewährt ihnen noch eine eng begrenzte Macht und Zeit, in der sie uns quälen können. Aber indem Gott ihnen dies gewährt, ist die Grenze und das Ende alles Unheils und der Sieg des Heils bereits sicher.
5. Die Zukunft kennt keine Finsternis
Schauen wir zum Schluss noch einmal auf die Geschichte Jesu. Gleich zu Beginn seiner öffentlichen Wirksamkeit wird deren Folge für die Menschen beschrieben. Der Evangelist Matthäus zitiert dabei Jesaja 9,1f (Mt 4,16; vgl. auch Lk 1,78f). Der ganze Jesajatext gehört zu den gottesdienstlichen Lesungen an Heiligabend (Jes 9,1.2a.4-6):
Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht, und über denen, die im finsteren Land wohnen [andere Übersetzungsmöglichkeit: im Land des Todesschattens wohnen], ist ein Licht aufgestrahlt.Du [Gott] vermehrst den Jubel [andere Handschriften: Du vermehrst das Volk], du machst die Freude groß. [...] Denn jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt, wird ein Fraß des Feuers.Denn uns ist ein Kind geboren, ein Sohn ist uns gegeben, und die Herrschaft ruht auf seiner Schulter; und sein Name lautet Wunderbarer Ratgeber, Starker Gott, Vater in Ewigkeit, Oberster des Friedens. Groß ist die Herrschaft und des Friedens kein Ende auf dem Thron Davids und in seinem Reich, weil er es festigt und gründet auf Recht und Gerechtigkeit von nun an bis in Ewigkeit. Der Eifer des HERRN der Heerscharen wird dies tun.
Die Verheißung des Messias, des kommenden Friedenskönigs, erlaubt denen, die an ihn glauben, schon jetzt in aller noch herrschenden Finsternis Jubel und Freude. Denn das Ende der Finsternis ist bereits beschlossene Sache. Die Angst einflößenden Kriegerstiefel und die blutgetränkten Mäntel haben keine Zukunft. Unrecht, Gewalt und Tod haben keine Zukunft und sind bereits im Vergehen. Die Zukunft ist nicht Gewalt und Krieg ohne Ende, sondern Friede ohne Ende. Denn die Herrschaft des verheißenen Friedenskönigs wird eine dauerhafte Herrschaft sein.
Christinnen und Christen erkennen in Jesus den verheißenen Messias und erwarten die universale Aufrichtung seines Friedensreiches. Seine Macht besteht nicht in Gewalt, sondern in Recht und Gerechtigkeit für alle Menschen. Wir sollten uns daher nicht von den vielfältigen gegenwärtigen Problemen, Krisen und Bedrohungen vereinnahmen lassen. Wir können vielmehr das große Licht in den Blick nehmen, das denen aufstrahlt, "die im finsteren Land wohnen".
Damit sind wir am Ende unseres Weges durch die biblischen Landschaften von Licht und Finsternis. Wir haben die vielfältigen, teils widersprüchlich klingenden Aussagen der Bibel kennengelernt. Doch was uns widersprüchlich erscheint, ist vielleicht nur die rechte Vielstimmigkeit, die allein Gott angemessen mit unseren unvollkommenen Worten beschreibt.
Wir haben von der Hoffnung gelesen, die auf den Gott vertraut, der seine geliebten Geschöpfe nicht allein lassen wird. Er macht auch uns Hoffnung in den gegenwärtigen Krisen und Bedrohungen. Wir haben zwar keine Garantie dafür, dass das Unheil nicht noch länger andauert oder sogar noch größer wird. Gott muss nicht dann helfen, wenn wir es für richtig halten. Wir haben aber die Verheißung, dass am Ende nicht die Finsternis stehen wird, sondern das Licht – und dass, mit Jochen Kleppers Worten, die Nacht schon vorgedrungen ist und der Tag nicht mehr fern (Evangelisches Gesangbuch Nr. 16):
Die Nacht ist vorgedrungen,
der Tag ist nicht mehr fern.
So sei nun Lob gesungen
dem hellen Morgenstern!
Auch wer zur Nacht geweinet,
der stimme froh mit ein.
Der Morgenstern bescheinet
auch deine Angst und Pein.
* * * * *
* Dietrich Bonhoeffer: Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge. Chr. Kaiser Verlag, 3. Aufl. München 1985. S. 20f. Ich habe die Absätze eingefügt und den Text an die neue deutsche Rechtschreibung angepasst.
Foto: Klaus Straßburg.