Kein Wohlgefallen am Tode des Gottlosen
Klaus Straßburg | 26/04/2020
Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble hat in einem Interview des Berliner TAGESSPIEGELS zur Corona-Krise Stellung genommen. Er hat dabei nicht nur über das Vorgehen bei der Lockerung der bisherigen Einschränkungen gesprochen, sondern auch den Klimawandel als ebenso großes Problem neben der Pandemie bezeichnet, die unfairen Dimensionen der Globalisierung und die Ungleichheit bei den Löhnen in Frage gestellt sowie für ein nachhaltigeres und maßvolleres Leben in Wirtschaft und Gesellschaft nach der Krise plädiert.
An dieser Stelle möchte ich mich nur mit seinen Äußerungen zu den Lockerungen der bisherigen Einschränkungen befassen. Schäuble sagte:
Wir dürfen nicht allein den Virologen die Entscheidungen überlassen, sondern müssen auch die gewaltigen ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen abwägen. Zwei Jahre lang einfach alles stillzulegen, auch das hätte fürchterliche Folgen.
Auf die Frage nach den Kriterien für die politischen Entscheidungen antwortete Schäuble:
Man tastet sich da ran. Lieber vorsichtig – denn der Weg zurück würde fürchterlich. Aber wenn ich höre, alles andere habe vor dem Schutz von Leben zurückzutreten, dann muss ich sagen: Das ist in dieser Absolutheit nicht richtig. Grundrechte beschränken sich gegenseitig. Wenn es überhaupt einen absoluten Wert in unserem Grundgesetz gibt, dann ist das die Würde des Menschen. Die ist unantastbar. Aber sie schließt nicht aus, dass wir sterben müssen.
Auf die Frage, ob man den Corona-Tod von Menschen in Kauf nehmen müsse, antwortete Schäuble, dass der Staat zwar für alle die bestmögliche gesundheitliche Versorgung gewährleisten müsse, aber dennoch weiterhin Menschen an dem Virus sterben werden.
Am Ende des Interviews stellte Schäuble fest, dass er für behutsame Lockerungen sei, jedoch dürfe die Situation nicht außer Kontrolle geraten. Deshalb sei Vorsicht weiterhin richtig und wichtig.
(Quelle: DER TAGESSPIEGEL)
Die Stellungnahme Schäubles wirft für mich die Frage auf, wie sich das Recht auf Leben und auf Schutz desselben zum Beispiel gegenüber dem Recht auf Bewegungsfreiheit, dem Recht auf soziale Kontakte sowie dem Recht auf wirtschaftliche Existenzsicherung und auf Arbeit verhält. Denn in der Tat haben die Einschränkungen, mit denen wir leben mussten und müssen, gewaltige ökonomische, soziale, psychologische und sonstige Auswirkungen.
Wenn ich Schäuble richtig verstehe, plädiert er dafür, den Schutz des Lebens und die ökonomischen, sozialen, psychologischen und sonstigen Auswirkungen der Einschränkungen gegeneinander abzuwägen.
Ethische Entscheidungen sind oft (oder immer?) Güterabwägungen: Weil nicht alle Güter gleichzeitig geschützt werden können, muss entschieden werden, welches Gut schwerer wiegt und deshalb geschützt werden muss.
Die Fragen, die sich mir dann stellen, lauten:
- Gibt es aus christlicher Sicht ein höheres Gut als das Leben? Ist also eine Rücknahme der Einschränkung des Lebens vieler Menschen ethisch höher zu bewerten als der Schutz des Lebens weniger Menschen?
- Sind ökonomische Gesichtspunkte (um die es in vielen Entscheidungen, die jetzt getroffen werden, geht) höher zu bewerten als der Schutz des Lebens?
- Gäbe es Wege, die gewaltigen ökonomischen, sozialen und psychologischen Folgen solidarisch abzufedern, wenn man die Einschränkungen noch zwei bis drei Wochen länger aufrecht erhalten würde (es geht ja nicht darum, zwei Jahre lang alles stillzulegen, wie Schäuble meinte)? Ich denke dabei konkret beispielsweise an viele Telefonate der zu Hause Gebliebenen mit einsamen Menschen; an Hilfsangebote für verschiedene häusliche Notlagen; an die Bereitschaft der Bevölkerung, materielle Abstriche an ihrem Besitzstand zu machen, um materielle Notlagen Anderer abzufedern und massenhafte Konkurse sowie Arbeitslosigkeit zu verhindern.
- Oder ist das materielle und psychische Wohlbefinden eines Großteils der Bevölkerung höher zu bewerten als der Schutz des Lebens eines relativ geringen Teils der Bevölkerung?
- Meine Mutter lebt in einem Pflegeheim. Würde das Heim vom Virus betroffen, dann würde sie wahrscheinlich in Einsamkeit sterben müssen. Läuft es auf eine Diskriminierung alter Menschen und anderer Menschen der Hochrisikogruppe hinaus, wenn ihr Tod in Kauf genommen wird, um der Mehrzahl der Menschen möglichst schnell wieder ein „normales" Leben zu ermöglichen?
- Oder sollten gerade Christen, für die das irdische Leben nicht das letzte ist, dieses nicht zu hoch bewerten, sondern sich mit dem Sterben-Müssen abfinden (wie Schäuble offenbar will) und deshalb für ein irdisches Leben in Freiheit und Wohlstand (also ohne Qualitätsminderung) der meisten Menschen eintreten, auch wenn manche Menschen dafür sterben müssen?
Ich habe dazu folgende Gedanken:
- Der Schutz des Lebens ist das höchste Gut, weil das Leben das größte Geschenk des Schöpfers an uns ist. Einschränkungen dieses Lebens mindern es zwar in seiner Qualität, löschen es aber nicht aus. Den Tod von (relativ wenigen) Menschen in Kauf zu nehmen, um die Lebensqualität der großen Masse nicht für einige Wochen länger einschränken zu müssen, ist mir deshalb ein fremder Gedanke.
- Viele Menschen in den reichen Industrieländern sind es nicht (mehr) gewohnt, mit Entbehrungen zu leben. Minderung der Lebensqualität muss deshalb wenn irgend möglich ausgeschlossen werden. Gott hat uns aber kein leidfreies Leben geschenkt, sondern ein Leben für den Mitmenschen, was auch Entbehrungen um seiner willen einschließt.
- Die Minderung der Lebensqualität müsste deshalb (und könnte auch!) durch ein verstärktes solidarisches Miteinander, wie oben in einigen Beispielen beschrieben, zumindest teilweise aufgefangen werden.
- Wer an Corona stirbt, stirbt in der Regel einsam. Das gilt nicht nur für alte Menschen. Das Sterben in Einsamkeit zu vermeiden ist für mich ein höheres Gut als das Leben in Einsamkeit für einige Wochen länger zu vermeiden. Denn das Sterben mit dem Gefühl des Verlassenseins von Gott war für Jesus das größte Problem seines Sterbens (Mt 27,46; Mk 15,34), und deshalb sollte kein Mensch auch nur mit dem Gefühl sterben, von Menschen verlassen zu sein.
- Christen sollten sich mit dem Sterben-Müssen abfinden können, weil sie eines anderen, ewigen Lebens gewiss sind. Das bedeutet aber nicht, dass sie das irdische Leben abwerten. Im Gegenteil: Das irdische Leben aller Menschen muss ihnen ein Herzensanliegen sein, denn es ist ein Herzensanliegen Gottes, der sogar das Leben des Gottlosen will:
Habe ich etwa Wohlgefallen am Tode des Gottlosen, spricht Gott der Herr,
und nicht vielmehr daran, dass er sich von seinem Wandel bekehre und am Leben bleibe?
(Hes/Ez 18,23; vgl. 33,11)
Für das irdische Leben aller Menschen sollten Christen bereit sein, eigene Einschränkungen der Lebensqualität und des materiellen Wohlstands in Kauf zu nehmen.
- Ich werde den Verdacht nicht los, dass es bei den jetzt vollzogenen Lockerungen nicht so sehr um einsame oder in häusliche Notlagen gekommene Menschen geht und auch nicht um Menschen, die unter der zeitweiligen Kulturarmut leiden, sondern vor allem um das Hochfahren der Wirtschaft, die mit ihrer starken Lobby Druck auf die politisch Handelnden ausübt, die sich außerdem aus verschiedenen Gründen profilieren wollen (Schäuble: Jeder will sich profilieren, und jeder steht unter dem Druck seiner Bürger). Die Macht der wirtschaftlichen Interessen wird hier einmal mehr deutlich. Wirtschaftliche Interessen, die nicht der Allgemeinheit, sondern dem persönlichen Profit dienen, sind aber ein Dienst am Mammon, der bekanntlich einen Dienst an Gott ausschließt.
- Immerhin spricht Schäuble sich für behutsame Lockerungen und ein vorsichtiges Vorgehen aus, um die Kontrolle zu behalten. Daraus kann man schließen, dass er Lockerungen um jeden Preis nicht befürwortet, wenngleich er den Grund für diese Vorsicht und Behutsamkeit (Menschenleben? Wirtschaftswachstum?) nicht nennt.
Soweit meine unvollkommenen und relativ spontanen Gedanken zu diesem Thema.
Bitte korrigiere mich, ergänze mich, weise mich hin auf Einseitigkeiten oder sage ganz einfach deine Meinung dazu.
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Ich habe mir das Schäuble-Interview, das unter der Schlagzeile: „Schäuble will dem Schutz des Lebens nicht alles unterordnen“ kam, auch durchgelesen und finde es weitaus besser, als die Schlagzeile vermuten ließ.
Am Anfang der Corona-Krise war die Rede davon, dass man letzten Endes so oder so mit einer Durchseuchung von 60-70 % der Bevölkerung rechnen müsse, es nur darum gehe, die Wachstumskurve so abzuflachen, dass die Intensiv-Kapazitäten nicht wie z. B. in Italien stark überfordert würden.
Bis zu den 60-70 % ist es noch ein weiter Weg, mit einem Impfstoff ist auch erst in 2021 zu rechnen. Wir sprechen also nicht potenziell von ein paar weiteren Wochen, sondern von Monaten bis Jahren, wenn wir so restriktiv wie bisher weitermachen wollen. Aus meiner Sicht geht das nicht. Weitere Wochen ja, aber viel mehr nicht.
Und wir tun dabei auch heute nicht das Maximum dessen, was man tun müsste, wenn man jeden einzelnen Corona-Toten vermeiden wollte. Wir haben uns anscheinend damit arrangiert, dass jeden Tag ca. 200 Menschen in Deutschland daran sterben.
Früher oder später werden wir vorsichtig den Fuß weiter von der Bremse nehmen müssen. Das muss man gedanklich und argumentativ gut vorbereiten, und dazu trägt Schäuble bei.
Zum unmittelbar Menschlichen: Ich habe meinen Vater selbst vor einem Jahr Corona-ähnlich sterben sehen. Damals war die Lungenentzündung durch Krankenhauskeime ausgelöst worden. Ich habe eine Vorstellung davon, wie sich diese Hilflosigkeit anfühlt und auch das Hadern mit nicht ausreichender Vorbeugung. Im Moment ist mein Schwiegervater von der Quarantäne im Seniorenheim betroffen, und das tut ihm nicht gut. Und ich habe das Bild von dem Mann vor Augen, der sich vor Wochen wegen Corona von seiner dementen Frau verabschieden musste und damit rechnet, dass sie ihn beim nächsten Wiedersehen nicht mehr erkennt. Es gibt weder einen 100-%-Schutz noch Schwarz-Weiß-Wirklichkeit noch perfekte Lösungen.
Thomas Jakob
nachdem ich das ganze Schäuble-Interview gelesen hatte, fand ich es auch besser, als die in den Medien verbreitete Schlagzeile vermuten ließ. Das wirft ein Licht darauf, wie wichtig der Kontext des jeweils Gesagten ist und wie oberflächlich unsere vielfach auf Kurz-Kommunikation getrimmte Gesellschaft mit Worten und Gedanken umgeht.
Dennoch muss ich dem entscheidenden Gedanken Schäubles widersprechen, wie ich es in meinem Beitrag getan habe.
Es ist richtig, dass am Beginn der Pandemie oft von Herdenimmunität die Rede war, auch von Epidemiologen. Ich habe aber ein Abrücken von diesem Ziel beobachtet. Herdenimmunität würde für Deutschland bedeuten, dass ca. 50 bis 57 Mio. Menschen mit dem Virus infiziert werden. Bei einer angenommenen Letalitätsrate von 1 Prozent würde das bedeuten, dass 500.000 bis 570.000 Menschen sterben. Setzt man die Letalitätsrate optimistisch bei nur 0,3 Prozent an, so würden bis zum Eintreten der Herdenimmunität immer noch 150.000 bis 171.000 Menschen sterben. Dabei ist vorausgesetzt, dass das Gesundheitssystem nicht überfordert wird, andernfalls wäre die Letalitätsrate höher. Und nicht berücksichtigt in dieser Rechnung sind die Menschen, die nach der Erkrankung bleibende Schäden an verschiedenen Organen zurückbehalten. Im übrigen besteht wohl immer noch Unsicherheit darüber, ob eine überstandene Erkrankung überhaupt vor Neuansteckung schützt. Damit aber wird die Idee der Herdenimmunität als ganze fraglich.
Der Präsident des Robert-Koch-Instituts Lothar Wieler hat heute erneut dazu aufgerufen, das Gesundheitssystem nicht zu überfordern. Die Schutzmaßnahmen (wenn möglich zu Hause bleiben, Kontakte einschränken, Abstand einhalten, Mund-Nase-Schutz tragen) sollten aufrecht erhalten werden. Die Anzahl der Todesfälle sei weiterhin hoch.
Ich bin wie du der Ansicht, dass man so wie bis jetzt nicht Monate lang weitermachen könnte. Jedoch ist höchste Vorsicht bei allen Lockerungen geboten. Ich finde, man hätte nach und nach eine Lockerung nach der anderen beschließen sollen, und zwar deutschlandweit einheitlich. Danach schauen, wie sich die Lage entwickelt, und vor jeder weiteren Lockerung soweit wie möglich vorausschauend entscheiden.
Der jetzt betriebene Lockerungswettbewerb der Landesfürsten, bei dem sich die Lockerungsmaßnahmen geradezu überschlagen, entbehrt meiner Meinung nach jeder Vorsicht (Vor-Sicht) und bildet mehr durch Wirtschaft und eigene Profilierung Getriebene ab als von Vorsicht Bewegte.
Natürlich müssen auch wirtschaftliche Interessen berücksichtigt werden. Das meinte ich mit meinem Vorschlag, dass jeder seinen Anteil an der Rettung von Unternehmen und Arbeitsplätzen beitragen müsse. Das kostet viel Geld, und es wird schon nach jetzigem Stand teuer für uns alle werden. Aber das ist ja vielleicht auch eine Lehre aus der Krise, dass wir jahrzehntelang über unsere Verhältnisse gelebt haben und nur eine Steigerung des materiellen Wohlstands kannten. Jetzt wäre ein Abbau des materiellen Wohlstands der Masse angesagt zugunsten von Unternehmen und Arbeitsplätzen und zur Rettung von Menschenleben. Konkret: Möglicherweise drastische Steuererhöhungen für alle, denen man das zumuten kann, und Minderung des materiellen Lebensstandards. Doch für solche Maßnahmen müsste man aufhören, dem Mammon zu dienen.
Nein, wir können nicht jeden einzelnen Corona-Toten vermeiden. Das wird ja auch niemand behaupten. Aber ich kann mich nicht damit arrangieren, dass täglich ca. 200 Menschen in Deutschland daran sterben – vor allem dann nicht, wenn ich das Gefühl habe, dass es weniger sein könnten, wenn zunächst vorsichtig und dann auf breiter Ebene solidarisch gehandelt würde.
Denn es geht bei alledem auch ums Geld. Und die ethische Frage ist: Was ist wichtiger – Geld oder Leben?
Nicht so, dass eins gegen das andere ausgespielt wird, sondern so, dass danach entschieden wird, was die erste Stelle einnimmt, also das höchste Gut ist. Dieser ursprüngliche Konsens, von der Bundeskanzlerin deutlich vollzogen, ist nun offenbar zerbrochen. Dazu hat Wolfgang Schäuble meines Erachtens dadurch beigetragen, dass er die Vorrangstellung des Lebensschutzes in Frage gestellt hat. Da half es dann auch nichts mehr, dass er am Ende seines Interviews von Vorsicht und Behutsamkeit gesprochen hat.
Das eine nicht gegen das andere ausspielen hieße für mich, dass die Unternehmen sich der materiellen Solidarität der Bevölkerung sicher sein können. Und vorsichtiges Handeln würde im übrigen auch der Wirtschaft dienen. Denn ein Rückfall wäre doch für die Wirtschaft das Schlimmste, was passieren kann. Es sei denn, man schließt einen Rückbau der Lockerungen kategorisch aus und nimmt dann eben eine Vielzahl von Toten und bleibend Geschädigten mehr oder wenige achselzuckend in Kauf.
Dann wäre die erste Stelle ausgetauscht: An die Stelle des Lebens wäre der Mammon getreten. Davor bewahre uns Gott.
Vielleicht sind wir uns ja darin einig.
Klaus
2. Der Wunsch der RKI-Virologen, die Reproduktionsrate des Virus so niedrig zu halten, dass man jeden einzelnen Fall verfolgen und damit COVID-19 wirklich eindämmen kann, ist in meinen Augen unrealistisch, jedenfalls mit wenigen weiteren Wochen Lockdown.
3. Letzte Woche habe ich mal nachgesehen, wie viele Menschen eigentlich in Deutschland pro Jahr sterben und woran hauptsächlich. Die Gesamtzahl lag um die 950 Tsd., davon starb ein Drittel an Herz-Kreislauf-Erkrankungen und ein Viertel an Krebs.