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Friede für die Ukraine!

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Veröffentlicht von in Theologie aktuell · 24 Januar 2022
Tags: KriegFriedeFeindesliebeProphetenPolitik

Friede für die Ukraine!
Klaus Straßburg | 24/01/2022

In der Ukraine droht ein Krieg. „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein", stellte die Vollversammlung des Ökumenischen Rates der Kirchen schon 1948 in Amsterdam fest. Darüber wird man schnell Einigkeit erzielen. Doch gehen die Meinungen auseinander darüber, wie dieser Satz in die Praxis umgesetzt werden soll.

Die Frage ist also: Wie könnte eine christliche Lösung des Konflikts aussehen?


1. Der Konflikt

Russland fühlt sich durch die NATO bedroht und möchte deshalb, dass die NATO nicht noch näher an sein Land heranrückt. Darum fordert Putin eine schriftliche Zusicherung, dass die Ukraine nicht in die NATO aufgenommen wird. Sein Truppenaufmarsch an der Grenze zur Ukraine ist eine Drohung, die Ukraine zu besetzen, wenn er diese Zusicherung nicht erhält. Im Fall einer Invasion hätte er seinen Machtbereich um die Ukraine erweitert.

Die USA und die NATO möchten diese Zusicherung nicht geben, weil sie die Ukraine gern – nicht sofort, aber später einmal – in die NATO aufnehmen wollen. Dann hätten die USA und die NATO ihren Machtbereich um die Ukraine erweitert.

Die Ukraine sitzt bei den gegenwärtigen Verhandlungen nicht mit am Tisch, aber sie möchte gern so schnell wie möglich in die NATO aufgenommen werden, weil sie eine russische Invasion befürchtet.

Russland und die USA bzw. die NATO lassen gerade die Muskeln spielen und demonstrieren ihre Macht. Jeder fühlt sich von der jeweils anderen Seite provoziert, also gereizt, herausgefordert. Das erinnert mich ein bisschen an den Kindergarten und die frühe Schulzeit, in der man auch schon mal von jemandem gereizt und geärgert wurde. Die Stärksten verbreiteten dabei am meisten Angst und Schrecken.

Die Verbreitung von Angst und Schrecken durch Macht und Abschreckung ist jedoch nicht der christliche Weg zum Frieden.


2. Gewalt und Friede in den biblischen Schriften

Es gibt eine Vielzahl von Bibelstellen, die Gewalt ablehnen. Man kann sogar sagen: Sünde ist im Kern Aufstand gegen Gott und Gewaltanwendung gegen den Mitmenschen und alle Kreaturen. Das beste Beispiel dafür ist die erste Sünde, die im Alten Testament berichtet wird, nachdem Adam und Eva die Paradiesgemeinschaft mit Gott verloren hatten: Kain hielt seinen Bruder Abel für bevorzugt von Gott. Die Folge dieser Unzufriedenheit mit Gott war, dass er seinen Bruder aus religiösem Neid erschlug (1Mo/Gen 4,1-16).

Psalm 11,5b hält fest, dass Gott keine Gewalt will:

Den, der Gewalt liebt, hasst seine [nämlich Gottes] Seele."

Im Buch des Propheten Jesaja wird mehrmals die Gestalt des sogenannten „Gottesknechts" erwähnt. Diese Gestalt wurde und wird vom Christentum manchmal auf Jesus bezogen. Es ist jemand, der Gewalt erleidet, ohne sich mit Gewalt zu wehren (Jes 50,6f):

Meinen Rücken bot ich denen, die mich schlugen,
und meine Wangen denen, die mein Antlitz ausrauften;
mein Angesicht verhüllte ich nicht
vor Schmähungen und Speichel.
Und dennoch wird Gott der Herr mir helfen;
darum werde ich nicht zuschanden.
Darum mache ich mein Angesicht [hart] wie einen Kieselstein
und ich weiß, dass ich mich nicht schämen werde.

Der Gottesknecht ist Beispiel des Gewaltlosen, der lieber Gewalt erträgt, als sie auszuüben, und der dennoch im Glauben gewiss ist, dass er von Gott gerettet wird. Bewusst macht er sich hart, erträgt die Schläge, und er weiß, dass er sich später nicht wird schämen müssen, weil er zurückgeschlagen hat.

Die Propheten bieten außerdem eine beeindruckende Vision des kommenden Friedensreiches (Jes 2,4; Mi 4,3):

Und er [Gott] wird Recht sprechen zwischen den Völkern
und Weisung geben vielen Nationen;
und sie werden ihre Schwerter zu Pflugscharen schmieden
und ihre Spieße zu Rebmessern.
Kein Volk wird wider das andere das Schwert erheben,
und sie werden den Krieg nicht mehr lernen.

Im Neuen Testament wird Jesus Christus zum Inbegriff des Friedens (Eph 2,14):

Er [Christus] ist unser Friede.

Friede ist im Alten und Neuen Testament weit mehr als nur die Abwesenheit von Krieg. Friede bezeichnet die unverletzte, heile Gestalt aller Dinge, und der Mensch soll in dieser unverletzten, heilvollen Ganzheit an der Welt teilhaben.

Jesus Christus hat die Gewalt gegen die göttliche Wahrheit am eigenen Leib erfahren. Er wurde zum Frieden der Welt nicht dadurch, dass er sein Leben mit göttlicher Macht zu erhalten trachtete, sondern dadurch, dass er sein Leben preisgab. Nicht Macht und Gewalt, sondern Hingabe war sein Weg zum ewigen Frieden. Deshalb gilt auch für uns, dass wir unsere Verantwortung für den Frieden nur dann wahrnehmen, wenn wir unser Leben preisgeben, anstatt es mit Gewalt zu bewahren (Mk 8,35).

Zu diesem umfassenden Frieden eines Menschen gehört dreierlei:

  • Die Geborgenheit des Menschen in Gottes guter Schöpfung, an der alle Menschen Anteil haben. Diese Geborgenheit wird am schönsten deutlich in der Paradieserzählung, in welcher der Mensch im Frieden mit Gott, mit sich selbst und mit den Welt lebt (1Mo/Gen 2,4b-25). Auch wenn diese schöpferische Geborgenheit durch den Sündenfall (1Mo/Gen 3) empfindlich gestört ist, bleibt doch ein Minimum von ihr erhalten (Röm 1,20).
  • Die Fähigkeit des Menschen zu vertrauen. Umfassender Friede ist nur möglich im Vertrauen zu Gott und den Mitmenschen. Glaube ist Vertrauen, und kein Mensch kann leben ohne ein Minimum an Vertrauen. Darum verankert Paulus den Frieden im Glauben (Röm 5,1).
  • Die Verantwortung des Menschen für den Frieden. Es ist eine Auszeichnung des Menschen durch Gott, dass er für den Frieden Verantwortung übernehmen kann. Die Gabe des Friedens, die ein Mensch erhalten hat, wird zur Aufgabe. Man kann den Frieden nicht genießen, ohne ihn an seine Mitmenschen, ja an die ganze Welt weiterzugeben (Mt 5,9):

Glücklich sind die Friedenstäter, denn sie werden Kinder Gottes genannt werden.

Nimmt man Jesus als Vorbild, so wird schnell deutlich, dass der Ernstfall des Friedenstiftens nicht darin besteht, den Sympathischen Gutes zu tun, sondern den Feinden. Die Feindesliebe ist der Ernstfall aller Liebe. Jesus hat nicht nur die geliebt, die ihm wohlgesonnen waren, sondern gerade auch die anderen. Darum gilt auch für uns (Mt 5,44f):

Liebt eure Feinde und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Kinder eures Vaters in den Himmeln werdet; denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte!

Weil Gott nicht nur den Guten Gutes tut, sondern auch den Bösen, darum kann es nicht unsere Aufgabe sein, nur den Guten Gutes zu tun. Nur wenn wir auch den Bösen Gutes tun, leben wir als Kinder Gottes.

Was bedeutet Feindesliebe? Zunächst einmal, im Feind nicht nur den Täter des Bösen zu sehen, sondern auch den Menschen, den Gott liebt, obwohl er auf unfriedlichen Wegen geht. Außerdem bedeutet Feindesliebe, zu wissen, dass man selbst auch nicht vor dem Bösen gefeit ist und der Vergebung bedarf. Darum sollten Christen, die Feindesliebe üben wollen, zu verstehen versuchen, warum der Andere unfriedlich und bedrohlich denkt und handelt. Und sie sollten selbstkritisch darüber nachdenken, welchen Anteil sie selbst am Verhalten des Anderen haben könnten. Nur wenn ich den Feind zu verstehen suche, ihn nicht von vornherein als unfähig zum Frieden abqualifiziere und mein eigenes Handeln kritisch hinterfrage, kann ich Frieden schaffen.

Wir dürfen den Feind also nicht auf das Böse, das er tut, festlegen, so wie auch wir von Gott nicht auf das Böse, das wir tun, festgelegt werden, sondern auf seine Vergebung angewiesen sind (Mt 6,12). Wer den Anderen nicht auf das Böse festlegt, vertraut ihm insofern, als er ihm auch Gutes zutraut. Dieses Minimum an Vertrauen ist unerlässlich, wenn Friede möglich werden soll.

Die Auffassung „Wir sind die Guten – die anderen die Bösen" ist ein Wahn, der jeden Krieg bestimmt und der überwunden werden muss.


3. Kreativ werden

Nicht wenige Christinnen und Christen sind in der Nachfolge Jesu Pazifisten geworden. Es gibt sogar Friedenskirchen, die jede Gewalt ablehnen und den Kriegsdienst konsequent verweigern. Die bekanntesten Friedenskirchen sind die Mennoniten und Adventisten, aber auch die Katharer, Waldenser, Hutterer, Quäker und die Täuferbewegung der Reformation.

Der Pazifismus wirft noch einmal besondere Fragen auf, die heute nicht besprochen werden müssen. Zumindest sollten Christinnen und Christen aber einsehen, dass die Alternative nicht darin besteht, entweder Gewalt anzuwenden oder alles leidend zu ertragen. Es geht darum, kreative dritte Wege ausfindig zu machen, eine kreative Alternative zur Gewalt zu finden.

Mir fällt dabei immer das Beispiel Abrahams ein. Die Bibel berichtet, dass er zusammen mit seinem Neffen Lot seine Heimat verlassen hatte und in das Land Kanaan gezogen war. Dort kam es zu einem Streit der Hirten Abrahams und der Hirten Lots, weil das Land für beide Herden nicht ausreichte.

Abraham war der Ältere, und vor allem war er der Patriarch der Familie. Er hatte daher alle Rechte auf seiner Seite, die besten Weidegründe für sich zu beanspruchen. Und nun tut Abraham etwas, was für einen orientalischen Patriarchen geradezu eine Sensation ist. Er sagt zu Lot (1Mo/Gen 13,8-11):

"Lass doch nicht Zank sein zwischen mir und dir, zwischen meinen Hirten und deinen Hirten; wir sind ja Brüder. Steht dir nicht das ganze Land offen? So trenne dich doch von mir. Willst du zur Linken, so gehe ich zur Rechten; oder willst du zur Rechten, so gehe ich zur Linken." Da erhob Lot seine Augen und sah, dass die ganze Jordanaue ein wasserreiches Land war [...] Da erwählte sich Lot die ganze Jordanaue und brach auf nach Osten. So trennten sie sich voneinander.

Was tut Abraham? Er springt über seinen Schatten als Patriarch mit all seinen Rechten und überlässt dem Geringeren, Lot, die Auswahl des Weidelandes. So entschärft er die Situation, wirkt deeskalierend. Abraham geht damit das Risiko ein, dass Lot sich das bessere Land wählt. Und genau so geschieht es auch: Lot wählt also das bessere Land für sich, und Abraham hat das Nachsehen. Aber der Friede zwischen beiden ist gewahrt.

Friede zwischen Menschen und Nationen wird nicht möglich sein, wenn wir nicht kreativ nach Handlungsweisen suchen, welche die Situation entschärfen. Zugleich müssen wir bereit sein, auch Nachteile in Kauf zu nehmen, wie Abraham es tat. Dies gilt auch für die gegenwärtige Ukrainekrise.


4. Friedenstäter werden in der gegenwärtigen Krise

Kreativ und Frieden stiftend ist es jedenfalls nicht, wenn man praktisch nur in globalen Machtkategorien denkt, so wie es fast alle führenden Politikerinnen und Politiker tun. Dann geht es vor allem darum, den eigenen Machtbereich zu wahren oder möglichst noch auszudehnen.

Kreativ und Frieden stiftend ist es auch nicht, sich selbst für den Guten zu halten, dem Anderen aber potentiell böse Absichten zu unterstellen. Dann muss jede Bewegung des Anderen als Bedrohung empfunden und mit einer Gegenbewegung beantwortet werden. Die Sicherheitsinteressen des Anderen können dann gar nicht in den Blick kommen, weil man ja selber angeblich nur Gutes tut, der Andere aber böse Absichten verfolgt.

Durch solch ein phantasieloses, selbstbezogenes und eingeschränktes Denken wird es in Konfliktfällen geradezu unmöglich, den Frieden zu wahren. Soll ein Konflikt entschärft werden, dann muss mindestens eine der am Konflikt beteiligten Parteien bereit sein, ein gewisses Risiko einzugehen und ihr Machtstreben wenigstens teilweise einzuschränken. Dieser Schritt kann vor allem der stärkeren Konfliktpartei zugemutet werden, weil sie auch im Falle eines teilweisen Machtverlustes weniger zu befürchten hat als die schwächere Partei.

Man kann es auch einfacher ausdrücken: Eine Seite muss nachgeben. Das ist leichter für die stärkere Seite. Anders ist eine Deeskalation nicht möglich.

Die NATO ist das größte Militärbündnis der Welt. Es hat zur Zeit 30 Mitgliedsstaaten und die bei weitem höchsten Militärausgaben weltweit. Eine Gegenüberstellung der jeweiligen Rüstungsausgaben im Jahr 2020 zeigt die Größenordnungen:


Neben den 30 NATO-Mitgliedsstaaten gibt es noch Beitrittsverhandlungen mit Bosnien-Herzegowina und Partnerschaften mit Serbien, Irland, Schweden, Finnland, Malta, Österreich und der Schweiz. Der Kosovo und Georgien möchten (neben der Ukraine) der NATO beitreten (Quelle: Wikipedia).

Folgende Grafik zeigt die europäischen NATO-Staaten (blau), einen Teil der Russischen Föderation (rot) und die NATO-Beitrittsinteressenten (grau mit Punkten; die Krim ist hier rot eingefärbt, die Region Donbass grau mit Punkten):



Weil Russlands Sorge um eine NATO-Osterweiterung eine große Rolle in dem Konflikt spielt, hier noch eine Grafik, die alle NATO-Osterweiterungen seit der NATO-Gründung im Jahr 1949 zeigt. Besonders interessant sind die Erweiterungen seit der deutschen Wiedervereinigung im Jahr 1989 (die Krim und der Donbass sind hier grau mit Punkten eingefärbt):



Interessant ist auch ein Blick auf die russischen und US-amerikanischen Militärstützpunkte in aller Welt. Leider liegt mir hierzu nur eine Grafik für das Jahr 2014 vor. Die Karte zeigt aber meiner Meinung nach deutlich, wer sich von wem bedroht fühlen kann:


(Quelle der drei Grafiken: "Swiss Institute for Peace and Energy Research (SIPER)". Hinweis: Ich verwende die Grafiken des Siper-Instituts von Daniele Ganser, weil sie frei verfügbar sind. Von verschiedenen Thesen Gansers distanziere ich mich aber ausdrücklich.)

Wie auch immer man die Daten interpretieren mag: Es scheint mir fraglos, dass die NATO die stärkere Seite im gegenwärtigen Konflikt ist.

Folgt man dem Vorgehen Abrahams und einer Strategie der Deeskalation, dann müsste die NATO auf Russland zugehen. Aber wie kann sie das tun?

Vergegenwärtigen wir uns nochmal die Konfliktlage: Russland will eine Zusicherung, dass die NATO sich nicht weiter nach Osten ausdehnt. Die NATO will diese Zusicherung nicht geben, sondern sich vorbehalten, ihren Machtbereich weiter nach Osten auszudehnen.

Nun könnte die NATO als der stärkere Machtblock auf eine weitere Osterweiterung verzichten, ohne dass durch solch einen Verzicht irgendeine Gefahr für sie ausginge. Und Russland könnte zusichern, dass es keine Invasion in die Ukraine vollziehen wird, und zwar auch in Zukunft nicht. Die Ukraine wäre dann ein neutrales Land zwischen den beiden Machtblöcken. So wäre Russlands Sicherheitsbedürfnis befriedigt und das der NATO nicht gefährdet.

Sicher kann man manches gegen diesen Vorschlag einwenden. Nicht wenige Menschen in Deutschland, aber auch in der Ukraine, in den baltischen Ländern und in Polen, haben Angst vor Russland. Russland hat durch die Besetzung eines Teils der Ukraine dazu beigetragen, ist also keinesfalls unschuldig am gegenwärtigen Konflikt. Dass einige Länder Schutz bei der NATO suchen, ist verständlich. Aber auch über diese Schutzbedürfnisse könnte man verhandeln: Man könnte Russland anbieten, den Kosovo, Georgien und die Ukraine nicht in die NATO aufzunehmen. Im Gegenzug müsste Russland sich verpflichten, weder diese Staaten noch die baltischen Länder oder Polen (von Weißrussland aus) anzugreifen.

Es ist sicher misslich, den genannten Ländern den Wunsch nach einer NATO-Mitgliedschaft zu versagen. Natürlich hat jedes Land das Recht, einen Antrag auf Mitgliedschaft in der NATO zu stellen. Aber es gibt keine Pflicht der NATO, jedes Land aufzunehmen. Und es könnte dem Weltfrieden dienen, wenn man den eigenen Machtbereich nicht zu sehr ausdehnt, weil man anerkennt, dass auch Russland berechtigte Sicherheitsinteressen hat.

Ich weiß, dass politische Analysen sehr unterschiedlich ausfallen. Ich will auch gar nicht behaupten, dass die hier vorgetragene die einzig richtige ist. Es geht mir auch nicht darum, Putin zu einem Friedensengel zu erheben oder die NATO zu verteufeln. Putin ist gewiss kein „lupenreiner Demokrat", womöglich sogar ein Feind der Demokratie und ganz bestimmt ein Machtpolitiker. Dennoch sollte man auch für den „Feind" Verständnis aufbringen. Es geht mir einzig und allein darum zu zeigen, wie eine christliche Lösung des gegenwärtigen Konflikts möglicherweise aussehen könnte, und zwar eine Lösung, die einen Krieg vermeiden würde.

Sicher gibt es verschiedene Vorschläge, wie der Konflikt entschärft werden könnte. Wer mit meinen Vorschlägen nicht einverstanden ist, möge mir seine schildern. Meine Bitte wäre nur, dabei nicht die NATO für den Guten zu halten, der niemals jemanden bedrohen wird, und Russland für den Bösen, der nur Schlechtes im Sinn führen kann und folglich allein für den Konflikt verantwortlich ist. Ich denke, wenigstens ein Funke Feindesliebe und Selbstkritik müsste in jedem christlichen Vorschlag erkennbar sein, und das heißt: erstens Verständnis für die Situation des Anderen, zweitens die Reflektion des eigenen Anteils an der Entstehung des Konflikts und drittens die Bereitschaft, ein kalkulierbares Risiko einzugehen. Denn ohne diese Bereitschaft ist Vertrauen nicht möglich. Und ohne ein Minimum an Vertrauen ist Friede nicht möglich.

Ich denke, alles, was den Konflikt entschärft, ist besser als ein Krieg, der wohl viele tausend Tote beklagen müsste – von Verkrüppelungen, Vergewaltigungen und Traumatisierungen ganz zu schweigen.

Ein sich christlich verstehendes Abendland müsste eigentlich einen Weg finden, das zu vermeiden. Und es müsste zugleich einen zweiten Weg einschlagen.


5. Für den Frieden beten und arbeiten

Zum Weg des christlichen Glaubens gehört nicht nur das Handeln, sondern auch das Beten. Die Regel der benediktinischen Mönche ora et labora ist hier hilfreich: Bete und arbeite! Beides schließt sich nicht etwa aus, sondern für einen Glaubenden ein.

Wer für den Frieden ernsthaft betet, wird die Hände nicht in den Schoß legen, sondern seine Verantwortung sehen, auch für den Frieden zu arbeiten. Und wer für den Frieden arbeitet, wird sich seiner und aller Menschen Unzulänglichkeit bewusst sein und darum die Notwendigkeit sehen, auch für den Frieden zu beten.

Ich halte das Gebet für den Frieden für ebenso wichtig wie die Arbeit für den Frieden. Denn Gott kann die Herzen der Menschen bewegen, auch der Menschen, die ihm nicht im Glauben verbunden sind (Röm 2,14f; 5,5). Darum ist es wichtig, ja unerlässlich, dafür zu beten, dass die laufenden Verhandlungen zu einem Ergebnis führen, mit dem ein Krieg vermieden wird.

Möge Gott sich erbarmen und allen am politischen Prozess Beteiligten die Gnade geben, zu einer für alle Seiten akzeptablen Lösung zu kommen!


* * * * *






20 Kommentare
2022-01-25 15:07:44
Hallo Klaus,

auf der einen Seite ist Frieden ein ganz klassisches Thema des Christentums. Es gipfelt im Gebot der Feindesliebe aus der Bergpredigt, das du ja oben zitierst.

Zu den Themen Krieg und Frieden steht generell viel in der Bibel. Neulich war die Tageslosung:

Jeder Stiefel, der mit Gedröhn dahergeht, und jeder Mantel, durch Blut geschleift, wird verbrannt und vom Feuer verzehrt. Jesaja 9,4

Ein ganz starkes Bild! Diese Prophezeiung hat sich oft bewahrheitet, für das römische Reich ebenso wie für das Dritte Reich in der jüngeren Geschichte.

Andererseits war zuletzt nach Bibelleseplan das Buch Josua dran, unter anderem mit der Eroberung Jerichos, wo anschließend der sog. Bann an der Bevölkerung vollstreckt wird. Im Klartext ist das ein Völkermord, ohne dass das weiter kommentiert, geschweige denn negativ bewertet würde.

Das heißt, man kann in der Bibel Belege für ganz unterschiedliche Positionen finden. Und ich habe den Eindruck, dass dort oft jeweils in dem Sinne gezielt so gewählt wird, wie es einem gerade passt.

Was für mich aber letzlich zentral bleibt, sind die Worte Jesu aus der Bergpredigt. Gleichzeitig habe ich im Hinterkopf, dass Jesus auch irgendwo gesagt, sein Reich sei nicht von dieser Welt. Für mich begrenzt das die Möglichkeiten der Kirche zu konkreter Politikberatung. Das Thema Rüstung, Krieg und Frieden bleibt komplex, auch unter Christen.

Von Bonhoeffer habe ich seine Aussage im Kopf, man müsse dem Rad in die Speichen fallen und nicht nur die Verletzten unter dem Rad verbinden. Und von Helmut Schmidt sein Zitat, mit der Bergpredigt könne man nicht regieren. An beidem ist etwas dran.

Deine Einschätzung der aktuellen Situation Russland-Ukraine teile ich nicht. Russland hat 2014 völkerrechtswidrig einen Teil der Ukraine besetzt. Jetzt lässt es an der Grenze große Manöver stattfinden und baut damit eine glaubwürdige Drohkulisse auf. Russland ist hier der Aggressor. Der rhetorische Gegenangriff, Russland wäre ja im Grunde bedroht und von der NATO eingekreist, ist für mich eines der üblichen Mittel im Machtpoker. Genau jetzt wäre es m. E. falsch, wenn die NATO die Option eines Beitritts der Ukraine aufgeben würde, auch wenn ich alles andere als begeistert wäre, die Ukraine dabei zu haben.

Gestern abend habe ich im Radio (WDR2) ein sehr interessantes Interview mit Sabine Adler gehört, einer renommierten Journalistin mit guten Kenntnissen hinsichtlich Russland und Osteuropa. Ich kann dir sehr empfehlen, es nachzuhören. Link zur Mediathek hier:

https://www1.wdr.de/mediathek/audio/wdr2/joerg-thadeusz/audio-sabine-adler-journalistin-und-osteuropa-expertin-100.html

Viele Grüße

Thomas

Hans-Jürgen
2022-01-25 15:30:07
Hallo Klaus,

zweierlei fällt mir zu Deinen Ausführungen ein:

- Die Katharer und Waldenser, die den Krieg ablehnten, wurden von der Kirche gnadenlos bis auf geringe Reste ausgerottet. Diese hatte mit ihnen, gerade weil sie friedfertig waren, leichtes Spiel.

- das Sprichwort: Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt.

Viele Grüße
Hans-Jürgen
2022-01-25 21:47:29
Hallo Thomas,

danke für deinen ausführlichen Kommentar, auch für das Wort aus Jes 9,4, das ich ebenfalls sehr beeindruckend finde. Du hast natürlich recht damit, dass es im Alten Testament auch sehr kriegerische Erzählungen gibt. Manchmal tritt sogar Gott selbst als Kriegsherr auf. Ich würde aber daraus nicht den Schluss ziehen, dass sich jeder das heraussucht, was ihm gerade passt. Meine Auslegungspraxis würde eher versuchen, beides nebeneinander stehen zu lassen und zu sagen: In unterschiedlichen Situationen sind auch unterschiedliche Verhaltensweisen nötig. Gegen das Dritte Reich war es wohl nicht anders möglich, als einen Krieg zu führen, um weiteres Unrecht und Sterben zu verhindern. Darum würde ich mich auch nicht als Pazifisten bezeichnen, obwohl ich jeden Pazifisten hoch schätze. Dennoch bleiben im Alten Testament schwierige Stellen, die zeigen, dass es dort auch menschelt, und die man vom Liebesgebot und von der Person Jesu Christi her wird relativieren müssen.

Was den Bann betrifft, wurden die entsprechenden Texte wahrscheinlich erst Jahrhunderte nach den Geschehnissen formuliert, so dass es sich um eine Wunschvorstellung der „Nachgeborenen" handelt, die in hoffnungsloser Unterlegenheit gegenüber den assyrischen und babylonischen Truppen die Gewissheit bezeugen wollten, dass Gott viel mächtiger ist als die Götter Assyriens und Babyloniens. Blutrünstige Texte waren damals keine Seltenheit, assyrische und babylonische Kriegsberichte fallen noch brutaler aus (da ist von ganzen Tälern die Rede, welche von den Göttern mit Leichen und Blut gefüllt wurden), und da wollte Israel wohl auch etwas anzubieten haben. Deshalb können wir diese Texte natürlich nicht als Vorbild für unser Verhalten heute nehmen. Mir wäre es lieber, sie ständen nicht in der Bibel, aber weil sie nun mal drinstehen, müssen wir sie relativieren. Sie widersprechen eindeutig dem Gebot der Feindesliebe.

Was Jericho anlangt, geht die Forschung sogar davon aus, dass die Stadt schon in Schutt und Asche lag, als die Israeliten dort ankamen. Auch diese Geschichte wäre also nur Säbelrasseln in späterer Zeit, um deutlich zu machen, dass der Gott Israels die Zügel in der Hand hat, so groß sich auch die Nachbarvölker Israels tun mögen.

Dass man mit der Bergpredigt keine Politik machen könne, halte ich für falsch. Von Helmut Schmidt, gegen dessen „Nachrüstung" ich schon in den 80er Jahren auf die Straße gegangen bin und der meinte, wer Visionen habe, solle zum Arzt gehen, erwarte ich allerdings auch nichts anderes. Ich würde sagen, man sollte sogar mit der Bergpredigt Politik machen, so gut es geht, und wenn es nicht mehr geht, wie im Fall des Dritten Reiches, dann sollte man zumindest den Geist der Bergpredigt im Hinterkopf behalten. Ich glaube nicht, dass Jesus einen Unterschied zwischen Politik und Privatleben machen wollte. Auch im Privatleben hat es mal ein Ende mit dem Hinhalten der anderen Wange, denn niemand ist zur permanenten Selbstaufgabe verpflichtet, die schließlich weder dem Opfer noch dem Täter etwas bringt.

Jesu Reich ist nicht von dieser Welt, aber es ist in dieser Welt. Ich verstehe das so, dass Jesu Reich in unserer Welt Gestalt annehmen soll, dass dieses Gestaltannehmen aber nicht von der Welt her geschieht, sondern von Gott her. Anders gesagt: Jesu Reich ereignet sich nicht aus menschlichem Vermögen, sondern in der Kraft des heiligen Geistes.

Ich sehe Russland wie du als den Aggressor gegenüber der Ukraine, verstehe aber auch, dass man aus russischer Sicht die mehrfachen NATO-Osterweiterungen als Aggression sieht, weil der Westen damit seinen Einflussbereich immer weiter vergrößert und bis an die russische Grenze verschoben hat. Machtpolitik wird hier auf beiden Seiten betrieben, und wir sollten die NATO nicht von vornherein als die Organisation sehen, die immer nur Gutes im Schilde führt. Aus russischer Sicht stellt sich das anders dar. Man stelle sich nur einmal vor, die ehemals zur UdSSR gehörenden Staaten hätten nach dem Zerfall der UdSSR nach und nach alle ein Bündnis mit Russland geschlossen, einschließlich Polen, und russische Soldaten stünden jetzt an der polnisch-deutschen Grenze. Wie wäre das wohl für uns?

Dass Russland zwar nicht von der NATO, aber von amerikanischen Stützpunkten eingekreist ist, zeigt m.E. die entsprechende Karte eindeutig. Und ein Blick auf die Höhe der Rüstungsausgaben macht klar, wer hier die klar stärkere Position und deshalb nichts zu befürchten hat, wenn man mal von einem gegenseitigen Atomschlag, zu dem beide Seiten fähig sind, absieht.

Danke auch für den Link zu Interview. Ich habe es mir angehört, finde aber, dass es keine neuen Argumente bringt. Am interessantesten fand ich den Hinweis auf Putins Rede 2001 im Deutschen Bundestag, in der Putin eine internationale Sicherheitsarchitektur und ein Vertrauensklima anregte, worauf der Westen aber nicht einging und was heute von vielen, auch von der putinkritischen Journalistin, als vertane Chance beurteilt wird.

Allen unterschiedlichen politischen Einschätzungen zum Trotz halte ich einen Dialog für das richtige Mittel, wie er ja auch jetzt noch geführt wird, und würde eine Lösung in der Richtung, wie ich sie vorgeschlagen habe, für gut heißen. Der Ukraine bliebe dann ein Krieg erspart, sie bliebe ein freies Land, und die NATO hätte keinen Schaden davon. Für die Zukunft wäre vielleicht wieder Vertrauen gewonnen. Ich finde, das kommt einer Haltung der Feindesliebe am nähesten.

Viele Grüße
Klaus
2022-01-25 22:13:26
Hallo Hans-Jürgen,

vielen Dank für deine Hinweise. Das Vorgehen der Kirche gegen die Waldenser und Katharer ist natürlich in keiner Weise zu rechtfertigen. Ich bewundere alle, die auf Gewaltfreiheit beharren und dafür sogar in den Tod gehen. Da war das Gute sicher auf der Seite der Verfolgten und nicht auf der Seite der Kirche. Die Macht des Stärkeren und Brutalen hat sich hier durchgesetzt, wie so oft in der Geschichte. Ich finde, daraus sollte man nicht ableiten, dass man sich doch lieber wehren sollte - auch wenn ich nicht weiß, was ich täte, wenn man mir ans Leben wollte. Aber ich halte es für ein wunderbares Zeichen der Feindesliebe, wenn man die Kraft bekommt, gewaltfrei zu bleiben.

Das Sprichwort "Es kann der Frömmste nicht in Frieden leben, wenn es dem bösen Nachbarn nicht gefällt" ist wohl sehr wahr. Zum Frieden gehören immer mindestens zwei. Darum hat Paulus wohl auch geschrieben: "Ist es möglich, soviel an euch liegt, haltet mit allen Menschen Frieden!" (Röm 12,18) Man kann nur das tun, was an einem selber liegt. Aber das sollte man eben auch tun. Und wenn der böse Nachbar dann nicht mitmacht, lebt man im Unfrieden mit ihm. Das schließt aber nicht aus, dass man trotzdem immer wieder den Frieden mit ihm sucht, so gut man es vermag; dass man also auch dem bösen Nachbarn mit Respekt, Nächstenliebe und einem Minimum an Vertrauen begegnet - vielleicht findet er ja doch irgendwann Gefallen an einem friedlichen Miteinander.

Viele Grüße
Klaus
2022-01-27 10:27:33
Hallo Klaus,

interessant Dein Gedanke, die Bibel bei Bedarf an einzelnen Stellen zu "relativieren". Er entspringt offenbar menschlichen Bedürfnissen; dabei gilt die Heilige Schrift Millionen Christen als Gottes Wort! Relativierungen gibt es schon seit längerem bei aufeinander folgenden Bibelübersetzungen, um manches "genießbarer" oder wenigstens deutlicher, verständlicher zu machen. Die beiden anderen Religionen, die sich, wie von Dir beschrieben, im "House of One" der Öffentlichkeit vorstellten, sind da strenger; der Koran darf, soweit ich weiß, offiziell nicht einmal in fremde Sprachen übersetzt werden.

Zur NATO, der ein nicht unbeträchtlicher Teil Deines Artikels gewidmet ist, aus meiner Sicht hier nur dies: sie ist in ihrer Zielsetzung ein Verteidigungsbündnis, was schon der Name besagt. Außerdem ist führenden westlichen Politikern und Militärs bewusst, dass es sinnlos und unmöglich ist, Russland anzugreifen und zu besiegen; das zeigen die vergeblichen Versuche Napoleons und Hitlers. Präsident Putin hat also keinen Grund, sich vor den zur NATO gehörenden Ländern an seinen Grenzen zu fürchten. Die meisten von ihnen lebten und litten jahrzehntelang unter sowjetrussischem Einfluss. Davon haben sie endgültig genug und bemüh(t)en deshalb um die NATO-Mitgliedschaft. Sie sind es, die vor dem übermächtigen Nachbarn Angst haben.

Im übrigen glaube ich nicht, dass man diktatorisch regierenden Machthabern vertrauen kann. Das zeigte sich wiederum bei Hitler kurz vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs: er log und betrog. Sogar seinen eigenen vorübergehenden Vertragspartner, die Sowjetunion, verriet und überfiel er. In kleinerem, dennoch nicht unbedeutendem Maßstab ist mir erinnerlich, wie ein gewisser Spitzbart wider besseres Wissen in Bezug auf Berlin erklärte: "Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu bauen." Als sie zwei Monate später tatsächlich gebaut wurde, resultierten daraus üble Folgen für die eingeschlossenen West-Berliner und für Deutschland insgesamt. Sie konnten nur durch Unnachgiebigkeit und Härte überwunden werden, nicht durch biblisch gebotene Feindesliebe und Verständnis für den Gegner. Ähnliche, nicht militärische, aber politische Bedrohungen gab es damals wie heute gegenüber der Ukraine.

Danke für die Überschrift Deines Artikels und viele Grüße,
Hans-Jürgen


2022-01-27 12:40:19
Hallo Hans-Jürgen,

danke für deine Stellungnahme, die wichtige Fragen anspricht. Zunächst zur Frage der "Relativierung" biblischer Texte: Ich spreche eigentlich nicht gern davon. Und zwar deshalb nicht, weil die Menschen viel zu schnell dabei sind, die Bibel zu relativieren und damit nicht mehr ernst zu nehmen. Das erste, was man sagen muss, ist also: Die Bibel ist ernst zu nehmen als die Urkunde, durch die Gott zu uns sprechen will, und man soll sich davor hüten, einfach das eine oder andere, was einem nicht passt, aus der Bibel zu streichen oder sich das herauszusuchen, was einem gerade in den Kram passt. Das alles habe ich mit "Relativierung" auch nicht gemeint. Was ich meine, ist, dass die biblischen Gedanken immer auch an dem Gesamtzeugnis der Bibel und an Jesus Christus, von dem das Neue Testament zeugt, gemessen werden müssen. Die Bibel legt sich also sozusagen selber aus (das ist ein alter theologischer Grundsatz: scriptura sacra sui ipsius interpres).

Wenn man diesen Grundsatz anwendet, findet man, dass einige Aussagen z.B. nicht mit dem Gebot der Feindesliebe übereinstimmen. Trotzdem würde ich diese Aussagen versuchen, im Kontext ihrer Zeit zu verstehen. Die Verfasser der biblischen Schriften waren eben auch Menschen und als solche Kinder ihrer Zeit, und das wird hier und da auch schmerzlich deutlich. Wenn ich z.B. die brutalen Aussagen vom Bann dem Gesamtzeugnis der Bibel und der Person Jesu Christi gegenüberstelle, kann ich diese Aussagen als zeitgemäßes Säbelrasseln deuten (das historisch möglicherweise niemals angewandt wurde), aber nicht als göttliche Anordnung zum Gebrauch von brutaler Gewalt. Ich finde, das ist eine historisch und theologisch angemessene Art und Weise, mit der heiligen Schrift umzugehen, ohne ihr den Charakter eines Maßstabs für uns zu nehmen.

Das unterscheidet die Bibel übrigens auch z.B. vom Koran, dass sie nicht wörtlich von Gott diktiert oder niedergeschrieben wurde, sondern dass sie "Gotteswort in Menschenmund" ist, und Menschen leben und denken eben immer in den Kategorien ihrer jeweiligen Zeit, sie sind nicht der Zeit enthoben. Der Zeit enthoben ist nur Gott selbst, aber er hat die Bibel nach christlichem Verständnis nun mal nicht geschrieben. Die Bibel ist nicht vom Himmel gefallen. Zur Vorstellung von der wörtlichen Inspiration der Bibel habe ich etwas geschrieben im Artikel Theologische Forschung und christlicher Glaube, dort im Punkt 5).

Zur politischen Situation möchte ich nur sagen: Ich bin gar nicht dagegen, dem von Putin aufgebauten Drohpotential mit dem Hinweis auf schwerwiegende wirtschaftliche Folgen eines Einmarsches in der Ukraine etwas entgegenzusetzen. Militärisches Säbelrasseln halte ich allerdings für unangebracht, weil Putin genau weiß, dass die NATO wegen der Ukraine nicht Russland angreifen wird. Das kann ja wohl auch keiner wollen. Ich bin aber sehr dafür, dass man das Gespräch mit ihm fortsetzt, wie es jetzt ja auch geschieht. Wenn man miteinander spricht und schließlich einen Vertrag miteinander schließt, ist aber ein Minimum an Vertrauen notwendig. Wie im täglichen Leben, so geht es auch in der Politik nicht ohne solches Vertrauen. Damit meine ich keine naive Gefühlsduselei, sondern das Zutrauen, dass der Vertragspartner den Vertrag auch – zumindest eine Zeit lang – einhalten wird. Dass in der Politik viel gelogen wird – und zwar nicht nur bei Diktatoren – ist deutlich und erleben wir beinahe täglich. Dennoch müssen wir, um die staatliche Ordnung nicht aufzugeben, immer wieder Vertrauen üben.

Darum halte ich es auch nicht für christlich, sich selbst bzw. die eigene Seite für die Guten zu halten und die andere Seite für den Bösen. Christlicher Glaube beinhaltet immer auch ein gutes Maß an Selbstkritik. Außerdem gehört m.E. zum christlichen Glauben auch ein gewisses Maß an Empathie, um mich in die Situation des anderen, auch des „Feindes", einzufühlen. Ohne diese Empathie wird Feindesliebe nicht möglich sein. Ich finde, es hilft hier auch nicht, historische Beispiele anzuführen, in denen Vertrauen gebrochen und das Völkerrecht ignoriert wurde. Man kann ja immer genauso viele Beispiele anführen, in denen die „eigene Seite" dasselbe getan hat. Auch ein Bündnis, das sich der Verteidigung verschrieben hat, ist kein Hort der Seligen und kann einen Angriffskrieg führen. Und natürlich kann Russland mit Atomwaffen angegriffen und besiegt werden, so wie umgekehrt auch wir.

Darum finde ich es wichtig, miteinander zu reden und auch Russland etwas anzubieten, wie jetzt z.B. eine Abrüstung der atomaren Raketen, die von Kiew aus Moskau erreichen könnten. Es wäre gut, wenn Putin sich darauf einlassen und darauf verzichten könnte, die Nichtaufnahme der Ukraine in die NATO zu fordern. Ich könnte aber auch verstehen, wenn er auf dieser Forderung beharren würde. Denn dass Russland, das bereits zweimal von Deutschland angegriffen wurde und einen hohen Preis bezahlen musste, nichts zu befürchten habe, ist, wie ich finde, sehr von westlicher Seite aus gedacht und nach der Devise „Wir sind die Guten, von denen niemand etwas zu befürchten hat". In Russland, und zwar in der „normalen" Bevölkerung, sieht man das offenbar ganz anders.

Sollte es da der stärkeren Seite nicht möglich sein, der schwächeren entgegenzukommen? Muss es immer auf ein militärisches Muskelspiel hinauslaufen? Muss der Westen unbedingt seinen Einflussbereich ausweiten – wo er sowieso schon viel größer ist als der Russlands? Ich denke, die Bibel vertritt keinen Standpunkt, der die Macht des Stärkeren betont, sondern einen, der militärische Macht – wenn überhaupt – nur als ultima ratio, als letztes Mittel, einsetzt. Und eine Strategie der Abschreckung muss keinesfalls zum Frieden führen, sondern kann in einem (atomaren) Krieg enden. Der Weg Abrahams, aus der Position der Stärke heraus auf den anderen zuzugehen, erscheint mir da als der verheißungsvollere.

Das ist meine Sicht, und ich will das nur zu bedenken geben, ohne irgendjemandem seinen Glauben abzusprechen oder etwas dergleichen.

Viele Grüße
Klaus
2022-01-27 12:43:53
P.S. Zu deiner interessanten verlinkten Website werde ich mich heute Abend noch äußern, danke dafür. Im Moment drängt bei mir etwas die Zeit.
2022-01-27 17:15:22
Hallo Hans-Jürgen,

vielen Dank für deine verlinkte Seite mit der Gegenüberstellung der verschiedenen Übersetzungen von 2Sam 12,31. Ich habe dazu in der "Stuttgarter Erklärungsbibel" folgende interessante Anmerkung gefunden:

"Bis 1964 war der Anfang dieses Verses in der Lutherbibel folgendermaßen übersetzt: 'Aber das Volk drinnen führte er heraus und legte sie unter eiserne Sägen und Zacken und eiserne Keile und verbrannte sie in Ziegelöfen.' Diese Fassung geht zurück auf ein Missverständnis der Parallelüberlieferung in 1Chr 20,3, wo schon frühjüdische Ausleger das nur dort vorkommende Zeitwort als 'zersägen' deuteten. Das Missverständnis kam von da aus in die griechische und lateinische Übersetzung (Septuaginta, Vulgata) und wurde auch in 2Sam 12,31 eingetragen. Doch ist der Sinn an dieser Stelle sprachlich ganz eindeutig. Irrtümlich ist auch die Übersetzung Ziegelöfen statt Ziegelformen; in Palästina wurden wie in Ägypten Ziegel nicht gebrannt, sondern an der Luft getrocknet."

Mit anderen Worten: In 1Chr 20,3 wird die Geschichte aus 2Sam 12,31 fast wortgleich nochmal erzählt, aber an der Stelle des Verbs "setzen, stellen, legen" steht dort ein anderes Verb, das sich nur in einem einzigen Buchstaben von "setzen etc." unterscheidet. Dieses andere Verb kommt offenbar nur an dieser Stelle in der Bibel vor. Ich weiß nicht, ob es noch in anderen antiken Schriften vorkommt. Jedenfalls hat man das Verb mit "zersägen" übersetzt, so wie schon in der griechischen und lateinischen Übersetzung des Alten Testaments. Vielleicht hat man sich einfach an diese alten Übersetzungen angelehnt. Und obwohl in 2Sam 12,31 ein anderes Verb steht, hat man auch dort "zersägen" übersetzt - frag mich nicht warum. Das hebräische Wort für "unter" (die Säge legen) und "an" (die Säge stellen) ist dasselbe.

Im Lexikon steht für das Wort, das früher mit "Ziegelöfen" übersetzt wurde, "Ziegelformen". Wie es zu dieser Neuübersetzung kommt, weiß ich nicht. Man sieht aber an alldem, dass die Forschung im Fluss ist und es sogar in solch scheinbar eindeutigen Fragen, wie ein Wort zu übersetzen ist, immer mal neue Erkenntnisse gibt. Letztlich muss ich, wie jeder Bibelleser auch, das glauben, was die Hebraisten und Textkritiker mir vorgeben. Auch die theologische Forschung ist eben sehr spezialisiert. Eine bewusste Sinnveränderung des Bibeltextes, etwa weil die alte Fassung zu grausam erscheint, würde ich aber ausschließen, weil sie sich in der Forschung nie durchsetzen würde.

Noch etwas ganz anderes:
Inspiriert durch deine Tipps zur Einfügung von HTML-Tags (danke nochmal dafür) habe ich mal recherchiert, wie man einen Link auf eine andere Website hier einfügen kann. Und ich bin fündig geworden. Du musst also deine Webseiten nicht mehr mit deinem Namen verlinken, sondern kannst hier nachlesen, wie du den Link direkt in den Text einfügst.

Viele Grüße
Klaus
2022-01-27 17:17:20
Hallo Klaus,

gegen die sog. NATO-Nachrüstung bin ich damals, zu Zeiten Helmut Schmidts als Bundeskanzler, auch auf die Straße gegangen. Nicht zuletzt, weil ich es für möglich gehalten habe, dass durch einen technischen Fehler ein sog. Atomkrieg ausgelöst werden könnte, weil die Beteiligten Großmächte angesichts der kurzen Vorwarnzeiten dann keine Zeit mehr gehabt hätten, sich noch einmal kurz abzustimmen.

Die Kirche bot da eine gute und glaubwürdige Basisorganisation. Bei mir war sie aber durchaus mehr als bloßes Vehikel, nur, damit da keine Missverständnisse aufkommen.

Interessant fand ich deine Aussagen zum Jona-Buch, dass dort und an anderen Stellen des AT vieles wohl an die Erwartungen der Leser- und Hörerschaft angepasst wurde. Aus meiner Sicht gibt es solche Effekte auch im NT. Soweit ich weiß, lernt das wohl jeder in einem seriösen Theologiestudium. Danach würde man m. M. n. am liebsten gar nicht mehr darüber sprechen, weil das die gläubigen Schäfchen doch verunsichern könnte, mindestens aber wie ein Autoritätsbegrenzer für die Heilige Schrift und damit auch die Kirche wirkt.

Das Problem ist nur, dass kritische Laien wie ich auch davon erfahren. Für die einen kommt dann alles ins Rutschen, andere fordern, dass damit offen und ehrlich umgegangen wird. Ich gehöre zu dieser zweiten Gruppe.

Viele Grüße

Thomas
2022-01-27 18:02:20
Hallo Thomas,

dann haben wir ja damals vielleicht zusammen in Bonn demonstriert. Das mit dem technischen Fehler ist wirklich ein Argument. Zweimal, während der Kuba-Krise 1963 und im Kalten Krieg 1983, wäre es fast soweit gewesen, zweimal verhindert durch einen russischen Offizier, 1963 durch Wassili Archipow und 1983 durch Stanislaw Petrov.

Auf welche meiner Aussagen zum Jona-Buch du dich beziehst, weiß ich gerade nicht mehr, aber grundsätzlich wollten die Verfasser der biblischen Schriften sicher nicht ihren Lesern nach dem Munde reden, ihnen aber doch in ihrer jeweiligen Situation und vor ihrem geistigen Hintergrund begegnen. So schreibt z.B. Paulus an die Galater völlig anders (was nicht heißt: etwas anderes!) als an die Römer.

Es ist sicher ein Problem, dass viele wissenschaftliche Erkenntnisse dem theologischen Laien gar nicht geläufig sind. Es gibt aber zum Glück reichlich Literatur, die auch einem Laien verständlich ist, und die evangelische Erwachsenenbildung, die es in jedem Kirchenkreis gibt, sowie die kirchlichen Akademien vermitteln auch theologisches Grundlagenwissen, so dass jeder Mensch, der es möchte, sich die gesuchten Informationen eigentlich aneignen kann. Etwas zu verschweigen, um niemanden zu verunsichern, ist sicher der schlechteste Weg.

Viele Grüße
Klaus
Hans-Jürgen
2022-01-27 20:33:48
Hallo Klaus,

danke für Deine Sicht auf Politisches; nicht in allem stimme ich Dir zu.

Danke auch für Deine sprachliche Erläuterungen zu 2Sam12,31 sowie Deinen Hinweis auf Linkmöglichkeiten innerhalb Deines Blogs. Ich kenne das von meiner eigenen Homepage, wusste aber nicht, ob es auch bei Dir geht, da ich Deinen HTML-Quelltext nicht einsehen kann.

So versuch' ich's jetzt hier gleich zweimal:
Hans-Jürgen
2022-01-27 20:36:23
Hat nicht geklappt, obwohl ich genau so vorgegangen bin wie bei mir und wie es der von Dir angegebene Link empfiehlt. Schade.
2022-01-27 20:37:50
Ja, merkwürdig ... Das sind die Geheimnisse der Technik ...
2022-01-27 21:17:57
also dann sende ich Dir auf die alte Tour ("oben links") die erste der beiden Seiten und anschließend, weil sie mit ihr inhaltlich zusammenhängt, die zweite
2022-01-27 21:21:06
Viele Grüße!
2022-01-28 11:21:08
Hallo Hans-Jürgen,

danke für deine beiden interessanten Seiten. Ich verlinke sie hier nochmal.

Unterschiedliche Übersetzungen von 1. Mose 19: Das hebräische Wort heißt wirklich "erkennen". Es wird aber auch für den Geschlechtsakt verwendet, meist im positiven Sinn, z.B. "Er erkannte sein Weib ..." Das hat dann immer etwas mit Lieben zu tun. Interessant: Was verbindet Lieben und Erkennen? Hier in 1Mo 19,5 ist aber eindeutig eine Vergewaltigung gemeint, was mit Liebe natürlich nichts zu tun hat, und es ist gut, dass das in den neueren Übersetzungen auch deutlich wird.

Ist die Bibel Gottes Wort?: Ich finde, das ist eine sehr schöne Seite, die gut beschreibt, was die Bibel für uns ist und wie man mit ihr umgehen sollte. Wichtig finde ich auch, dass es auch für uns befremdliche Stellen in der Bibel gibt. Von ihnen können wir uns in Frage stellen lassen, sie auch in ihrer begrenzten Bedeutung stehen lassen, ohne sie gleich ganz abzulehnen, und vor allem müssen wir nicht gleich, wie du schreibst, die Bibel als Ganze zurückweisen.

Viele Grüße
Klaus
Hans-Jürgen
2022-01-29 10:15:39
Hallo Klaus,

die auf der letztgenannten Seite von mir verlinkte Seite "Die Bibel ist grausam und menschenverachtend" ist nur ein kleiner Teil der sehr ausgedehnten Webpräsenz "Philoclopedia". Diese enthält vieles aus verschiedenen Wissenschaftsgebieten, das ich noch nicht kannte (bin beim Lesen und Stöbern noch längst nicht durch), und ist sehr lehrreich. Was in der Antike, im Mittelalter und in neuerer Zeit alles untersucht, erdacht, geglaubt, vermutet und bewiesen wurde und immer noch wird, ist schon erstaunlich.

Viele Grüße
Hans-Jürgen
2022-01-29 16:15:05
Hallo Hans-Jürgen,

danke für den Hinweis. Ich habe mir die Seite gründlich angesehen. Zuerst dachte ich: Wow, das ist ja 'ne tolle Seite. Dann las ich einige Seiten über das Christentum und dachte: Naja, das ist schon recht einseitig, und eine Auseinandersetzung mit abweichenden Meinungen erfolgt nicht wirklich. Insgesamt ist der Verfasser sehr belesen, manches ist sehr formal und auch schwer verständlich, aber deshalb nicht unbedingt falsch. Ich frage mich nur, ob er sich nicht hier und da übernommen hat, weil er sich mit so vielen Dingen beschäftigt und den Eindruck erweckt, als kenne er sich überall aus. Aber das mag das Recht der Jugend sein. Ein persönliches Gespräch mit ihm fänd ich mal interessant. Sein Blog ist wohl nicht allzu bekannt, es wird jedenfalls kaum kommentiert. Schade eigentlich. Mal sehen, ob ich mal einen Kommentar bei ihm abgebe 😎.

Viele Grüße
Klaus
Hans-Jürgen
2022-01-29 18:26:55
Hallo Klaus,

bei den Seiten über das Christentum mag eine gewisse Einseitigkeit vorliegen, doch empfinde ich die Fülle der zusammengetragenen Bibelstellen, die die Grausamkeit des jüdisch-christlichen Glaubens belegen sollen, als sehr bedrückend. Wie eine Auseinandersetzung damit aussehen könnte, ist mir im Moment nicht klar, von einigen wenigen Einzelheiten abgesehen. - Interessant fand ich die Seiten über Nietzsche, ohne ein Anhänger des leider wahnsinnig Gewordenen zu sein, und auf einem ganz anderen Gebiet, der Quantentheorie, habe ich etwas neu hinzugelernt und erstmalig verstanden, worüber ich mich freue.

Viele Grüße
Hans-Jürgen
2022-01-29 20:48:21
Hallo Hans-Jürgen,

dass die vielen grausamen Stellen aus dem Alten Testament bedrückend wirken können, leuchtet mir ein. Da hilft eigentlich nur, sich am Kern der christlichen Bibel zu orientieren, nämlich an Jesus Christus und der Liebes- und Versöhnungsbotschaft. Darum sprach ich davon, dass alles, was dazu nicht passt, relativiert werden muss. Nicht alles, was in der Bibel steht, hat gleich hohen Rang. Es gibt auch in der Bibel Unterschiede, was die Tiefe der Erkenntnis und die Bedeutung der einzelnen Worte angeht. Und es gibt eben auch Stellen, denen man vielleicht aus der jeweiligen Entstehungszeit heraus einen Sinn abgewinnen kann (eine Intention, welche die Verfasser damit verfolgten, eine Aussageabsicht, aber vielleicht mit falschen Mitteln), mehr aber auch nicht. Und wenn man sich auf Jesus Christus und Gottes Liebe zu allen Menschen konzentriert, verlieren all diese grausamen Stellen schnell ihre Bedeutung.

Einen schönen Abend
Klaus
Theologische Einsichten für ein gutes Leben
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