Einladung zur Langsamkeit
Warum Gott langsam ist und wir es auch sein sollten
Klaus Straßburg | 11/08/2024
Endlich Urlaub! Endlich Zeit! Endlich kein Stress!
Im Urlaub kann man endlich mal langsam machen. Denn im Urlaub machen alle langsam. Also macht man ganz automatisch auch selber langsam. Während sich vor dem Urlaub alle beeilten, beeilt sich im Urlaub keiner. Im Urlaub habe ich noch keinen rennen sehen – höchstens aus Freude. Ansonsten ist Langsamkeit angesagt.
Man steht langsam auf. Man frühstückt langsam. Man geht langsam. Man fährt langsam Auto. Man trottet langsam durch die Souvenirläden. Man isst langsam ein Stück Kuchen. Man kauft langsam ein. Man vollbringt den Abend langsam. Man geht langsam ins Bett. Man steht langsam auf – wenn überhaupt. Und so weiter ...
Es ist gigantisch, was ich beim Wandern alles erlebe
Ich entdecke gerade auch eine Langsamkeit: die beim Wandern. Früher liebte ich das Radfahren. Radfahren fand ich super – nicht zu schnell und nicht zu langsam. Genau das richtige Tempo. Ich kam mehr rum als beim Wandern. Und ich konnte trotzdem viel sehen und erleben. Meinte ich jedenfalls.
Doch irgendwann hat sich das Blatt gewendet. Jetzt bin ich der Meinung, beim Wandern viel mehr zu erleben als beim Radfahren. Außerdem gefällt mir die Art der Bewegung besser. Und der Hintern schmerzt hinterher auch nicht.
So viel gewandert wie in diesem Jahr bin ich noch nie. Das hängt auch mit meiner neuen Wanderapp zusammen. Ich kann mir vor der Wanderung aus unzähligen Touren eine aussuchen und speichern. Und während der Wanderung gibt es kein Verlaufen mehr, denn die App dirigiert mich mit freundlicher Frauenstimme zielsicher durchs Gelände. Einfach genial! Kein Suchen des richtigen Weges mehr, kein langes Wälzen von Wanderkarten oder -führern, sondern einfach drauflos gehen. Die Wanderapp weist mir den Weg und schlägt sogar freundlich Alarm, wenn ich auf dem falschen Weg bin.
Da nehme ich gern in Kauf, dass manchmal ein Weg gar kein Weg mehr ist, sondern eine Art Urwald. Aber das ist auch ein Abenteuer ...
Es ist gigantisch, was ich beim Wandern alles erlebe. Es gibt verschlungene Pfade, idyllische Seen, plätschernde Bäche, nie zuvor gesehenes Getier, Kapellen, Kreuze, Schnitzereien, Kulturwanderwege mit Gedichten am Wegesrand, philosophische Sprüche im Garten einer Philosophin, ein buddhistisches Kloster mitten im Westerwald und so weiter und so fort. Die Kamera ist immer dabei und findet stets Motive. Und manchmal komme ich sogar mit interessanten Menschen ins Gespräch.
Mens sana in corpore sano, sagten die alten Römer: Ein gesunder Geist ist in einem gesunden Körper. Und das erlebe ich tatsächlich beim Wandern. Denn wenn der Körper sich bewegt, bewegt sich auch der Geist. Meiner jedenfalls. Beim Wandern bekomme ich die besten Ideen. Manche meiner Artikel, Podcasts und Videos sind auf Wanderungen entstanden. Ich habe immer einen Notizblock dabei. Wenn eine Idee kommt, bringt das oft eine ganze Welle weiterer Ideen in Gang. Die schreibe ich mir dann sofort auf – manchmal ein ganzer Artikel in Stichpunkten.
Gott ist uns zu langsam, als dass wir ihn spüren könnten.Oder besser gesagt: Wir sind zu schnell
Zuweilen habe ich beim Wandern die verrückte Idee, dass Gott mich aus der Schöpfung heraus anblickt. Vielleicht ist es aber eher umgekehrt: Ich erblicke in der Schöpfung etwas von Gott. Und dieser Gott ist wunderschön, lebensbejahend, freundlich – und er macht glücklich.
Wandern ist eine verhältnismäßig langsame Art der Fortbewegung. Wir Menschen sind ja überhaupt verhältnismäßig langsame Geschöpfe. Für jeden Hund, jedes Eichhörnchen und sogar jede Ratte sind wir die großen Zweibeiner, die aber sowas von langsam sind. "Wie kann man nur so langsam sein?" denken die. Und bedauern uns. "Diese armen Unbeweglichen!" Ja, Gott hat uns für ein langsames Leben geschaffen.
Wir haben aber, ganz gegen unsere Natur, eine Kultur der Schnelligkeit entwickelt. Wir rasen mit unseren Autos durch die Gegend und beklagen uns nach einem Unfall bei Gott darüber, dass er ihn nicht verhindert hat. Dabei hat er uns für solche Geschwindigkeiten gar nicht gemacht. Und wenn wir trotzdem meinen, durch die Welt rasen zu müssen, dann ist das doch unser eigenes Risiko.
Genauso rasen wir durch unser Leben und fragen uns am Ende, warum es so schnell verging und wir so wenig erlebt haben. Wir treffen schnelle Entscheidungen ohne viel nachzudenken und wundern uns später darüber, dass wir uns falsch entschieden haben. Wir lassen uns mit zahllosen oberflächlichen Informationen vollpumpen, verlieren dabei das große Ganze aus dem Blick und sind frustriert, wenn wir die Welt nicht mehr verstehen.
Zum großen Ganzen gehört auch die transzendente Dimension, man kann auch sagen: die Gottesdimension. Manche spüren ja im Urlaub, wenn sie langsam leben, eine gewisse religiöse Offenheit. Sie besichtigen Kathedralen und tauchen ein wenig ein in das Geheimnis des Unsichtbaren. Sie spüren das Wunderbare der Natur, und in ihnen geht die Frage auf, ob es nicht doch etwas dahinter geben könnte. Sie machen sich vielleicht sogar ein paar Gedanken über den Sinn des Lebens.
Aber nach dem Urlaub nimmt die rastlose Hetze unserer Welt sie wieder in Beschlag. Und da bleibt überhaupt keine Zeit mehr für Gedanken an eine Transzendenz. Bei der jederzeitigen Weltorientierung, die unsere Kultur von uns fordert, muss der langsame Blick für das, was nicht Welt ist, verloren gehen.
Gott ist uns eben zu langsam, als dass wir ihn spüren könnten. Oder besser gesagt: Wir sind zu schnell. Denn Gott ist vor allem "langsam zum Zorn", wie das Alte Testament mehrmals feststellt (4Mo/Num 14,18; Neh 9,17; Ps 86,15; 103,8). Die meisten Bibelübersetzungen schreiben, Gott sei "geduldig" oder "langmütig". Aber das trifft die Sache nicht, die mit "Gott ist langsam zum Zorn" gemeint ist.
Kleiner Tipp nebenbei: Die Elberfelder Übersetzung ist hier die genaueste. Jedenfalls von denen, die ich mir angesehen habe.
Weil bei uns alles schnell gehen muss, meinen wir, Gott müsste ebenfalls schnell sein: schnell mit seiner Hilfe, schnell mit seinen Antworten, schnell damit, sich spüren zu lassen. Ja, und manche Christinnen und Christen meinen, Gott müsste auch schnell mit seinem Zorn sein. Und sie reden dann auch so von Gottes Zorn, dass man gleich an einen explodierenden Choleriker denkt. Dabei ist Gott das glatte Gegenteil!
Wie gut, dass Gott langsam zum Zorn ist, weil er gnädig und barmherzig mit uns umgeht!
Ich plädiere für zwei Monate verpflichtenden Urlaub im Jahrfür alle führenden Politikerinnen und Politiker
Übrigens wird auch uns Menschen in der Bibel Langsamkeit empfohlen. Natürlich sollen auch wir "langsam zum Zorn" sein (Jak 1,19), genauso wie Gott. Wir sollen geduldig sein und dadurch Streit beschwichtigen (Spr 15,18). Wir sollen am Fehlverhalten des Mitmenschen "vorübergehen" (Spr 19,11). Wer die Welt verstehen will, höre gut zu und nehme sich Zeit (Spr 1,1-6). Paulus empfiehlt, wenn man gute Ergebnisse erzielen will, alles genau zu prüfen (1Thess 5,21) – und Prüfen braucht nun einmal Zeit.
Mit anderen Worten: Wir hätten weniger Streit, würden die Welt und unsere Mitmenschen besser verstehen, in besseren Beziehungen leben, mehr Wunder in der langsamen Welt der Natur erkennen und die Schönheit Gottes wahrnehmen, wenn wir uns mehr Zeit nehmen würden.
Ich frage mich, ob all die Politiker, die an den Schalthebeln der Macht sitzen und so viele schwere Entscheidungen zu treffen haben, nicht den Blick für das Schöne und Göttliche verloren haben. Vielleicht sollten sie öfter mal stressfrei und mit offenen Augen und Ohren durch den Wald gehen und zwei Monate Urlaub machen, wahlweise am Meer oder im Kloster.
Ja, ich plädiere für zwei Monate im Jahr Pflichturlaub für alle führenden Politikerinnen und Politiker. Am Meer oder im Kloster. Ohne Handy und Nachrichten, dafür aber mit Enkelkindern. Dann würde sich manches relativieren. Und sie müssten nicht ständig über so schreckliche Dinge nachdenken wie potentielle Feinde, die geopolitische Lage in 30 Jahren und Kriegstüchtigkeit. Sie würden selbstkritischer werden, also den Balken im eigenen Auge entdecken und nicht nur den Splitter im Auge des anderen (Mt 7,3-5; Lk 6,41f). Sie bekämen einen anderen Blick auf das Leben und die Welt. Vielleicht bekämen sie sogar eine Ahnung vom schönen und lebensfreundlichen Gott – und das würde sich ganz sicher auf ihre Politik auswirken.
Mir ist klar, wie schwer das langsame und nachdenkliche Leben in unserer hektischen und getriebenen Kultur ist. Ich habe selbst jahrelang als Gemeindepfarrer gearbeitet und bin oft genug von Termin zu Termin gehetzt. Eine ziemlich ungesunde Lebensweise. Und nicht nur ungesund, sondern auch unchristlich. Und nicht förderlich für eine gute Arbeit in der Gemeinde.
Ich habe gelernt, immer so lange dumm auszusehen, bis ich klug bin.Oder bis die anderen noch dümmer aussehen als ich
(Sten Nadolny)
Wir sollten also die Langsamkeit entdecken – so, wie es Sten Nadolny in seinem Roman "Die Entdeckung der Langsamkeit" eindrucksvoll beschrieben hat. Ich habe den Roman vor vielen Jahren einmal gelesen – mitten in meiner Gemeindehetzerei. Er hat mich beeindruckt – und wahrscheinlich auch ein wenig abgebremst. Jedenfalls habe ich ihn nicht vergessen und zu diesem Beitrag sogar aus dem Regal geholt.
Und weil ich nach einigem Blättern interessante Stellen gefunden habe, biete ich hier zum Schluss noch einige Zitate aus diesem lesenswerten Roman – ganz ohne Zusammenhang, nur zum langsamen Genießen und Meditieren:
An Tante Eliza konnte man lernen, dass bei allzu schnellen Reden der Inhalt so überflüssig war wie die Schnelligkeit.
Plötzlich wusste John, dass sie genauso große Schwierigkeiten hatte wie er, das richtige Wort zu finden. [...] Sie fanden alle die richtigen Worte nicht, aber sie waren eben schnell und gingen mit diesem Mangel anders um als er.
John war mit einem Male wieder stark genug, die Ungeduld anderer zu ertragen, und damit war ihr Spiel zu Ende. Er bewegte sich in seiner eigenen Gangart. [...] Er machte die Pausen da, wo er sie haben wollte, und nicht, wo andere ihn unterbrachen. Er verzichtete auf den starren Blick und den schnarrenden Ton, selbst wenn es brenzlich wurde.
Er [der langsam Lebende] kümmert sich nicht um das Eilige, sondern schaut Einzelnes lange an, er erkennt Dauer und Geschwindigkeit allen Geschehens und setzt sich keine Fristen, sondern macht es sich schwer. Er hört auf die innere Stimme und kann auch den besten Freunden nein sagen, vor allem seinem Ersten Offizier. Sein eigener Rhythmus, sein gut behüteter Atem sind die Zuflucht vor allen scheinbaren Dringlichkeiten, vor angeblichen Notwendigkeiten ohne Ausweg, vor kurzlebigen Lösungen. Wenn er nein gesagt hat, ist er zur Begründung verpflichtet. Aber auch damit darf es keine zu große Eile haben.
Ich habe gelernt, immer so lange dumm auszusehen, bis ich klug bin. Oder bis die anderen noch dümmer aussehen als ich.
Soweit Sten Nadolny. Lies ruhig nochmal und lass dir Zeit.
Ich gebe zu, dass ich noch viel Langsamkeit zu lernen habe. Manches werde ich nie lernen. Denn ich bin leider ein ungeduldiger Mensch. Aber ein bisschen habe ich schon gelernt. Und manchmal höre ich auf eine innere Stimme, und die lässt mich innehalten und auf die Bremse treten.
Vielleicht ist es ja die zärtliche Stimme Gottes, die mich zu der Langsamkeit ruft, zu der ich geschaffen bin.
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Quellennachweis:
Sten Nadolny: Die Entdeckung der Langsamkeit. R. Piper & Co. Verlag. 28. Auflage, München 1993. Die Zitate finden sich auf den Seiten 28, 274, 156, 308, 221 (in der Reihenfolge der Zitate). Angepasst an die neue deutsche Rechtschreibung.
Foto: Shingo_No auf Pixabay.