Eingefahrene Wege verlassen
Pfingsten als Fest der Erneuerung
Klaus Straßburg | 27/05/2023
Manchmal erscheint eine Situation festgefahren und unveränderlich. Aber der Eindruck trügt. Denn Veränderung ist möglich. Nicht nur einzelne Menschen können sich in erstaunlicher Weise verändern, sondern auch die Kirche sowie die gesamte Gesellschaft und Kultur sind der Veränderung fähig.
Sie bedürfen dazu allerdings einer verändernden Kraft, eines Anstoßes von außen, eines Geistes der Erneuerung, der das Leben erst lebendig werden lässt. Denn Veränderung ist Leben; Verhärtung und Stillstand aber sind der Tod.
Doch alle Menschen sind in sich festgefahren, wenn sie nicht Anstöße von außen bekommen, die sie aufleben lassen. Weil Gott ein Gott des Lebens ist, gibt er uns solche Anstöße. Er führt uns Kräfte zu, die wir nicht in uns tragen und die uns allererst zu einem lebendigen Menschen machen. Wenn wir diese Kräfte in uns wirken lassen, führen sie zu einer Erneuerung aller inneren und äußeren Verhältnisse. Eine Umgestaltung unseres Fühlens, Denkens und Handelns setzt ein.
Die biblischen Schriften nennen diese Kräfte den Geist Gottes. Dieser Geist der Erneuerung ist bereits unter uns. Das Pfingstfest erinnert daran, dass Gott diesen Geist auf die Jüngerinnen und Jünger ausgegossen hat. Seitdem wirkt dieser Geist in der Welt, wann und wo Gott ihn auf Menschen ausgießt und Menschen ihn zur Wirkung kommen lassen.
Das Bild des Ausgießens ist nicht zufällig gewählt. Es beschreibt die machtvolle Dimension dieser Kräfte: Nicht um eine tröpfelnde Kraft geht es, sondern um eine breit und massenhaft ausgegossene. Wenn Pfingsten anbricht, lautet Gottes Devise: Nicht kleckern, sondern klotzen.
Ich möchte zunächst rückblickend des Pfingstwunders gedenken und danach auf die radikale Wende der Welt blicken, in welcher der Geist Gottes die Welt aus der verhärteten und festgefahrenen Wirklichkeit herausführt zu einem Leben, das diesen Namen verdient hat. Schließlich werde ich auf das Wunder der Kirche hinweisen, in der Gott wirkt und die deshalb in all ihrer Schwäche stark ist und die Welt verändert.
1. Das Pfingstwunder
Jesu Jüngerinnen und Jünger fassten neuen Mut, als ihnen der gekreuzigte Jesus erschienen war. Die nach Jesu Tod orientierungslos Auseinanderstiebenden versammelten sich nach seiner Auferstehung in Jerusalem. Doch die Erscheinungen Jesu waren nicht von Dauer. Die Apostelgeschichte des Neuen Testaments schildert den Abschied von Jesus im Bild seiner Himmelfahrt: Nachdem Jesus auf einem Berg nahe Jerusalem im Nebel einer Wolke den Augen der Jünger entschwunden ist, schauen sie noch sehnsüchtig mit starrem Blick zum Himmel auf. Sie werden jedoch von zwei Männern in weißen Kleidern angesprochen und abrupt auf die Erde zurückgeholt:
"Ihr Männer aus Galiläa, was steht ihr da und blickt zum Himmel auf? Dieser Jesus, der von euch weg in den Himmel aufgenommen wurde, wird so wiederkommen, wie ihr ihn habt in den Himmel fahren sehen."
(Apg 1,11)
Damit ist gesagt: Nicht im Himmel ist der Ort des Heils, um den es den Jüngern gehen soll, sondern hier auf Erden. Vom Himmel her kommt zwar das Heil, aber es will sich durchsetzen auf Erden. Nicht in den Himmel sollen sich deshalb die Glaubenden träumen, sondern einen Traum vom Reich Gottes auf Erden sollen sie entwickeln. Denn Jesus, der im Himmel ist, wird auf die Erde zurückkommen und sein Reich aufrichten. Also gilt es, nicht unbeweglich mit starrem Blick zum Himmel dazustehen, sondern sich in Bewegung zu setzen und die Erde zu einem Ort zu machen, an dem das Heil sich ereignet.
Da kehrten sie [die Jünger Jesu] nach Jerusalem zurück von dem Berge, welcher Ölberg heißt [...]. Und als sie hineingekommen waren, gingen sie hinauf in das Obergemach, wo sie sich aufzuhalten pflegten [...].
(Apg 1,12f)
Jesus ist fort, und nun beginnt die Zeit der Erwartung und Hoffnung. Jesus hatte seinen Jüngerinnen und Jüngern die Kraft seines Geistes verheißen, die Kraft der Erneuerung und des Lebens. Diese Kraft ist uns nicht verfügbar. Sie gehört nicht zu unserer Natur und ist nicht immer schon in uns. Sie muss auf uns ausgegossen werden. Darauf kann man nur warten und darum kann man beten. Das tun die Jüngerinnen und Jünger Jesu in der Abgeschiedenheit des Obergemachs:
Diese [Jünger] alle verharrten einmütig im Gebet mit den Frauen und Maria, der Mutter Jesu, und mit seinen Brüdern.
(Apg 1,14)
Noch ist die Zeit der Veränderung nicht angebrochen. Noch müssen die Männer und Frauen "verharren im Gebet". Die Zeit des Gebets ist die Zeit zwischen Stillstand und Bewegung, zwischen Passivität und Aktivität. Sie treten noch nicht aktiv für die Erneuerung ein, aber sie beten schon aktiv um sie. Die Kraft, die Inspiration, die Kreativität des Geistes ist noch nicht über sie gekommen.
Dass diese Kraft über sie kommen wird, ist ihnen aber schon verheißen. Darum werden Vorbereitungen getroffen: Es soll ein neuer Apostel, ein Zeuge des auferstandenen Jesus, gewählt werden, der den Verräter Judas ersetzt. Die Zwölfzahl, Symbol der zwölf Stämme Israels, soll durch Auslosung wiederhergestellt werden. Dadurch wird deutlich, dass alle Stämme Israels das alles verändernde Heil erfahren sollen, nicht etwa nur eine fromme Gruppe in Israel. Das Los wird Gott anempfohlen und fällt auf Matthias. Er ist nun der zwölfte Jünger Jesu (Apg 1,21-26).
Die Zeuginnen und Zeugen sind vorbereitet, auch wenn ihnen noch die Kraft des Bezeugens fehlt.
Erst mit der Ausgießung des göttlichen Geistes beginnt das Neue, und es übertrifft alle Erwartungen. Nicht das geschieht, was die Jüngerinnen und Jünger sich vorgestellt hatten, sondern Überraschendes und gänzlich Unerwartetes:
Plötzlich entstand vom Himmel her ein Brausen, wie wenn ein gewaltiger Wind daherfährt, und erfüllte das ganze Haus, worin sie saßen. Und es erschienen ihnen Zungen, die sich zerteilten, wie von Feuer, und es setzte sich auf jeden von ihnen. Und sie wurden alle mit dem heiligen Geist erfüllt und fingen an, in fremden Sprachen zu reden, wie der Geist ihnen zu sprechen eingab. In Jerusalem aber wohnten Juden, gottesfürchtige Leute aus jedem Volk unter dem Himmel. Als aber dieses Getöse anhob, lief die Menge zusammen, und sie wurde verwirrt; denn jeder hörte sie in seiner eigenen Sprache reden. Es erstaunten aber alle, verwunderten sich [...]
(Apg 2,2-7)
Mit der Ausgießung des Geistes hat das Verharren im Obergemach ein Ende: Die Zeuginnen und Zeugen des von den Toten Auferstandenen wenden sich der Welt zu, die Verkündigung beginnt, für jedes Volk unter dem Himmel in seiner Sprache, zur Verwunderung der Hörenden. Die Sprachverwirrung und Entfremdung der Menschen unter dem gescheiterten Turmbau zu Babel hat ein Ende (1Mo/Gen 11,7-9). Das Evangelium "von den großen Taten Gottes" (Apg 2,11) führt zusammen, was zusammen gehört. Im Reich Gottes gibt es keine Entfremdung und Feindschaft mehr.
Die weltweite Kirche entsteht: keine machtvolle Institution, sondern das kleine Häufchen der Glaubenden und ihren Glauben Bezeugenden. Kirche ist dort, wo Gottes Geist sie schafft: wo das Feuer der Begeisterung brennt und der Sturm der Erneuerung weht, wo das Alte geläutert und das Überlebte hinweggefegt wird, wo mit Leidenschaft das Evangelium verkündigt und mit Mut ein neues Leben begonnen wird.
Das ist neu, unerwartet und verwirrend: Menschen beginnen zu reden, wie sie noch nie geredet haben. Sie sind erkennbar verändert, irritierend anders. Sie treten aus der Masse der Schweigenden heraus, schließen sich nicht länger der Mehrheit an, sondern bezeugen einen neuen Glauben aus innerster Überzeugung. Der Mund geht ihnen über von dem, wovon ihr Herz erfüllt ist (Lk 6,45b). Arbeiter und Handwerker werden zu talentierten Rednern und Ideengebern.
Mit dieser irritierenden und verwirrenden Verkündigung entsteht die Kirche und geht sie ihren Weg durch die Geschichte. Die lebendige Kirche irritiert, ihre Verkündigung erregt Anstoß und ruft zur Erneuerung aller verkehrten Lebensverhältnisse auf (Apg 2,37-41). Wo sie das nicht mehr tut, fehlt ihr der Pfingstgeist.
2. Die radikale Wende
Lasst euch retten aus diesem verkehrten Geschlecht!
(Apg 2,40)
Mit diesen Worten hat Petrus mitten in Jerusalem Aufsehen erregt und die Massen für sich eingenommen. Etwa dreitausend Menschen lassen sich noch am selben Tag taufen, berichtet die Apostelgeschichte (Apg 2,41).
Offenbar sind die Diagnose und Therapie des Apostels angekommen. Er hat die Gesellschaft seiner Zeit als ein "verkehrtes Geschlecht" beschrieben, als eine verirrte Generation, eine Gesellschaft, die sich auf Abwegen befindet. Es ist eine Gesellschaft des Todes, denn sie hat den Messias Jesus, der den Frieden des Reiches Gottes brachte, getötet. Deutlicher kann man nicht werden. Der ungebildete Fischer Petrus hat ungeheuren Mut bewiesen. Und gerade das hat gewirkt:
Als sie das hörten, ging ihnen ein Stich durchs Herz, und sie sagten zu Petrus und den übrigen Aposteln: "Was sollen wir tun, ihr Brüder?"
(Apg 2,37)
Die barsche Kritik erweckt nicht etwa Unmut und Widerstand, sondern wird überraschenderweise anerkannt. Daraus kann man schließen: Nicht die ängstliche Zurückhaltung führt weiter, sondern die mutige kritische Analyse. Die Angesprochenen fragen nach dem Heilmittel. Das Heilmittel ist die radikale Umkehr. Radikal ist die Umkehr, weil sie mit der Wurzel des Problems anhebt, nämlich mit dem Glauben an den Messias Jesus und der Taufe auf seinen Namen. In Glaube und Taufe erfahren Menschen die Gnade Gottes, die der verirrten Gesellschaft einen Neubeginn erlaubt. Mit Glaube und Taufe verbunden ist der Empfang des heiligen Geistes, der diese Gesellschaft heilen wird (Apg 2,38).
Eine solche Umkehr ist keine Kleinigkeit, sondern ein Schritt in ein anderes Leben. Wer einmal eine Wende in seinem Lebenslauf vorgenommen hat, weiß, was das bedeutet: Man lässt das Gewohnte und Sichere hinter sich und schlägt einen Weg ein, von dem man nicht weiß, ob er wirklich gelingen und wo er enden wird. So muss es den dreitausend gegangen sein, die sich taufen ließen: Sie müssen Abschied nehmen und nach vorne schauen.
Jesus hatte vor dem Zurückschauen gewarnt (Lk 9,62). Wer sein Leben und die Welt umpflügen will und dabei zurückschaut, kann ihm nicht nachfolgen und das Reich Gottes nicht bauen. Es geht nicht um einen harmonischen Ausgleich mit dem bisherigen Leben, sondern um eine radikale Lebenswende. Mag sein, dass sie sich erst nach und nach einstellt. Der heilige Geist hat Zeit. Doch auf Dauer kann es nicht so weitergehen wie bisher. Ein paar kosmetische Korrekturen reichen nicht aus.
Es geht ja um nicht weniger als eine neue Wirklichkeit. Die stellt sich erst ein, wenn auch das Fühlen, Denken und Handeln neu geworden sind. Das neue Bewusstsein verträgt sich nicht mit einem Hängenbleiben am Vergangenen – weder an liebgewonnenen Traditionen noch an alten Ideen und Glaubenshaltungen oder am gewohnten Lebenswandel. Der Apostel Paulus hat es so ausgedrückt: Das Alte muss sterben, damit Neues wachsen kann (Röm 6,4-11).
Um gleich jedem Leistungsdenken vorzubeugen: Ich weiß, wie schwer uns das Abschiednehmen fällt. Und es wird immer wieder vorkommen, dass wir in unser "altes Leben" zurückfallen. Perfektion ist ein schöner Gedanke; sie ist uns aber in dieser Welt leider nicht gegeben. Oder anders betont: Uns ist die Perfektion nicht gegeben. Wenn in dieser Welt irgendetwas mit uns geschieht, was an Perfektion erinnert, dann ist das das Werk des heiligen Geistes in uns. Wir können auf dieses Werk nur hoffen, darum beten und dafür bereit sein. Wenn wir uns so für den Geist öffnen, wird er das Übrige tun – nicht dann, wenn wir es uns wünschen, sondern zu seiner Zeit. Gott gibt uns diese Zeit.
Gott gibt auch unserer Gesellschaft mit ihren Verirrungen Zeit. Diese Zeit kann genutzt werden, nach dem heiligen Geist in der Gesellschaft zu fragen: Wird in ihr dem christlichen Geist, dem Geist Gottes, Raum gegeben?
a) Der Geist der Wahrheit
Gottes Geist ist der Geist der Wahrheit (Joh 15,26). Die Lüge hat bei ihm keinen Raum. Fake News, Halbwahrheiten, das Dehnen der Wahrheit bis zum Zerreißen um der eigenen Interessen willen sowie einseitige und manipulative Darstellungen widersprechen dem Wirken des Geistes Gottes. Wer sich daran beteiligt, dient nicht dem Land, sondern sich selbst. Wer die Wahrheit nicht mehr ernst nimmt, spaltet die Gesellschaft und untergräbt die Demokratie. Wer hingegen den Geist der Wahrheit wirken lässt, fördert das Leben in demokratischer Freiheit und Selbstbestimmung (2Kor 3,17).
Die Wahrheit gibt es nur im gegenseitigen Austausch, im echten Hören aufeinander jenseits von Parteipolitik und Interessenvertretung. Das gehörlose Aufeinander-Einreden und das Heischen nach emotional aufgeputschter Aufmerksamkeit bringen undefinierbares Getöse hervor, eine Sprachverwirrung, die nicht zusammenführt, sondern einander entfremdet und sich dem chaotischen Tohuwabohu annähert – dem Zustand vor dem ordnenden Schöpfungshandeln Gottes (1Mo/Gen 1,2). Doch inspirierende Wahrheit kommt so nicht zutage. Wer die Wahrheit will, muss zuhören, sich korrigieren, sich bereichern lassen durch sein Gegenüber. Der Geist, der uns von Machtgehabe und Erfolgssucht befreit, öffnet uns die Tür zum wahrhaftigen Dialog.
b) Der Geist des Lebens
Gottes Geist ist der Geist des Lebens (Joh 6,63; 2Kor 3,6). Er schafft Gedanken und Worte, Pläne und Programme, die das Leben fördern. Gemeint ist das Leben aller Kreaturen auf Erden, der menschlichen und nichtmenschlichen, der gegenwärtigen und zukünftigen, der nahen und fernen.
Der Geist sorgt deshalb für einen gerechten Ausgleich der vorhandenen Güter, so wie es in der Urgemeinde der Fall war (Apg 2,45) und auch später gehalten wurde (2Kor 8,13f). Niemand muss Not leiden in dieser Welt, wenn die Güter gerecht verteilt werden. Wenn es uns damit ernst ist, wenn wir es wirklich wollen, ist niemand gezwungen, sich seinen Lebensunterhalt durch das Wühlen in unseren Wohlstands-Mülleimern zu sichern und so seine Würde zu verlieren. Wenn die materiell reichen Länder sich wirklich der Humanität verschrieben haben, dann werden sie verhindern, dass zwei Drittel der Menschheit in Armut leben. Sie werden auch Wege finden, Tausende, die an den Gütern der Erde Anteil haben wollen und deshalb aus Verzweiflung den Weg zu uns suchen, vor dem Ertrinken im Mittelmeer zu retten. Der Geist des Lebens geleitet auf kreative Wege, das Leben und die Würde aller zu bewahren.
Dabei geht es auch um die Lebensmöglichkeiten der zukünftigen Generationen. Der Geist des Lebens meint es ernst damit, die Kosten des Wohlstands einer Generation nicht auf die zukünftigen Generationen abzuwälzen. Das könnte nur eine verirrte Generation, ein "verkehrtes Geschlecht", tun, das sich beständig um sich selber dreht. Eine vom heiligen Geist getriebene Generation hingegen hat Verständnis für diejenigen, die sich um ihre Zukunft sorgen. Sie erkennt es an, wenn das höchste deutsche Gericht feststellt, dass die Gesetzgebung des Staates die schädlichen Emissionen unumkehrbar auf Zeiträume nach 2030 verschiebt und dadurch die jüngere Generation belastet. Ein Staat, der das anerkennt, erkennt seine Versäumnisse und ändert seine Gesetzgebung entsprechend. Er wird andererseits zurückhaltend damit sein, Angehörige der jüngeren Generation als "kriminelle Vereinigung" zu verfolgen – Menschen die, wenn auch mit fragwürdigen Mitteln, für ihre Zukunft protestieren.
c) Der Geist des Friedens, der Sanftmut und der Güte
Gottes Geist ist der Geist des Friedens, der Sanftmut und der Güte (Gal 5,22f). Dieser Geist motiviert dazu, Frieden zwischen den Völkern zu stiften, Konflikte zu entschärfen sowie dem Gegenüber Gutes zu tun und ihm Gutes zuzutrauen. Für Europa hätte das zum Beispiel bedeutet, zwischen Ost und West eine europäische Friedensordnung zu entwickeln, die den Interessen beider Seiten gerecht wird. Und es würde bedeuten, nicht vorrangig um geopolitische Einflussbereiche zu kämpfen und alle Aktivitäten der anderen Seite misstrauisch zu beäugen.
Der Geist des Friedens, der Sanftmut und der Güte schafft ein neues Bewusstsein, das sich in einem veränderten Handeln zeigt. Dieser Geist findet sich nicht damit ab, dass Krieg herrscht, sondern er sucht kreativ und wohlwollend nach Wegen zum Frieden. Dieser Geist kann sich auch nicht damit zufriedengeben, Waffen zur Massenvernichtung bereit zu halten und sogar mit ihrem Einsatz zu drohen. Denn wer sich von diesem Geist bestimmen lässt, gibt sich nicht der Macht des Todes hin, sondern der Macht des Lebens.
Sich von der Macht des Lebens bestimmen zu lassen, heißt auch, um des Lebens des Nächsten willen mutig Risiken einzugehen bis hin zum Riskieren des eigenen Lebens. Der Geist des Friedens, der Sanftmut und der Güte kann die Kraft geben, das eigene Leben hinzugeben, um das Leben des Nächsten zu erhalten und die Gewalt nicht maßlos werden zu lassen. Durch die Jahrhunderte hindurch haben Christinnen und Christen Gewaltanwendung bewusst abgelehnt und sind zu Märtyrern um ihres Glaubens willen geworden. Mit einem Lobgesang auf den Lippen sind sie, wie auch Jüdinnen und Juden in Auschwitz, in den Tod gegangen. Sie konnten das, weil sie im Geist Gottes ihren Henkern voraus waren: Sie blickten schon in eine Zukunft voraus, die ihren Henkern verschlossen war. In dieser Kraft hat ein orthodoxer Priester vor seiner Hinrichtung dem Exekutionskommando zugerufen:
Seid mir gegrüßt, ihr Toten; ich gehe zu den Lebendigen. *
3. Das Wunder der Kirche
Die Kirche ist schwach, so wie wir alle es sind. Darum gibt der Geist auch der Kirche Zeit.
Die Kirche ist aufgerufen, mutig wie Petrus nach der Geistausgießung der Gesellschaft den Spiegel vorzuhalten. Nicht Anpassung an den Zeitgeist, sondern mutige Bezeugung dessen, was der Gottesgeist ihr zu erkennen gibt, ist Aufgabe der Kirche. Der vom Gottesgeist erfüllte Mensch aber fühlt, denkt und handelt anders, als der Zeitgeist es ihm einflößt.
Die Kirche weiß das – und sie sollte deshalb der Stachel im Fleisch der Gesellschaft sein, niemals aber dem "verkehrten Geschlecht" Honig um den Mund streichen. Die Verlockung, sich an den Zeitgeist anzupassen, ist immer groß. Auch die Kirche erliegt ihr immer wieder.
Vielleicht muss das gegenwärtige Christentum durch das pfingstliche Feuer der Läuterung hindurch. Vielleicht muss die Kirche noch kleiner werden, damit der "heilige Rest" (z.B. Jes 10,21) zur überzeugenden Größe wird. Wenn dann die Institution Kirche eine Randerscheinung ist, hat sie es nicht mehr nötig, dem Zeitgeist hinterherzulaufen und sich der Mehrheit anbiedern. Sie kann dann den Menschen frei gegenübertreten mit ihrer irritierenden, Anstoß erweckenden und aus den schlechten gesellschaftlichen Verstrickungen herausrufenden Botschaft. Dann vertraut die Kirche nicht mehr auf ihre angeblich harmonische Nähe zu den Menschen, sondern auf das treu und leidenschaftlich ausgerichtete Wort ihres Herrn. Und sie findet ihre existenzielle Sicherheit nicht mehr in ihren Kirchensteuereinnahmen, sondern in der Fürsorge ihres Herrn.
Wegen dieser Fürsorge wird die Kirche in all ihrer Schwachheit und Unvollkommenheit nicht untergehen. Das ist das Wunder der Kirche, dass sie aus allen von ihr selbst geschaufelten oder ihr von anderen bereiteten Gräbern auferweckt wird zu neuem Leben. Um die Kirche müssen wir deshalb keine Angst haben. Um die Kirche sollen wir aber ringen, damit sie wirklich Kirche sei und nicht ein Verein unter vielen anderen, dem es um Geld und hohe Mitgliederzahlen geht. Kirche ist nichts, was wir schaffen, sondern was der Geist schafft, den wir nur wirken lassen müssen, ohne ihn an seinem Werk zu hindern.
Weil die Kirche aus allen Gräbern auferweckt wird, gehört der Glaube an sie in den dritten Glaubensartikel, der auch von der Auferstehung der Toten handelt. Wer auferweckt ist, blickt nicht zurück auf die Zeit des Todes. So blickt auch die Kirche voraus auf den gekommenen und wiederkommenden Herrn, der das Reich Gottes bringt, das schon jetzt angebrochen ist und dessen Vollendung bevorsteht. Die Kirche ist kein Denkmal, vor dem wir ehrfürchtig stehen bleiben. Sie ist auch nicht der Himmel, in dem wir mit starrem Blick das Vollkommene suchen. Die Kirche ist, wenn Gottes Geist in ihr wirkt, eher ein Zugwagen, der uns mitreißt, mit dessen Hilfe wir uns also in Bewegung setzen und der, weil er von Jesus Christus herkommt, auf dessen Zukunft ausgerichtet ist. Die Kirche sieht dem entgegen, der da war, der da ist und der da kommt und das Reich mit sich bringt (Offb 1,4).
Der Weg zum vollendeten Reich Gottes kann aber nicht über Leichen führen. Er ist deshalb nicht gepflastert mit Massenvernichtungswaffen, Kriegsopfern, Verhungernden und an der Zukunft Verzweifelnden. Der Weg zum vollendeten Reich Gottes lässt vielmehr Leben sprießen. Er führt nicht über Reichtum und Macht, sondern über liebevolle Hingabe. Im extremen Ernstfall kann er auch über die Hingabe des eigenen Lebens führen. Denn das ist der Weg, den der Herr der Kirche vorangegangen ist.
Die Herrlichkeit der Kirche ist nicht ihr herrliches Dasein, ihr Reichtum, ihr Glanz, ihre Macht oder irgendein Triumphgebaren. Sondern die Kirche ist reich in ihrer Armut, sie glänzt in ihrer Erd- und Lebensverbundenheit, sie siegt über das Böse im Leiden und ist mächtig in ihrer leidenschaftlichen Erneuerung und Veränderung aller lebensfeindlichen Verhältnisse. In der Kraft des Geistes Gottes wird die Kirche permanent erneuert, und in der Kraft desselben Geistes setzt sie sich ein für die Erneuerung aller ungerechten und zerstörerischen Lebensverhältnisse.
Darum dürfen wir die Kirche lieben, obwohl sie, wie wir alle, nur ein "irdenes Gefäß" ist, wie der Apostel Paulus sagt. Dieses "irdene Gefäß" aber birgt in sich den Schatz des Evangeliums (2Kor 4,7). Es hat Gott gefallen, seine Kraft in dieses kümmerliche Gefäß zu legen. Es gefällt ihm, aus dem Unscheinbaren und Unvollkommenen sein Reich zu bauen. Darum müssen wir der Kirche nicht enttäuscht den Rücken kehren oder von einer Gemeinde in die andere wandern. Die vollkommene Gemeinde werden wir nicht finden. In der unvollkommenen aber sind wir gerufen, am Reich Gottes mitzuarbeiten. Wir tun das, indem wir auf Gottes Kraft vertrauen, die aus dem Unvollkommenen und Toten heraus immer wieder überraschend und unerwartet ein lebenswertes Leben für alle schafft.
Wenn die Christenheit Gottes Geist wirken lässt, dann ist sie auf dem rechten Weg. Dann übt sie keine ängstliche Zurückhaltung, sondern bringt mutig ihre Kritik an allen lebensfeindlichen Verhältnissen hervor. Sie ergeht sich nicht in Harmonie mit der Gesellschaft, sondern ruft zu radikaler Umkehr auf, wo es nötig ist. Hoffnungsvoll wirbt sie für eine Erneuerung des Fühlens, Denkens und Handelns – ein neues Bewusstsein, das dem kommenden Reich Gottes entspricht.
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* Helmut Thielicke: Ich glaube. Das Bekenntnis der Christen. Quell-Verlag, Stuttgart 1965. S. 304. Der ganze Artikel wurde angeregt durch die Seiten 302-305. Einige Motive aus diesen Seiten sind aufgenommen.
Foto: Klaus Straßburg.