Eine Welt, in der Recht und Freiheit herrscht
Klaus Straßburg | 31/12/2021
Jahre der russischen Kriegsgefangenschaft, das bedeutete: Unterdrückung, Willkür und Lügen, Unrecht und Hunger, manches Mal den Tod vor Augen. Dann aber waren die Männer in den Güterwaggon eines Zuges verfrachtet worden mit dem angeblichen Ziel der Freiheit in der deutschen Heimat. Die Fahrt ging tatsächlich Richtung Westen. Aber die Stimmung war gedämpft; denn zu oft schon hatte man ihnen Hoffnung gemacht, die nicht erfüllt worden war. Und auch jetzt kam es vor, dass immer dann, wenn der Zug längere Zeit hielt, die eiserne Tür von außen aufgeschoben wurde und einige der Männer herausbeordert wurden. Für sie war die Fahrt in die Freiheit beendet.
So berichtet es der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer von seiner Rückkehr aus russischer Gefangenschaft. Die Männer hofften, Weihnachten zu Hause bei ihren Lieben verbringen zu können. Doch die Fahrt ging nur schleppend voran, und am Weihnachtsfest waren sie noch immer im sowjetischen Einflussbereich. Bis zuletzt herrschte die Angst, doch noch aus dem Zug aussteigen zu müssen. Endlich standen sie vor dem Tor eines amerikanischen Entlassungslagers in Bayern.
Der deutsche Lagerleiter begrüßte uns und gab die ersten Anweisungen: wir sollten nun im Lagerbüro unsere Personalien angeben, wohlgemerkt die echten, d.h. wer bis jetzt unter falscher Flagge gefahren sei, habe das nun nicht mehr nötig; „denn ihr seid jetzt in einer Welt, in der Recht und Freiheit herrscht!" Auf diesen Satz hin erhob sich unter den Hunderten mit einem Schlag ein Jubelsturm; obwohl jene Ermahnung die wenigsten von uns betraf (einer meiner alten Brigadiere, ein gut bewährter Kamerad von der SS, der neben mir stand, nannte mir allerdings jetzt seinen echten Namen, den er jahrelang verschwiegen hatte), war sie allen das Zeichen des verschwundenen Stacheldrahtes, die lange unterdrückte Freude brach durch, wir lagen uns in den Armen und zogen zum ersten Male lachend in ein Lager ein. Es war die Nacht zum Sylvestertag 1949.
(Helmut Gollwitzer: „...und führen, wohin du nicht willst". Bericht einer Gefangenschaft. Chr. Kaiser Verlag München, 7. Aufl. 1953. S. 338)
Der Jahreswechsel brachte für diese Männer eine fast nicht mehr für möglich gehaltene Erfahrung: eine Welt, in der Recht und Freiheit herrscht. Alle Zweifel waren beseitigt, alle Angst fiel von ihnen ab. Für die, die sich im Hitlerregime schuldig gemacht hatten, fiel auch die Angst vor dem Recht ab. Sie mussten nun nicht mehr unter falscher Flagge fahren, mussten nichts mehr verheimlichen, sich nicht mehr unter einer falschen Identität verbergen – sie konnten sie selbst sein und ehrlich zu ihrer Schuld stehen.
Eine Welt, in der Recht und Freiheit herrscht – das ist auch die Welt, die Gott uns verheißen hat. Freilich geht es dabei um vollkommene Freiheit und göttliches Recht. Die vollkommene Freiheit ist keine mehr, die durch anderes Geschaffenes eingeschränkt ist. Sondern es ist eine Freiheit, die gelebt wird im freien Für- und Miteinander mit allen anderen Geschöpfen.
Und das göttliche Recht ist kein menschliches Anrecht. Es ist vielmehr das Versprechen Gottes, niemals mehr Willkür und Unrecht ausgeliefert zu sein, sondern zu dem einen Gerechten zu gehören, nicht verloren, sondern von dem Menschensucher schlechthin gefunden und wahrgenommen zu werden – wahrgenommen als diejenigen, die wir sind: schuldige, aber von Gott anerkannte, gern gesehene, niemals auf ihre dunklen Seiten festgelegte Menschen.
Die vollkommene Freiheit ist Freiheit für alle, die sich freisprechen lassen wollen. Und das göttliche Recht ist Recht für alle, die sich der Wahrheit über sich selbst stellen: die nicht mehr unter falscher Flagge leben, nichts mehr verheimlichen wollen. Es ist Recht für alle, die ehrlich werden und die Wahrheit über sich selbst gelten lassen: die dunkle und gerade durch das Urteil Gottes dennoch leuchtende Wahrheit.
In dieser Freiheit und unter diesem Recht können alle Zweifel von uns abfallen, dass wir doch noch aus dem Zug in die Freiheit aussteigen müssen. Und ebenso kann alle Angst vor Unrecht und Willkür abfallen. Auch die Angst vor dem Recht, vor dem, was wir verdient haben, muss uns nicht mehr belasten. Denn Gott urteilt nicht nach dem, was wir verdient haben, sondern nach dem, was wir in seinen Augen sind.
Recht und Freiheit sind bei Gott nicht den Stärkeren und Besseren vorbehalten. Gott gewährt vielmehr Recht den Schwachen und Freiheit denen, die in Bosheit und Gottlosigkeit gefangen sind.
Aber woher können wir wissen, dass es sich wirklich so verhält?
Wir haben nur das Wort Gottes. Sein Versprechen. So wie die Kriegsgefangenen nur das Wort des Lagerleiters hatten. „Ihr seid jetzt in einer Welt, in der Recht und Freiheit herrscht!" hatte er ihnen zugerufen. Daraufhin setzte ein Jubelsturm unter den Gefangenen ein, die lange unterdrückte Freude brach durch. Die Zusage des Lagerleiters war ihnen ein Zeichen des verschwundenen Stacheldrahtes, obgleich sie noch in einem Lager waren und noch nicht zu Hause angekommen.
Auch Gottes Versprechen erreicht uns durch menschliche Worte. Doch wiegt es schwerer als jedes denkbare menschliche Versprechen.
Und noch eine direkte Folge hatte das Wort des Lagerleiters: Wir lagen uns in den Armen, schreibt Gollwitzer. Die Freiheit befreit zum Miteinander. Die Freude wird geteilt. Befreit von Angst und Sorge um uns selbst können wir uns in die Arme des Anderen begeben. So erleben wir schon jetzt, was Recht und Freiheit bedeuten.
Die Freude ist umso größer, je größer der Kontrast zur vorher erlebten Freudlosigkeit ist. Schon eine kleine Freude wird zu etwas Großem, wenn zuvor tiefe Traurigkeit herrschte. Eine große Freude aber ist kaum etwas wert, wenn Sattheit das Leben bestimmt. So haben wohl nicht wenige Menschen heute den Wert von Recht und Freiheit zu schätzen verlernt.
Lachend zogen die Befreiten in das neue Lager ein. Es war wie ein neues Leben für sie. Lachend und voller Jubel werden die Weinenden und Traurigen die Wende ihres Lebens erfahren (Ps 126).
Wir leben zwar noch nicht in der Welt, in der Recht und Freiheit herrscht. Noch herrschen Unrecht und Willkür, und wir sind in vieler Hinsicht in Ketten gelegt. Aber das verheißungsvolle Wort ist schon da. Und je mehr wir unsere Zweifel ablegen und uns diesem Wort ausliefern, desto mehr wird es zum Zeichen des verschwundenen Stacheldrahtes für uns werden.
Wir werden auch im neuen Jahr noch schmerzhaft Unrecht und Gefangenschaft erfahren – gefangen in Verhältnissen, in Gefühlen, in unserem Körper. Aber auch das kann uns zum Guten gereichen (Röm 8,28). Denn nur diejenigen wissen Recht und Freiheit zu schätzen, die zuvor unter Unrecht und Gefangenschaft gelitten haben.
So führt uns das Leid auch im neuen Jahr dem Heiligen entgegen, der allen, die sich befreien lassen, die Lebenswende hoch und heilig versprochen hat.
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da Gottes Gedanken und Realitäten alles menschlich Erfassbare unendlich übersteigt, ist vielleicht auch Bescheidenheit mit Gott ratsam, da seine Pläne und Vorsätze einfach nur genial sind für eine wohlgefällige und dauerhafte Freiheit (besonders im Rückblick!). Nicht selten scheitern viele Christen an der zweiten Versuchung durch den Versucher und versuchen damit Gott durch eine unangebrachte und egozentrische Erwartungshaltung.
Man sollte und darf Gott auch gerne Gott sein lassen.
Mit allen übermächtigen Zwischenstationen auf dem Weg des Lebens;
bei allem Leid und aller Freude die einen begleiten.
Die Schulung und Herausforderung in dieser Welt kann und
wird uns auf die neue Welt und Realität vorbereiten und tauglich machen.
Alles Gute ...
vielen Dank für deine Ergänzung. Es gibt wohl zwei Arten von Versuchungen: zu viel oder zu wenig von Gott erwarten. Gewiss werden uns in unserem irdischen Leben nicht alle Wünsche und Hoffnungen erfüllt. Diese Erfahrung muss wohl jeder Mensch machen. Manche verzweifeln an Gott, weil sie ihn als Erfüllungsgehilfen der eigenen Erwartungen an das Leben missverstehen.
Andererseits besteht die Gefahr, Gottes Verheißungen nur auf das Jenseits zu beziehen und für das irdische Leben gar nichts von ihm zu erwarten. Das widerspricht aber seiner Gegenwart in unserer Welt und seiner Verheißung, in seiner Schöpfung und in der Geschichte Gutes zu bewirken.
Zwischen Verheißungen, Erfüllungen, Nichterfüllungen und endgültiger Erfüllung, wenn er einen neuen Himmel und eine neue Erde schafft, müssen wir unseren Weg finden. Das heißt konkret: mit Enttäuschungen leben und dennoch niemals die Hoffnung verlieren. Oder mit deinen Worten: Gott Gott sein lassen, dennoch ihm unser Leid klagen und um Hilfe bitten und wiederum ihn Gott sein lassen und seinen Willen akzeptieren.
Viel Segen im neuen Jahr
Klaus
diesen reichlichen Segen wünsch ich auch dir von ganzem Herzen!
über diese Formulierung bin ich auch gestolpert. Vielleicht hat er ja seinen Irrtum eingesehen und sich in der Gefangenschaft als geläutert erwiesen - das hätte man aber trotzdem anders ausdrücken können.
danke für den erneuten Hinweis auf Gollwitzer und dieses Buch. Ich habe es mir jetzt mal antiquarisch bestellt.
@ Hans-Jürgen und Klaus wegen der Formulierung mit SS
Aufgefallen war mir das auch. Wir sind wohl alle Spätgeborene, denen es leichter fällt, hier ein Schwarz-Weiß-Muster drüberzulegen. Grundsätzlich waren bei der SS nur Freiwillige, zum Teil aber wohl auch "auf Befehl Freiwillige" aus gekaperten Wehrmachtseinheiten.
Viele Grüße
Thomas
danke für den treffenden Hinweis mit dem Schwarz-Weiß-Muster und viel Spaß beim Lesen des Gollwitzer-Buches. Ich fand es beeindruckend.
Viele Grüße
Klaus
so richtig "spaßig" ist das Buch nicht. Große Verbreitung erfuhr es seinerzeit wegen seiner kritischen Einstellung zum Marxismus auch durch das ehemalige Bundesministerium für gesamtdeutsche Fragen.
Später wandte sich der Autor der "revolutionären", hauptsächlich aus (ehemaligen) Studenten bestehenden, so genannten 68er-Bewegung zu, die nicht vor Brandstiftungen, Banküberfällen, Entführungen und Morden zurückschreckte. Die "Arbeiterklasse", um die es den intellektuellen Verführern angeblich ging, folgte ihnen nicht.
Hoffentlich gilt das Vorstehende nicht auch als "Schwarz-Weiß-Malerei".
Viele Grüße
Hans-Jürgen
danke für deine Stellungnahme. Ich habe die politisch relevanten Passagen des Buches, die nur einen geringen Teil der Lektüre ausmachen, als kritische Deutung des damals "real herrschenden Sozialismus" gelesen, was aber auf der anderen Seite nicht als Befürwortung des "real herrschenden Kapitalismus" zu verstehen war. Gollwitzer zeigte schon damals eine (eben kritische) Nähe zum Sozialismus und wurde deshalb auch vor seiner Entlassung aus der Gefangenschaft von den sowjetischen Kräften umworben, um den Aufbau in der DDR zu unterstützen, was er aber (trotz des Drucks einer möglichen Verlängerung seiner Gefangenschaft!) ablehnte. Er beschreibt das sehr genau.
Die 68er-Bewegung sehe ich nicht so negativ wie du. Es mischen sich m.E. Positives und Negatives. Ich würde aber die Bewegung als Ganze auf keinen Fall mit Brandstiftungen, Banküberfällen, Entführungen und Morden identifizieren. Die RAF war nicht "die Bewegung".
In Gollwitzers Buch interessierten mich vor allem die aus seinem Glauben heraus geschriebenen Passagen, die ich sehr beeindruckend fand.
Viele Grüße
Klaus
Sehr interessant ist in diesem Zusammenhang das Buch von Stefan Aust "Der Baader-Meinhof-Komplex". Mein Fazit nach dem Lesen dieses Buches war: Es handelt von der Dummheit intelligenter Menschen (die RAF) und vom Unrecht in einem Rechtsstaat (die staatlichen Institutionen). Aber das gibt nur meine persönliche Leseerfahrung wieder.