Eine Kausalität höherer Art
Klaus Straßburg | 05/07/2020
Das Evangelium (wörtlich Die frohe Botschaft) ist keine abstrakte Theorie, die sich jemand am Schreibtisch ausgedacht hat. Es beruht vielmehr darauf, dass Menschen etwas erlebt, gefühlt und bezeugt haben, was sie froh und dankbar machte. Es ist eine aus tiefem Erleben entspringende, froh machende Botschaft an die Welt.
Es gibt unzählige Zeugen dieses Evangeliums. Der Hebräerbrief spricht von einer „großen Wolke von Zeugen, die uns umgibt" (Hebr 12,1). Jeder glaubende Mensch hat wohl solch eine ganz persönliche Wolke von Zeugen um sich – manchmal, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Wie viele Menschen haben dir in deinem Leben bis heute die frohe, froh machende Botschaft bezeugt?
Für mich ist einer dieser Zeugen der evangelische Theologe Helmut Gollwitzer (1908-1993). Er war Mitglied der Bekennenden Kirche, die sich der Gleichschaltung durch die Nationalsozialisten widersetzte. Im Zweiten Weltkrieg war er als Sanitäter an der Ostfront eingesetzt. Von 1945 bis Ende 1949 lebte er in russischer Kriegsgefangenschaft. Nach seiner Rückkehr war er Theologieprofessor in Bonn und Berlin.
Ich habe schon recht früh in Schriften Helmut Gollwitzers gelesen. Sie haben mich sicher in meinem Glauben beeinflusst und gestärkt. Bewusst geworden ist mir das erst viel später. Und erst jetzt habe ich seine schon 1951 erschienenen Aufzeichnungen und Erinnerungen aus seiner Kriegsgefangenschaft gelesen. Dieser „Bericht einer Gefangenschaft" (so der Untertitel) spielt in seinem Titel auf Jesu Wort an Petrus nach Joh 21,18 an: „... und führen, wohin du nicht willst". Auch Wege, die wir nicht gehen wollen, können Gottes Führungen sein.
Das Buch schildert über weite Strecken Gollwitzers Auseinandersetzung mit dem sowjetischen Kommunismus. Es beschreibt aber auch seine geistlichen Erfahrungen als Christ in der Kriegsgefangenschaft eines atheistisch verfassten Staates.
Im russischen Arbeitslager mussten die Gefangenen täglich kräftezehrende Arbeiten verrichten, ohne ausreichend Nahrung zu erhalten. Die Körper wurden ausgemergelt, manche brachen zusammen. Hoffnungen auf baldige Entlassung und Rückkehr in die Heimat wurden immer wieder enttäuscht. Etliche verzweifelten. Jahr um Jahr verging, oft den Schwächetod vor Augen.
Doch Gollwitzer machte auch Erfahrungen, die er wie folgt beschrieb (zitiert aus dem genannten Buch, erschienen im Christian Kaiser Verlag München, 7. Auflage 1953, Seite 315f):
Die Gefangenschaft war dem, der sehen konnte oder der dort zu sehen lernte, nicht eine Zeit der Verlassenheit, sondern der greifbaren Führungen, eines sichtbaren Betreutseins bis in kleinste Kleinigkeiten hinein, die dem Gefangenen doch keine Kleinigkeit sind. Davon läßt sich kaum etwas erzählen; denn wie die äußeren Ereignisse mit unserem inneren Zustand zusammentreffen, wie die kleine Hilfe, die mich eben gerade über eine dunkle Stunde hinwegbringt, eine Gebetserhörung war und wie die ungünstige Versetzung zu einer schlechteren [Arbeits-]Brigade genau das war, was ich in einer Bedrohung meines inneren Lebens gerade brauchte, wie hier eine Kausalität höherer Art wirksam wurde, das ist nach außen meist nicht sichtbar zu machen, sondern ist nur dem erkennbar, der davon betroffen ist. Und ebenso ist es mit dem Zusammenhang, der zwischen den kleinen und großen Errettungen dort in Rußland, dem oft erlebten plötzlichen Übergang von tiefer Depression zu fröhlicher Unbekümmertheit im unvermuteten Denken an einen Gesangbuchvers oder ein Bibelwort, und den Gebeten bestand, die zuhause für uns vor Gott gebracht wurden. Als einer von uns nach bangen Wochen wieder aus dem Vernehmungsbunker [...] entlassen wurde, sagte er zu uns: „Es muß jetzt zu Hause kräftig für mich gebetet worden sein." „Weil du jetzt wieder freigekommen bist?" „Nein, aber weil ich drinnen so ohne alle Angst war." Weil nicht blinde Zufälle und nicht das blinde Gesetz von Ursache und Wirkung unser Leben bestimmt, weil es persönlich geführt und betreut ist von dem ewigen Herrn, der sich um uns kümmert und um uns Kummer macht, darum ist einer da, an den wir unseren Dank richten können.
Helmut Gollwitzer bezeugt Gottes Wirken in den dunklen, verzweifelten Stunden der Gefangenschaft.
Manchmal ist es nur etwas Unscheinbares, das weiterhilft. Es ist nichts Gewaltiges, Spektakuläres. Nichts, was für die anderen sichtbar wäre. Und doch ist es genau das, was der Verzweifelte gerade braucht. Es spielt sich in der Gefühlswelt des Menschen ab: ein Trost, ein unerwarteter Stimmungsumschwung, verursacht durch einen spontanen Gedanken an ein Bibelwort oder einen Gesangbuchvers.
Man kann es nicht als Führung Gottes ausweisen. Es gibt keinen handfesten Beleg dafür, dass Gott am Werke ist. Es ist ja nur ein Gefühl. Gefühle kommen und gehen. Schon bald kann wieder die Verzweiflung Oberhand gewinnen.
Und doch ist es dem, der es erlebt, und „der sehen konnte oder der dort zu sehen lernte" (dort, in der Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit), eine „greifbare Führung", ein „sichtbares Betreutsein". Und das nicht nur einmalig, sondern die ganze schwere Zeit der Gefangenschaft mit ihren Ängsten, Enttäuschungen und Verzweiflungen war dem Sehenden „nicht eine Zeit der Verlassenheit", sondern der helfenden Gegenwart des Gottes, „der sich um uns kümmert und um uns Kummer macht". Unser Kummer ist auch Gottes Kummer.
Wenn es auch nur flüchtige Erlebnisse und Gefühle sind, so sind sie dem, der sie erlebt, doch nicht nur „blinde Zufälle". Nicht „das blinde Gesetz von Ursache und Wirkung" bestimmt hier das Leben. Es geht vielmehr um „eine Kausalität höherer Art", um einen Zusammenhang von Ursache und Wirkung, der von uns nicht zu ergründen ist; der, wenn man ihn weltlich betrachtet, nur Weltliches zutage bringt. Geistliche Dinge aber „müssen geistlich beurteilt werden" (1Kor 2,14).
Darum sind solche Erlebnisse und Gebetserhörungen „meist nicht sichtbar zu machen". Für den anderen kann es ein bloßer Zufall oder Glücksfall sein. Er hat es nicht empfunden, wie die Stimmung sich plötzlich aufhellte. Er hat die Kraft nicht erfahren, die scheinbar grundlos im Menschen aufstieg. Er hat das Positive nicht erlebt, das sich gerade aus einer unangenehmen und Angst machenden Erfahrung ergab.
Anders für den Betroffenen selbst: Was Helmut Gollwitzer erlebte, war Befreiung in der Gefangenschaft, Gottes Gegenwart in der Verlassenheit, Geborgenheit in der Heimatlosigkeit, liebevolles Geführtsein in der totalen Fremdbestimmung. Kein Sehen Gottes von Angesicht zu Angesicht, sondern ein Spüren des unsichtbaren Gottes.
Wenn wir doch auch solche Augen hätten, zu sehen ...
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danke für diesen Beitrag. Den Titel kenne ich seit Langem und hatte das Buch immer schon einmal lesen wollen. Dein Beitrag und der kleine Auszug haben mich daran erinnert und darin bestärkt.
Solche 'höheren' Kausalitäten sehe ich schon lange als Möglichkeit an, aber es ist ein großer Unterschied, das als Angehöriger einer Generation, die in Frieden und Wohlstand leben durfte, abstrakt so zu sehen, oder es unter viel härteren Bedingungen fast körperlich zu erfahren. Ich denke auch an meinen Großvater und einen Onkel, die im Krieg im Osten beide mehrmals nach schweren Verwundungen mit knapper Not dem Tod entgangen sind, und beide auch das Gebet als Kraftquelle empfunden und genutzt haben.
Vielleicht entfaltet der christliche Glaube seine Qualitäten gerade unter Druck. Und vielleicht ist das auch ein Grund, warum er heute nicht so zur Geltung kommt und die Leute leise, aber kontinuierlich und in großer Zahl aus den Kirchen austreten.
Viele Grüße
Thomas
danke für deinen Kommentar. Ich denke auch, dass es ein großer Unterschied ist, bei relativem Wohlbefinden an Gottes Geleit zu glauben oder in einer Zeit der Angst und Hoffnungslosigkeit. Es hat mich an mehreren Stellen des Buches stark beeindruckt, wie offen und bekennend damals ein Intellektueller über Gott und seinen Glauben sprechen konnte, ohne dabei frömmelnd zu sein (ich möchte auch noch öfter Zitate aus dem Buch kommentieren). Das finde ich heute nicht mehr so, aber bei vielen damaligen Autoren. Die tiefe Erfahrung des Krieges und seiner Not haben wohl dazu beigetragen, dass das Bekenntnis zu Gott offen und ohne Rücksichtnahme auf irgendwelche möglichen intellektuellen Einsprüche zur Sprache gebracht wurde. Das ist heute wohl leider nicht mehr der Fall. Ich kenne das auch von mir selbst: Man nimmt zu viel Rücksicht auf den allgemein herrschenden Widerspruch gegen den Glauben und passt sich im Reden zu sehr an diesen an. Man möchte nicht als intellektuelle Lachnummer dastehen und formuliert sein Zeugnis deshalb sehr vorsichtig und angepasst.
Das führt zu der absurden Situation, dass, wie du schon richtig schreibst, der christliche Glaube seine (Bekenntnis-)Qualitäten gerade unter Druck entfaltet, also in Notzeiten, in denen eigentlich nichts für Gott zu sprechen scheint, aber weniger in satten Zeiten, in denen man Gottes Geleit eigentlich eher spüren können müsste. Merkwürdig, oder?
Viele Grüße
Klaus
was sind das für Prüfungen, die gott einen auferlegt, frage ich mich.
ist das ein gott der liebe, der einen auf diesen weg prüft mit unter.
wer die kraft hat wie gollwitzer und bonnhöfer so zu glauben ist schon eine große tife zu gott.
leider hat nicht jeder diese tife kraft zu gott nicht so zu gott gefunden, weil sie
sich verlassen fühlten in ihrer gefangenschaft.
da frage ich mich schon was das für eine prüfung sein soll.
ich war in den80-jahren ehrenamtlich bei amnesty internatiol tätig. ja es ist schon schwer soetwas zu
verstehen. wie so das leiden in der theologie immer noch eine große
bedeudung finden kann, wo man auch weis das manche leiden auch den menschen zerbricht.
sollte man auch mal die frage stellen, kann man auch zu got finden ohne leiden und
das man auch dankbarkeit ohne prüfungen auch zeigen kann.
man sollte auch mal weiter denken. eben so ist es auch für mich in frage die aussage den menschen geht es zugut, das er das danken vergist.
kann es auch möglich sein das man ohne leiden auch dankbar sein kann und auch zu gott sich finden kann.
einen dialog zwischen gott und mensch. ich denke
das gibt es auch, so wie auch das andere.
ich glaube an einer zwischenbeziehung zwischen gott und mensch. ohne dem geht es nicht.
Es geht mir darum, deutlich zu machen, dass auch Leiden uns nicht von Gott trennen. Man denkt ja leicht, dass man bei Gott in Ungnade gefallen ist oder dass er einen verlassen hat, wenn man leiden muss. Das ist aber ganz sicher nicht der Fall. Jesus hat ja auch die Gottverlassenheit erlebt, aber Gott hat ihn nicht allein gelassen und sein Leid zum Guten gewendet, indem er ihn von den Toten auferweckte. Jesus war also am Kreuz gar nicht so voller Kraft, so dass ihm das Leid nichts anhaben konnte. Ich finde es wichtig, den leidenden Menschen das zu sagen: Du bist nicht von Gott verlassen, auch wenn du dich so fühlst. Dein Leid ist nicht das Letzte, sondern es gibt einen Weg aus dem Leid heraus, auch wenn du den Weg nicht siehst.
Ich glaube auch nicht, dass alle Leiden Prüfungen Gottes sind. Gott ist kein Oberlehrer, der uns ständig Prüfungen unterzieht und uns danach beurteilt, so wie es in der Schule ist. Aber das Leben bringt es mit sich, dass sich der Glaube auch in schweren Zeiten bewähren muss. Und dann ist Gott nicht in erster Linie der strenge Richter, der uns verurteilt, sondern der Helfer, der uns zur Seite steht. So verstehe ich den Gott der Liebe: Er verurteilt die nicht, die im Glauben schwach sind (das sind wir alle), sondern er vergibt ihnen und gibt ihnen Kraft. Nur wer Gottes Kraft partout nicht annehmen will, der bekommt vielleicht auch sein Gericht zu spüren – um ihn dennoch auf den rechten Weg zu bringen.
Ich glaube nicht, dass Bonhoeffer oder Gollwitzer sich als stark im Glauben bezeichnet hätten. Und wenn sie das waren, dann haben sie diese Glaubensstärke von Gott geschenkt bekommen. Warum nicht alle dieses Geschenk bekommen, müssen wir Gott überlassen. Er teilt das Maß des Glaubens so aus, wie er es für richtig hält. Und ich denke, jeder bekommt das Maß, dass für ihn richtig ist. Und nur, wer das ihm zugemessene Maß nicht annehmen will, wer Gottes Gabe ablehnt, bekommt mitunter Gottes Gericht zu spüren.
Das heißt aber nicht, dass jeder Leidende Gottes Gericht zu spüren bekommt. Viele Leiden sind nicht von Gott gewollt und auch nicht von ihm gewirkt. Auch wenn wir oft nicht wissen, warum wir leiden müssen, können wir dennoch daran festhalten, dass Gott uns liebt. Gollwitzer hat in großen Nöten daran festgehalten, hat die Kraft von Gott bekommen. Andere bekommen die Kraft vielleicht nicht. Aber auch sie sind von Gott nicht vergessen, sondern bleiben seine geliebten Geschöpfe. Das ist meine Überzeugung.
Ich glaube wirklich, dass viele Menschen heute keine wirklichen Existenznöte ausstehen müssen und deshalb auch denken, sie hätten Gottes Liebe nicht nötig. Es ist wohl leichter, zu Gott zu finden, wenn man leiden muss. Aber das ist, wie gesagt, nicht der einzige Weg. Auch durch Glückserlebnisse und durch Zeiten der Freude kann man zu Gott finden. Aber auch ein solcher Glaube wird sich später in schweren Zeiten bewähren müssen. So ist unser Leben. Und ich finde es tröstlich, dass Gott in guten und schlechten Zeiten an unserer Seite ist und an unserer Freude und unserem Leid teilnimmt.