Ein christliches Narrativ
Klaus Straßburg | 07/04/2021
Menschen leben von Erzählungen, die ihr Leben abbilden und deuten. Man spricht heute von Narrativen (von lat. narrare = erzählen). Narrative beeinflussen unser Denken und Fühlen, unsere Werte und unsere Wahrnehmung der Wirklichkeit.
Ein bekanntes Narrativ ist zum Beispiel „Vom Tellerwäscher zum Millionär". Es erzählt von der Möglichkeit, mit nichts anzufangen und dennoch reich zu werden. Dieses Narrativ kann für einzelne Menschen und eine ganze Gesellschaft zum Ansporn werden, trotz schlechter Ausgangsposition ein großes Ziel ins Auge zu fassen, für das Erreichen dieses Zieles zu arbeiten und bei Rückschlägen nicht aufzugeben.
Unterschiedliche Kulturen haben unterschiedliche Narrative. Auch Religionen leben von Narrativen. Meine Frage ist: Welche Narrative herrschen in unserer Kultur?
Menschen fragen nach dem Sinn ihres Lebens. Besonders im Leiden bricht diese Frage auf. Man kann auch nach dem Sinn der Pandemie fragen – jedenfalls dann, wenn man nicht schon alles Fragen nach einem Sinn aufgegeben hat.
Ein in unserer Kultur herrschendes Narrativ scheint mir zu sein: „Wir können Leid vermeiden". Dieses Narrativ erzählt die Geschichte des Menschen, der durch technischen und kulturellen Fortschritt das Wohlbefinden steigert. Die Medizin kann viel Leid vermeiden und lindern. Das erwarten wir auch von ihr. Darum gibt es das Narrativ von den "Göttern in Weiß". Und wenn das Leid schon nicht ganz zu vermeiden ist, muss es entweder mit positiven Erlebnissen überspielt oder so schnell wie möglich beendet werden.
Doch das verdrängte oder vermiedene Leid kommt umso überraschender zurück. Irgendwann lässt es sich weder verdrängen noch vermeiden. Dann ist der Mensch irritiert, deprimiert oder wütend. Vielleicht versucht er, das unerwartete Negative irgendwie in den Griff zu kriegen. Auch in der Pandemie kann man das beobachten.
Für Christinnen und Christen gibt es ein anderes Narrativ. Dietrich Bonhoeffer hat es im Gefängnis so formuliert:
Ich glaube, dass Gott aus allem, auch aus dem Bösesten,
Gutes entstehen lassen kann und will.
(Widerstand und Ergebung. Briefe und Aufzeichnungen aus der Haft. Herausgegeben von Eberhard Bethge. Neuausgabe.
Chr. Kaiser Verlag München 1985. S. 20)
Bonhoeffer hat erlebt, wie viel abgrundtief Böses in dieser Welt geschieht. Er hat auch am eigenen Leib erfahren, dass Gott Böses geschehen lässt. In diesen schmerzhaften Erfahrungen lebt er von dem Glauben, dass Gott auch aus dem Bösesten noch Gutes werden lassen kann.
Ein biblisches Beispiel dafür ist die Josephsgeschichte im Alten Testament (1Mo/Gen 37-50). Diese Geschichte erzählt davon, wie Joseph von seinen Brüdern in die Sklaverei verkauft wird, wie er in Ägypten Karriere am Hof des Pharao macht und wie seine Brüder viele Jahre später wegen einer Hungersnot nach Ägypten kommen, um Getreide zu kaufen. Dort treffen sie völlig unerwartet Joseph wieder, der inzwischen damit beauftragt ist, das ägyptische Getreide zu verkaufen. Er ist dadurch zu einem Retter vieler Hungernder geworden – auch zum Retter seiner Brüder und seines alten Vaters. Er ist vom Sklaven zum zweitmächtigsten Mann im Staat geworden.
Man könnte meinen, das Narrativ für die Josephsgeschichte laute: „Vom Sklaven zum Machthaber". Denn von Gott ist in der langen Geschichte kaum einmal die Rede. Es scheint, dass die ganze Geschichte durch all das Positive und Negative vorangetrieben wird, das es im Leben so gibt: Vaterliebe, Prahlerei, Neid, Eifersucht, Mordlust, Verführung, Lüge, Rechtschaffenheit, Weisheit, Undankbarkeit, Anerkennung, Aufstieg. Das alles spielt in der Josephsgeschichte eine Rolle. Gott wird nur an wenigen Punkten einmal erwähnt. Sein Wirken in all den Bosheiten, Intrigen, unglücklichen und glücklichen Wendungen ist nicht an den Ereignissen abzulesen. Es kann nur geglaubt werden.
Das Narrativ, das diese Geschichte prägt, wird von Joseph an einigen wenigen Stellen genannt, als er zu seinen Brüdern sagt:
Ihr hattet zwar Böses mit mir beabsichtigt,
aber Gott hat beabsichtigt, es zum Guten zu wenden.
(1Mo/Gen 50,20a)
Um [viele Menschen] am Leben zu erhalten,
hat mich Gott vor euch her gesandt.
(1Mo/Gen 45,5b)
Das Narrativ der Josephsgeschichte lautet kurz gesagt: „Gott lässt aus Bösem Gutes entstehen."
Wir Christinnen und Christen tun uns schwer damit, Leiderfahrungen mit Gott in Verbindung zu bringen. Oft stehen wir hilflos davor, sind verwirrt und verstehen Gott und die Welt nicht mehr. Zu mächtig erscheint uns das Argument, dass ein liebender Gott doch das Leid vermeiden müsste. Denn die Vermeidung von Leid ist, wie ich oben schon sagte, ein wirkungsmächtiges Narrativ unserer Zeit.
Müssten wir demgegenüber nicht mutig und überzeugend ein anderes Narrativ zur Geltung bringen? Müsste die Kirche nicht beharrlich bezeugen, dass Gott aus Bösem, ja aus dem Bösesten Gutes entstehen lassen kann und will, anstatt dass sie sich verschämt hinter ein „Wir können uns das Böse auch nicht erklären" zurückzieht? Mit einem angesichts des Leids herrschenden Narrativ „Wir wissen auch nicht weiter" können die Menschen nichts anfangen. Sie sehnen sich nach einem Lichtblick, nach einem Sinn und Ziel, nach einem guten Ende ihrer leidvollen Erfahrungen. Laut und beständig müsste das Zeugnis der Kirche durch die Welt schallen: „Du kannst darauf vertrauen, dass eine gute Macht da ist, die aus dem Schlechten Gutes entstehen lassen wird."
Es geht nicht darum, diesen Satz einem leidenden Menschen vor den Kopf zu knallen. Es geht aber darum, ihm zur rechten Zeit eine Erzählung anzubieten, die seine Not aufnimmt und ihm in der Not einen Weg weist; ihm einfühlsam eine Erzählung hinzuhalten wie einen Mantel, in den er in seiner ganzen Verletzlichkeit hineinschlüpfen und sich bergen kann.
Dieses Narrativ kann leidende Menschen trösten und aufbauen. Es kann ihnen die Aussicht auf ein Ende des Leids eröffnen. Sie müssen nicht in ihrem Schmerz versinken, sondern können sich der Gegenwart Gottes gewiss sein. Sie können sich daran klammern, dass kein blindes Schicksal, keine schlimmen Zufälle und keine bösen Menschen über ihr Leben bestimmen, sondern in allem Unerklärlichen und Schmerzlichen der liebende Gott.
Das wäre ein Narrativ, das Menschen bewegt; das eine Gegenerzählung bildet zu dem herrschenden Narrativ von der Leidvermeidung, das nicht halten kann, was es verspricht. Ich würde mir eine überall lautstark ertönende christliche Gegenerzählung zu all den unwahren und halbwahren Narrativen dieser Welt wünschen anstatt ein verschüchtertes Christentum, das sich von diesen Narrativen beeindrucken lässt.
Eine Christenheit, welche sich nicht mehr getraut, Gottes Wirken in den Leiderfahrungen des Lebens zu bezeugen, lässt die Menschen in ihren Leiden allein. Es fehlt ihr der Mut, die Geschichte Jesu Christi nachzuerzählen, der durch das Leid und die Gottverlassenheit hindurch die Lebensfülle erlangt hat. Diese Geschichte ist das Narrativ, das tröstet und Hoffnung macht.
Wie die Geschichte Jesu Christi zeigt, führt dieses Narrativ nicht immer dazu, dass im irdischen Leben alles gut wird. Aber das christliche Narrativ denkt weiter als bis zum Ende des irdischen Lebens. Was vor dem Tod nicht gut wird, wird nach dem Tod gut. Der Blick über den Tod hinaus gehört zu diesem Narrativ.
Denn Gottes Geschichte mit uns endet nicht mit unserem Tod. Darum endet auch das christliche Narrativ nicht mit dem irdischen Leben, in dem wir das Leid niemals werden beseitigen können. Es endet erst mit dem himmlischen Leben, aus dem Gott alles Leid ausgesperrt haben wird.
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