Ein alles veränderndes Erlebnis
Über den Mathematiker Blaise Pascal
Klaus Straßburg | 01/06/2021
Vielleicht wäre er ohne die Aufzeichnung seines religiösen Erlebnisses nie als Christ bekannt geworden. Jedenfalls sind die Zeilen, in denen er seine überwältigenden Gefühle notiert hat, sein bekanntester Text. Das darin beschriebene Erlebnis war das alles verändernde Widerfahrnis seines Lebens. Danach war er ein anderer Mensch. Er trug das Blatt immer bei sich. Man fand es nach seinem frühen Tod im Jahre 1662 in seinem Rock eingenäht.
1. Das Mémorial
Die Rede ist von dem französischen Mathematiker Blaise Pascal und sein sogenanntes Mémorial, die Erinnerung an das Erlebnis, das seine Lebenswende herbeiführte. Die Notizen über dieses Erlebnis sind spontan entstanden und so, wie es seinen Gefühlen entsprach. Es sind in Worte gefasste überwältigende Gefühle, so dass der Sinn für uns nicht immer eindeutig ist. Die lateinischen Sätze habe ich ins Deutsche übersetzt (für etwaige Korrekturen bin ich dankbar). Dies sind seine Notizen:
Jahr der Gnade 1654
Montag, den 23. November, Tag des heiligen Klemens, Papst und Märtyrer, und anderer im Martyrologium.
Vorabend des Tages des heiligen Chrysogonos, Märtyrer, und anderer.
Seit ungefähr abends zehneinhalb bis ungefähr eine halbe Stunde nach Mitternacht
Feuer
Gott Abrahams, Gott Isaaks, Gott Jakobs, nicht der Philosophen und Gelehrten [Gott].
Gewissheit, Gewissheit, Empfinden: Freude, Friede. Der Gott Jesu Christi.
Meinen Gott und euren Gott.
Dein Gott ist mein Gott [Ruth 1,16].
Vergessen der Welt und aller [Dinge], nur Gottes nicht.
Er ist allein auf den Wegen zu finden, die das Evangelium lehrt.
Größe der menschlichen Seele.
Gerechter Vater, die Welt kennt dich nicht; ich aber kenne dich [nach Joh 17,25].
Freude, Freude, Freude, Tränen der Freude.
Ich habe mich von ihm getrennt.
Sie haben mich verlassen, den Quell des lebendigen Wassers [so klagt Gott nach Jer 2,13].
Mein Gott, wirst du mich verlassen? [vgl. Jesu Schrei am Kreuz nach Mk 15,34]
Möge ich nicht auf ewig von ihm getrennt sein.
Das ist aber das ewige Leben, dass sie dich, der du allein wahrer Gott bist, und den du gesandt hast, Jesum Christum, erkennen [Joh 17,3].
Jesus Christus!
Jesus Christus!
Ich habe mich von ihm getrennt, ich habe mich ihm entzogen, habe ihn geleugnet und gekreuzigt [vgl. Hebr 6,6].
Möge ich niemals von ihm getrennt sein.
Er ist allein auf den Wegen zu bewahren, die im Evangelium gelehrt werden.
Vollkommene Unterwerfung unter Jesus Christus und meinen geistlichen Führer.
Ewige Freude für einen Tag der Mühe auf Erden.
Deine Worte will ich nicht vergessen [vgl. Ps 119,16; lateinischer Originaltext unklar].
Amen.
(Blaise Pascal: Mémorial. Übersetzung aus dem Französischen nach Wikipedia mit leichten Änderungen. Der französische Originaltext und ein – allerdings kaum lesbares – Faksimile der Originalaufzeichnungen sind hier zu finden.)
2. Aus Pascals Leben
Blaise Pascal wurde am 19. Juni 1623 in der Auvergne/Frankreich geboren. Seine Mutter starb, als er noch ein Kleinkind war. Sein Vater war königlicher Steuerbeamter und gehörte zum französischen Amtsadel. 1631 zog er mit seinen Kindern nach Paris. Sein Sohn war mathematisch ungewöhnlich begabt, so dass er bereits mit 12 Jahren ein Mathematikstudium beginnen konnte. Mit 16 Jahren schrieb er eine Arbeit über die Theorie der Kegelschnitte, mit 19 Jahren entwarf er eine Rechenmaschine. Tatsächlich wurde er ein berühmter Mathematiker.
Er bekam bald Kontakt zu kirchenkritischen und reformwilligen Katholiken, den sogenannten Jansenisten. Mit 23 Jahren traten er, sein Vater und seine beiden Schwestern dieser Gruppierung bei. Die Jansenisten lehrten, dass der Mensch keinerlei Einfluss auf seine Erlösung habe, sondern ganz der Gnade Gottes ausgeliefert sei.
Fünf Jahre später starb sein Vater. Diskussionen über die Gewinnchancen im Glücksspiel bewegten Blaise Pascal dazu, sich 1653 der Wahrscheinlichkeitsrechnung zuzuwenden und diese voranzutreiben.
Am 23. November 1654, im Alter von 31 Jahren, hatte er das oben beschriebene Erlebnis. Es veränderte sein Leben. Pascal zog sich weitgehend aus der Pariser Gesellschaft zurück, um sich ganz Gott zuzuwenden. Vor allem mit einigen Jansenisten hatte er weiterhin Kontakt. Er arbeitete an theologischen, aber auch mathematischen Studien, wenngleich er meinte, die Naturwissenschaften könnten nicht nachvollziehen, welch intensive Erfahrungen ein Mensch in seiner Hingabe an Gott machen könne.
Im Alter von 33 Jahren begann er die Arbeit an einer Verteidigungsschrift für den christlichen Glauben. Doch verschlechterte sich sein Gesundheitszustand zusehends. Am 19. August 1662 starb er im Alter von 39 Jahren. Seine letzten Worte sollen gewesen sein: „Möge Gott mich nie verlassen!"
Seine geplante Schrift konnte er nicht vollenden, hinterließ aber rund 1.000 beschriebene Zettel. Diese wurden 1670 von Freunden unter dem Titel Gedanken über die Religion und andere Themen veröffentlicht. Das Werk sollte nach dem Willen Pascals zwei Teile enthalten: Zunächst sollte das „Elend des Menschen ohne Gott" und danach die „Glückseligkeit des Menschen mit Gott" behandelt werden. Die Zettelsammlung wurde später mehrmals neu geordnet und veröffentlicht, und das Buch gehört bis heute unter dem Titel Pensées (Gedanken) zu den bekannten theologischen Werken der Vergangenheit.
Pascal führte unter anderem aus, dass der Mensch von Leere und Sinnlosigkeit geplagt sei. Um dies zu verdrängen, gebe er sich mannigfaltigen Zerstreuungen und Vergnügungen hin, die ihn von davon abhielten, sich mit den wirklich wichtigen Fragen des Lebens zu beschäftigen. Ich denke, diese Analyse ist heute noch genauso treffend wie vor 350 Jahren.
3. Die Wette
Bekannt geworden ist auch die „Wette", die Pascal formuliert hat. Hier spricht ganz der Mathematiker und Wahrscheinlichkeitsforscher. Die Wette geht so: Wenn es sicher ist, dass es entweder einen Gott gibt oder keinen Gott gibt, und wenn man sich für eine Seite entscheiden müsste, ohne dass die Vernunft diese Frage beantworten könnte: Welche Entscheidung wäre gewinnbringender? Worauf würde man wetten?
Wettet man darauf, dass es Gott gibt, dann verliert man vielleicht einige zweifelhafte Freuden auf Erden, von denen man als Christenmensch Abstand nehmen würde; aber man gewinnt dafür alles, ein zeitlich und ewig glückliches Leben in der Gemeinschaft mit Gott. Wettet man aber darauf, dass es keinen Gott gibt, so gewinnt man vielleicht einige zweifelhafte irdische Freuden; aber man verliert schon auf Erden die Befriedigung eines dankbaren, demütigen, wohltätigen Lebens, frei von zweifelhaften Genüssen und von der Sucht nach Ruhm und Anerkennung. Man verliert Gewissheit und Halt in diesem Leben und im ewigen Leben ewiges Glücklichsein.
Pascal meinte: Wer auf Gott setzt, kann unendlich viel gewinnen, hat aber eigentlich nichts zu verlieren. Darum sei es vernünftiger, darauf zu setzen, dass es Gott gibt, als darauf, dass es ihn nicht gibt.
Hier spricht, wie gesagt, der Mathematiker. Man kann sicher die Entscheidung für ein Leben mit Gott nicht in dieser Weise abwägen. Dennoch finde ich es nicht ganz abwegig, auch diesen Gedanken einmal durchzuspielen.
Auch Pascal wollte den Glauben nicht von einer solchen Vernunftentscheidung abhängig machen. Er konnte die Leistungen der menschlichen Vernunft sogar äußerst kritisch beurteilen:
Der letzte Schritt der Vernunft ist die Erkenntnis, dass es eine Unendlichkeit von Dingen gibt, die sie übersteigen. Sie ist nur schwach, wenn sie nicht bis zu dieser Erkenntnis vordringt. Wenn die natürlichen Dinge sie übersteigen – was soll man erst von den übernatürlichen sagen?
(Zitiert nach: Werner Thiede: Lust auf Gott. Einführung in die christliche Mystik. LIT Verlag Berlin 2019. S. 162f)
4. Glaubenserlebnisse
Das von Pascal beschriebene „Bekehrungserlebnis" finde ich sehr beeindruckend. Man spürt, dass Pascal von tiefer Freude und innerem Frieden ergriffen ist. Man hört heraus, dass der Grund dafür nicht irgendein höchstes Wesen ist, sondern der Gott, der uns in Jesus Christus nahegekommen ist. Deutlich wird das Erleben intensiver Gottesnähe und die innige Bitte, niemals von diesem Gott getrennt zu sein.
Ich habe solch ein Bekehrungserlebnis, das ich nach Tag und Stunde datieren kann, nie gehabt. Ein Christ oder eine Christin muss solch ein Erlebnis auch nicht haben, geschweige denn „vorweisen".
Meine eigene Erfahrung ist, dass ich immer wieder Erlebnisse habe, die ich mit Gott in Verbindung bringe und die auch mit starken Gefühlen verbunden sind. Ich bin dann von einem Ereignis sehr angerührt, aber dieses Ereignis ist für mich kein rein weltliches Geschehen, sondern ich sehe es in seiner Beziehung zu Gott. Es kann sein, dass ich dann voller Freude über Gott und seine Geschöpfe bin oder auch voller Grauen über den Menschen, der Gottes Geschöpf ist und dennoch massiv gegen seinen Schöpfer handelt.
Das sind Momente, die schwer zu beschreiben sind. Es ist das Gefühl, dass etwas aus der Tiefe meiner Seele nach außen dringt; das Gefühl, dass nichts in dieser Welt einfach nur Welt ist, sondern alles mit Gott zu tun hat. Das kann Freude oder Entsetzen in mir auslösen, und beides ist mit starken Gefühlen verbunden. Ich bin vielleicht tief berührt von den Wundern der Schöpfung, den positiven Möglichkeiten des Menschen oder der Liebe von Menschen zueinander. Oder ich bin entsetzt wegen der Missachtung der Wunder der Schöpfung, wegen der negativen Möglichkeiten oder der Kaltherzigkeit der Menschen.
All das sind für mich keine dauerhaft bedrückenden Erfahrungen, sondern befreiende Erfahrungen, weil beides, Freude und Grauen, vor Gott ihren Ort haben. Auch das Schreckliche belastet mich deshalb nicht, wenn es auch völlig unbegreiflich für mich ist.
Vielleicht kann man es auch so ausdrücken: Ich bin in solchen Momenten zutiefst angerührt vom Geheimnis Gottes, der das Geheimnis unseres Lebens und unserer Welt ist, oder von der menschlichen Missachtung dieses Geheimnisses.
Wie gesagt, es ist schwer zu beschreiben, wie wohl alle derartigen Erlebnisse. Ich denke nicht, dass man als Christ oder Christin eine bestimmte Art von Erlebnissen haben muss. Sicher gibt es auch Christen, die keine derartigen Erlebnisse oder ganz andere haben. Das Christsein hängt nicht an dem, was wir erleben oder nicht erleben. Es hängt auch nicht an einem Bekehrungserlebnis, das von manchen Christenmenschen so hochgeschätzt wird.
Unser Christsein, das ist meine Überzeugung, hängt allein an Gottes Gnade, und die kann sich sehr vielfältig in einem Menschenleben ausdrücken. Unter anderem auch in starken Gefühlserlebnissen, in Gefühlen der Freiheit und des Friedens, des Sinnes und der Liebe. In dem dankbaren Gefühl, dass Gott mit mir und meiner Welt innigst verbunden ist und nichts in dieser Welt mich von seiner Liebe und Gnade trennen kann.
Quellen:
- Werner Thiede: Lust auf Gott. Einführung in die christliche Mystik. LIT Verlag Berlin 2019. S. 159-163.
- Stöve, Eckehart: Pascal, Blaise. In: Hans Dieter Betz u.a. (Hg.): Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Band 6. Mohr Siebeck Tübingen, 4. Aufl. 2003. Sp. 966-969.
- https://www.furche.at/feuilleton/blaise-pascal-der-zerbrechliche-mensch-1219069.
* * * * *
danke für diesen Beitrag, in den ich bestimmt noch mehrmals hineinschauen werde.
Pascals Wette habe ich immer gewitzt und auf eine gewisse Art durchaus überzeugend gefunden, aber letztlich doch immer als zu locker-fluffig angesehen. In solchen Dingen ist mir die Wahrheitsfrage dann doch zu wichtig (wie dir wohl auch), und die Behandlung mit Ockhams Rasiermesser würde dieses Pascalsche Konstrukt kaum überstehen.
Unabhängig davon war Pascal offenbar ein ernsthafter Gottsucher, dessen Gedanken und Erlebnisse mich sehr interessieren.
Viele Grüße
Thomas
die Wette überzeugt mich auch nicht. Die Beschreibung seines "Erweckungserlebnisses" finde ich umso beeindruckender. Ich denke auch, Pascal war ein ernsthafter Gottsucher - für dich vielleicht besonders interessant, weil er ja zugleich Mathematiker war.
Viele Grüße
Klaus