Die Zukunft des Christkinds
Klaus Straßburg | 24/12/2021
Weihnachten hat nicht nur mit der Vergangenheit zu tun, sondern auch mit unserer Zukunft. Denn das Christkind, das eigentlich das Christuskind ist, hat eine Zukunft.
Zum christlichen Glauben gehört ein sehr merkwürdiger Gedanke: Der Mensch Jesus, von dessen Geburt die Weihnachtsgeschichte erzählt und der nach einem relativ kurzen Leben am Kreuz gestorben ist, wird einmal auf die Erde zurückkehren.
Das ist schon ein verrückter Gedanke: Ein Mensch, der einmal gelebt hat und gestorben ist, soll angeblich wieder auf die Erde zurückkehren. Ist das nicht ein Mythos, die Geschichte eines Gottes oder Halbgottes, die an sich völlig überflüssig ist? Reicht es nicht, dass Jesus einmal gelebt hat?
Es reicht offensichtlich deshalb nicht, weil der ganze christliche Glaube nicht nur mit unserer Vergangenheit, sondern auch mit unserer Zukunft zu tun hat. Es geht ja im christlichen Glauben nicht einfach darum, dass wir irgendwie mit unserer Vergangenheit ausgesöhnt werden. Sondern es geht darum, dass wir bei und mit Gott eine Zukunft haben. Es geht nicht nur um unsere Herkunft von Gott, sondern auch um unsere Ankunft bei ihm – oder besser: seine Ankunft bei uns.
Anders ausgedrückt: Wir gehen einen Weg, der ein Ziel hat. Wir sind nicht irgendwann einmal von Gott auf unseren Lebensweg gestellt worden mit unsicherem Ende, sondern es ist uns von Gott auch ein Ziel gesetzt. Wir wandern nicht ziellos durch unser Leben.
Ein Ziel zu haben ist keine schlechte Sache. Zu oft fühlen wir uns doch irgendwie ziellos. Wir wissen nicht, was noch kommt, wohin der Weg führt, wohin wir am Ende des Weges gelangen werden.
Der Philosoph Ernst Bloch hat schon vor vierzig Jahren versucht, eine zukunftsträchtige, hoffnungsvolle Perspektive auf das Kommende zu errichten. Sein Hauptwerk „Das Prinzip Hoffnung" umfasst drei dicke Bände mit 1.628 Seiten. Dieses Werk endet mit der Hoffnung, dass „in der Welt etwas [entsteht], das allen in die Kindheit scheint und worin noch niemand war: Heimat"*.
Heimat ist dort, wo wir zu Hause sind. Wo wir am Ziel angekommen sind. Wo wir keinen Ort, keinen Menschen, keinen Lebenssinn für uns mehr suchen müssen, sondern das alles gefunden haben. Oder, mit den Worten des Philosophen Karl Jaspers: „Heimat ist dort, wo ich verstehe und verstanden werde."
Über diesen Satz musste ich lange nachdenken. Und ich meine, er sei richtig. Heimat ist für mich nicht einfach dort, wo ich Häuser, Straßen und Landschaften kenne, sondern dort, wo ich mich aufgehoben fühle, wo ich mit meinen Prägungen, Gefühlen und Gedanken von den Menschen geachtet und anerkannt werde – wo ich mich nicht verstecken muss, sondern sein darf, wie ich bin.
Das ist doch unsere Sehnsucht: dass man uns so, wie wir sind, in die Arme schließt, so dass wir wissen: Es ist gut, dass ich da bin.
Im Würzburger Dom entdeckte ich vor einigen Jahren eine Christusgestalt im Altarraum, die mich sehr beeindruckt hat. Es war eine so ganz andere Gestalt, als ich sie sonst aus Kirchen kannte. Normalerweise wird der Altarraum ja von einem Kreuz dominiert. Diesmal aber stand etwas anderes im Mittelpunkt. Das Kreuz fehlte nicht, aber der Blick wurde nicht auf das Kreuz gelenkt, sondern auf diese Gestalt:
An jenem Tag, an dem ich den Dom betrat, war das Kirchenschiff relativ dunkel. Licht fiel auf beeindruckende Weise in den Altarraum ein. Man sah nicht, woher das Licht kam, aber es erhellte die Christusfigur, die wie eine Lichtgestalt auf den Betrachter zukam. Alles andere verblasste angesichts dieser auf mich zukommenden Christusgestalt.
Da ist er wieder: der Gedanke an die Zukunft. Was kommt am Ende auf uns zu?
Im christlichen Glauben verbindet man mit der Zukunft nicht unbedingt Positives. Man denkt mitunter an das Jüngste Gericht – eine ungünstige, missverständliche Gedankenverbindung. Denn man assoziiert dabei so etwas Unangenehmes wie eine Gerichtsverhandlung, sich selbst als Angeklagten und einen verurteilenden Richter, der eine Strafe verhängt, vielleicht sogar ewige Qualen in der Hölle anordnet.
Gott erscheint dann, im Gegensatz zur Christusgestalt des Würzburger Domes, eher wie die Göttin Iustitia auf dem Frankfurter Römerberg:
Hier kommt also Iustitia, die Göttin der Gerechtigkeit, auf uns zu. Sie trägt in der linken Hand die Waage, um Für und Wider abzuwägen, und in der rechten Hand das Schwert, um das Recht mit der nötigen Härte durchzusetzen.
Ich möchte dieser Göttin lieber nicht begegnen.
Ganz anders die Gestalt Christi im Würzburger Dom. Sie wirft ein Licht darauf, wie der Gott, von dem die Bibel erzählt, uns am Ende begegnen wird. Er wird nicht abwägen, was wir verdient haben, was für und was gegen uns spricht, ob das Gute oder das Schlechte in uns überwiegt. Unser Schicksal wird nicht davon abhängen, nach welcher Seite die Waage ausschlagen wird.
Gott wird auch nicht das Schwert tragen, um an uns das Urteil zu vollstrecken, das wir verdient haben. Das Gericht eines solchen Gottes müssten wir wahrlich fürchten. Es mag sein, dass viele Menschen an solch einen Gott lieber nicht so oft denken oder mit einem Gott, der das Schwert schon mitbringt, lieber gar nichts zu tun haben wollen.
Die Bibel aber spricht anders über Gott. Er wird zwar als Richter bezeichnet; aber er ist der Friedensrichter, das heißt der Richter, der Frieden im umfassenden Sinn schafft, der nicht hinrichtet, sondern aufrichtet, der durch sein Gericht das Böse aus der Welt schafft, damit Gerechtigkeit und Friede herrschen (Jes 2,2-4). Gottes Gericht ist darum Ausdruck seiner Güte (Ps 33,5; 103,6.8) und erweckt auf Erden Freude und Jubel (Ps 96,10-13).
Es gibt Gerichte Gottes schon auf Erden. Das sind unangenehme Erfahrungen, vielleicht Lebenskrisen, mit denen Gott uns aber nicht bestrafen, sondern zu sich rufen will. Leider orientieren wir uns oft erst dann neu, wenn unser bisheriger Weg schmerzhaft in Frage gestellt wird. Paulus bringt diese Gerichte Gottes mit seiner Barmherzigkeit zusammen (Röm 11,32f).
Und es gibt das eine Gericht am „Jüngsten Tag". Es weist uns darauf hin, dass Gott ernst zu nehmen ist. Er lässt uns nicht das letzte Wort sprechen damit, dass wir seine Barmherzigkeit ignorieren und so über ihn spotten (Gal 6,7). Aber auch dieses letzte Gericht hat, wie alle Gerichte Gottes, nicht die Aufgabe, einfach Strafen festzusetzen. Es will uns vielmehr in die Gemeinschaft mit Gott zurückführen. Dazu gehört, dass die Wahrheit ans Licht kommt, die wir so gern verdrängen. Von dem, was wir verdrängen, werden wir aber nur durch die Wahrheit befreit. Darum heißt es: „Die Wahrheit wird euch frei machen" (Joh 8,32).
Die Wahrheit ist nicht immer angenehm. Aber sie befreit von Lüge und Selbstbetrug. Wir werden erfahren, wer wir wirklich sind. Es wird uns sozusagen ein Spiegel vorgehalten. Und dann – dann wird nicht die Göttin Gerechtigkeit auf uns zukommen, sondern Christus mit geöffneten Armen, um uns in seine Arme zu schließen und zu sagen: „Es ist gut, dass es dich gibt."
Doch ich will nichts beschönigen. Die Bibel spricht auch von einer Scheidung der Menschen im Jüngsten Gericht (Mt 13,49f; 25,31-33). Es mag sein, dass jemand so verbohrt ist, sich in seinem irdischen Leben so weit von Gott entfernt und in sich selbst vergraben hat, dass er aus seiner Selbstbezogenheit gar nicht mehr herauskommt – so wie manchmal ein alter Mensch von der Weltanschauung, die er sein Leben lang praktiziert hat, nicht mehr lassen kann. Es mag sein, dass Menschen die unangenehme Wahrheit über sich selbst um keinen Preis anerkennen wollen, ihre Täterrolle nicht annehmen, nichts bereuen wollen und der Umarmung nicht vertrauen wollen.
Wenn sich jemand partout nicht umarmen, nicht von Gott lieben lassen will, dann wird ihn Gott nicht dazu zwingen. Dann bleibt nur die Distanz, die Trennung von ihm.
Das ist aber nicht das, was Gott will. Darum kommt er in der Gestalt Jesu. Denn auch Jesus wollte nicht die Trennung von den Menschen, sondern hat die Gemeinschaft mit ihnen gesucht – vorzüglich mit Gottesverächtern, Unmoralischen, Ausgegrenzten. Solche Gemeinschaft sucht Gott – wie Jesus es tat.
Das besagt der merkwürdige Gedanke, dass der Jesus, dessen Geburt wir heute feiern, noch einmal wiederkommt. Er ist der Richter, und er ist kein anderer als der, der er vor 2000 Jahren war: der liebende, aufrichtende, von der Unwahrheit befreiende, uns umarmende Richter.
Für mich ist das ein beeindruckendes Bild für unsere Zukunft. Wer sich in seine Arme begibt, wird endlich Heimat gefunden haben.
* Ernst Bloch: Das Prinzip Hoffnung. Dritter Band. Suhrkamp Verlag Frankfurt am Main, 8. Aufl. 1982, S. 1628.
* * * * *
du fragst: ".....was kommt am Ende auf uns zu?"
Ich vermute, eine besonder Form von Gegenwart. Zukunft liegt paradoxerweise eben nicht in der Zukunft, sonder genau hier, im "Hier und Jetzt": Zukunft wird wird geboren, wenn die Gegenwart nicht enden will und auf diese Weise - im Angesicht zu Angesicht - geistesgegenwärtig wird.
danke für deine Ergänzung. Wenn ich dich richtig verstehe, erinnerst du an Gottes Gegenwart im Hier und Jetzt. Gott ist ja tatsächlich schon jetzt gegenwärtig, ja sogar durch seinen Geist in uns wirksam. Das ist ein Aspekt der Gegenwart Gottes.
Ich würde davon unterscheiden die Gegenwart Gottes, die biblisch das Sehen Gottes "von Angesicht zu Angesicht" genannt wird (1Kor 13,12). Diese Art der Gegenwart Gottes ist uns jetzt noch nicht gegeben, sondern ist rein zukünftig. Beide Arten der Gegenwart Gottes hängen zusammen, sind aber nicht identisch.
gestatte bitte zwei Ergänzungen.
Der von Dir zitierte E. Bloch war Marxist und billigte die Stalinschen Schauprozesse in den dreißiger Jahren. Entsprechend waren seine Hoffnungen und Zielvorstellungen.
Und vor der in der Bibel angekündigten Wiederkehr Jesu Christi soll es furchtbare Katastrophen und menschliches Leid geben (Mt 24,3-29). Andererseits werden wir in Joh 16,22-24 aufgefordert, dieser Rückkehr des Heilands zur Erde mit Freude entgegenzusehen.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
ich danke dir sehr für deine wichtigen Hinweise. Dass Bloch sich mit Stalin solidarisiert hatte, wusste ich nicht. Das ist nicht die "Heimat", die ich meinte. Interessant ist ein taz-Artikel, der zeigt, dass es unter den Intellektuellen nicht nur Bloch war, der Stalin verteidigte (https://taz.de/!212413/). Demnach hat sich Bloch nie davon distanziert, laut Wikipedia dann aber doch, wenn auch erst spät (https://de.wikipedia.org/wiki/Ernst_Bloch). Was richtig ist, muss ich offen lassen, berührt aber auch nicht deinen berechtigten Einwand.
Dein Hinweis auf die beiden Bibelstellen (du meinst wahrscheinlich Joh 16,20-22?) beleuchtet die Ambivalenz, mit der das Jüngste Gericht in der Bibel beschrieben wird. Der Matthäustext ist eine Apokalypse, die beschreibt, was dem Ende der Welt vorausgehen wird. Sie will die Glaubenden zum Durchhalten in schweren Zeiten ermutigen (V 4.9-13.23.25f) und enthält sogar positive Aspekte (V 14.22.27).
Apokalypsen wollen eigentlich keine Angst machen, sondern die Glaubenden auf schwere Zeiten vorbereiten, indem sie ihnen sagen: Das, was dort beschrieben ist, ist nicht der Sieg der bösen Mächte über Gott, sondern es geht dem endgültigen Sieg Gottes über die bösen Mächte voran. Bleibt also Gott treu und habt keine Angst, auch wenn die Zeit schwer ist (Mt 24,6)! Der Johannestext beschreibt diese Ambivalenz ja auch, aber mit deutlichem Akzent auf dem Positiven der Wiederkunft Christi und der damit verbundenen Freude für die Glaubenden.
Eine theologische These ist, dass die Endzeit mit der Geburt Jesu bereits begonnen hat. Denn er "sah den Satan wie einen Blitz vom Himmel fallen" (Lk 10,18), und die Macht der Dämonen ist schon gebrochen (V 17.19; das "auf Schlangen und Skorpione treten" ist nicht so gemeint, dass man einen entsprechenden Test machen sollte). Die Zukunft des Reiches Gottes hat gewissermaßen schon begonnen, auch wenn das Böse noch wütet; die Entscheidung ist bereits gefallen. Damit hat die Endzeit begonnen. Und es ist ja auch eine geschichtliche Erfahrung, dass viele "Christusse" (Heilsbringer) und "falsche Propheten" auftreten (Mt 24,5.11.24), Kriege stattfinden (V 6), Hungersnöte ausbrechen und Erdbeben stattfinden (V 7), Christinnen und Christen verfolgt werden (V 9) und die "Liebe in vielen erkaltet" (V 12).
Man kann natürlich viele Anfragen an eine solche Apokalypse stellen, z.B. darauf hinweisen, dass es diese Dinge doch immer schon gab und sie deshalb keine Anzeichen für das nahe Ende sein können. Ich denke, dass es auch hier nicht um historische Genauigkeit geht. Wir dürfen diese Texte nicht mit unseren historisch geschulten Augen lesen. Um historische Genauigkeit ging es auch dem Matthäus nicht. Es ging ihm einfach darum, die Glaubenden, die sich Gottes gegenwärtige Herrschaft anders vorstellen und sich danach sehnen, darauf hinzuweisen, dass das Reich Gottes noch nicht in Vollkommenheit da ist und dass sie auf seine umfassende Verwirklichung noch warten müssen und in den Leiden, die sie treffen, Geduld aufbringen müssen. Es ist eine Warnung davor, angesichts des Zustands der Welt zu verzweifeln und den Glauben aufzugeben, anstatt geduldig auf die Wiederkunft Christi zu warten. Dieses Warten, Leiden und auch Zweifeln, bleibt uns nicht erspart. "Wer aber ausharrt bis ans Ende, wird gerettet werden" (Mt 24,13).
Viele Grüße
Klaus