Die Würde des Menschen in der Pandemie
Ein Gastartikel von god.fish | 10/12/2020
In Deutschland herrscht derzeit ein sogenannter leichter Lockdown, der aber für Hotellerie, Gastronomie oder Kunstschaffende überhaupt nicht so leicht zu verkraften sein dürfte.
Es könnte also Stimmen geben, die fordern könnten, das Leben dürfe nicht derart eingeschränkt werden, dass Menschen ihre wirtschaftliche Grundlage verlieren könnten.
Zum einen sollte dies allerdings nur begrenzt der Fall in Deutschland sein, weil es staatliche Hilfen für viele Berufsgruppen gibt. Aber womöglich nicht für alle, zumindest vielleicht nicht für jeden Einzelfall.
Dennoch ist das Leben zum anderen mehr als nur das Vorhandensein wirtschaftlicher Grundlagen.
Man stelle sich einmal vor, die Restaurants, Kneipen, Pubs und Hotels sowie Kinos, Theater, Opernhäuser und Discos würden alle wieder öffnen, was im Gegenzug aber bedeuten würde, dass das Gesundheitssystem in Deutschland komplett kollabieren würde, weil mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit, wenn man sich einmal die Vergangenheit anschaut, die Infektionszahlen dadurch sehr steigen würden.
Nun ist der Begriff eines kollabierenden Gesundheitssystems aber zu abstrakt, als dass sich viele Menschen darunter wirklich etwas vorstellen könnten.
Deshalb muss man es konkret formulieren. Wenn das Gesundheitssystem kollabiert, würde das in der Pandemie bedeuten, dass zehntausende Menschen auf den Fluren von Krankenhäusern und alleine zu Hause an den Folgen von Covid-19 sterben würden, weil sie keine adäquate Behandlung bekämen, und zwar überproportional ältere Menschen, deren Immunsystem das Virus meistens viel schlechter verkraftet, als das von jungen Menschen. Die einen Menschen würden also gut verdienen und Party machen, während die anderen zu zehntausenden sterben würden.
Wie merken, das geht nicht. Es geht zumindest aus dem Standpunkt der christlichen Ethik heraus nicht. Denn ein Menschenleben ist nach christlicher Vorstellung nichts, was quantitativ mit anderen Menschenleben abgewogen werden könnte oder dürfte, sondern ein einziges Menschenleben ist absolut. Ein einzelner Mensch, der sterben würde, wäre schon ein Mensch zu viel.
Das deutsche Grundgesetz beginnt damit: die Würde des Menschen ist unantastbar.
I. Die Grundrechte
Artikel 1
(1) Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt.
(2) Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.
Nun sagte Bundestagspräsident Schäuble, als noch die erste Welle der Pandemie über Deutschland rollte, dass es natürlich nicht nur ein Grundrecht gibt, sondern unterschiedliche Grundrechte im Grundgesetz verankert sind und gegeneinander abgewogen werden müssten.
Dennoch muss man diese Aussage etwas relativieren. Denn beispielsweise das Grundrecht der Versammlungsfreiheit hat natürlich eine andere Qualität als das Grundrecht auf die Unantastbarkeit der Person, welche in der Würde des Menschen begründet liegt.
Die Unantastbarkeit des Menschen, die im Artikel 1 formuliert wird, ist nämlich die Voraussetzung für alle anderen Grundrechte. Nur, wenn das menschliche Leben nicht angetastet werden darf, kann sich der Mensch überhaupt irgendwo versammeln. Auch kann man das Grundrecht auf die Unantastbarkeit des Menschen nicht zeitweise aussetzen, wie das bei anderen Grundrechten möglich ist. Denn würde man das Leben eines Menschen antasten dürfen, wäre der Mensch danach womöglich tot. Anders dagegen bei der Versammlungsfreiheit. Dieses Grundrecht kann man einschränken und später wieder gewähren.
Wenn nun also Stimmen in der Pandemie fordern würden, dass beispielsweise alte Menschen angeblich weniger Rechte hätten, als junge Menschen, weil die Alten ja schon viel länger gelebt hätten, wäre dies der Versuch, Artikel 1 des Grundgesetzes auszuhebeln. Es wäre der Versuch, die Länge des menschlichen Lebens selbst definieren zu wollen.
Wir merken, dass dieses mit christlicher Ethik und mit dem Grundgesetz nicht vereinbar ist. Selbst, wenn man nicht die bereits gelebte Länge des Lebens für eine derartige Argumentation zugrunde legen wollte, sondern sagen würde, die Schwäche, die Menschen im Alter haben, wäre das Kriterium, dann befände man sich zum einen schnell in einem nationalsozialistischen Argumentationsmuster. Zum anderen würde dieses Argumentationsmuster sogleich wieder dadurch ausgehebelt werden, dass beispielsweise Kinder und Säuglinge auch schwach sind.
Die Würde des Menschen ist unantastbar in Deutschland. Dies muss sie auch unbedingt in der Pandemie bleiben, damit Deutschland ein Rechtsstaat bleibt. Und dies impliziert, dass andere Grundrechte wie die Versammlungsfreiheit zeitweise eingeschränkt werden können, um die Grundlage und Prämisse aller Grundrechte, die Unantastbarkeit der Würde des Menschen, unangetastet zu lassen.
Von god.fish
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Ethische Entscheidungen sind immer Güterabwägungen: Es ist ein Gut, dass der Einzelhandel offen ist, und es ist auch ein Gut, dass möglichst wenige Menschen erkranken und sterben. Die Güterabwägung besteht darin, dass ich entscheide, welches Gut mir wichtiger ist. Zugleich sind aber noch viele andere Güterabwägungen relevant. Das macht die Entscheidungen der Politik teilweise so schwierig, unübersichtlich und auch sprunghaft erscheinend. Denn verschiedene Menschen wägen die Güter unterschiedlich gegeneinander ab, akzentuieren eher das eine oder das andere und müssen ihre Entscheidung ändern, sobald sich die Situation (zu deren Verständnis wiederum die Statistik hilft) sich verändert hat.
dass hinter der Statistik die Einzelschicksale der Menschen stehen, sehe ich absolut genauso. Mein Gedanke war folgender: Statistik ist wichtig, aber überall dort, wo man sich nur noch auf die Statistik verlässt, findet notwendig eine "Reduktion" des Menschseins auf Zahlen statt, die im Kern bereits die Würde des Menschen in Frage stellt.
Auch ein reales Corona-Schicksal: Eine hochbetagte Frau, Diabetikerin, praktisch erblindet, erleidet vor Aufregung einen Schlaganfall und stirbt, nachdem sie ihr Pflegeheim (die "gewohnte Umgebung", auf die sie angewiesen ist) verlassen muss, als das Heim im Frühjahr aus Sorge vor Corona-Infektion geschlossen werden muss. Um so etwas zu verhindern benötigt es mutige Menschen mit Kreativität.
ich stimme dir darin zu, dass der Mensch nicht auf eine Zahl reduziert werden darf. Auch sollte Statistik nicht das einzige Kriterium sein. Darum habe ich auf andere Faktoren, die berücksichtigt werden müssen, schon hingewiesen. In dem von dir geschilderten Tod der alten Frau wären das z.B. auch psychologische Überlegungen: Was macht das mit der Seniorin, wenn das Pflegeheim geschlossen wird? Ich denke aber, dass solche Überlegungen auch in viele Entscheidungen einfließen. Es wird ja niemand leichtfertig ein Pflegeheim schließen, nur weil die Statistik sagt, dass Pflegeheime im allgemeinen stark von der Pandemie betroffen sind. Anders sieht es schon aus, wenn die Pandemie in einem bestimmten Pflegeheim ausgebrochen ist. Aber auch dann wird man abwägen müssen, ob das Heim einfach zu schließen ist oder ob es auch andere Wege gibt, weitere Ansteckungen zu vermeiden.
Ich hoffe, dass ich deine Fragestellung richtig verstanden habe. Wie gesagt: Keine Reduktion des Menschen auf bloße Zahlen, aber auch kein Ignorieren der Zahlen wäre wohl der richtige Weg, oder?