Die Vergänglichkeit – ein Übel?
Klaus Straßburg | 16/03/2021
Die Vergänglichkeit alles Lebens scheint uns ein Übel zu sein. Aber könnte sie nicht auch etwas Kostbares beinhalten? Könnte sie nicht – neben dem zweifellos tragischen Moment – auch etwas Frohmachendes für uns haben? Etwas, dessen wir geradezu gewürdigt sind und das wir deshalb auch würdigen sollten?
Paulus jedenfalls konnte sagen: „Für mich ist Christus das Leben und das Sterben ein Gewinn" (Phil 1,21). Das war keine rein theoretische Aussage eines kräftigen, gesunden Mannes, sondern das Wort eines Inhaftierten, der auf seinen Prozess wartete – mit unbekanntem Ausgang. Ein Todesurteil war nicht ausgeschlossen.
Nicht dass Paulus lebensmüde gewesen wäre. Er sieht durchaus die Vorteile eines Weiterlebens. Sie bestehen für ihn darin, dass er weiterhin anderen Menschen mit der Verkündigung des Evangeliums dienen könnte. „Was ich wählen soll (Leben oder Sterben), weiß ich nicht", schreibt er. Lieber würde er bei Christus sein, denn das sei bei weitem besser. Andererseits ist es um seiner Gemeinden willen notwendiger, dass er noch am Leben bleibt (Phil 1,22b.23).
Wir wachsen in einer Kultur auf, in der die Vergänglichkeit, soweit irgend möglich, verdrängt wird. Man verschließt, so gut es geht, die Augen vor ihr. Es wird als etwas Negatives betrachtet, das es nicht geben sollte. Was zählt, ist das Bleibende. Das Vergehende hat, sobald es vergangen ist, nur noch bedingte Bedeutung.
Von dieser Sicht sind wir geprägt. Leben ist Gegenwart, darum zählt eigentlich nur sie. Nach der Zukunft strecken wir uns aus, sie gibt der Gegenwart ihren Antrieb. Die Vergangenheit aber zählt nur insoweit, als sie auf die Gegenwart wirkt: positiv oder negativ. Wir haben sie hinter uns gelassen, auch wenn sie noch auf uns einwirkt.
Der kräftige, produktive, seiner selbst mächtige, selbstständig agierende Mensch ist geschätzt in unserer Kultur. Er schafft Werte und gilt darum als wertvoll.
Die Bibel setzt dem die Würde des Schwachen, Machtlosen, Angewiesenen, Empfangenden entgegen. Sie schätzt nicht nur den, der geben kann, sondern auch den, der empfangen kann. „Was hast du, was du nicht empfangen hast?" (1Kor 4,7)
Christlich verstanden ist unser Leben ein Weg zu einem Ziel hin. Mit jedem Schritt auf diesem Weg lassen wir etwas hinter uns. Wenn wir weitergehen wollen, dem Ziel entgegen, müssen wir etwas hinter uns lassen. Es gibt kein Weitergehen ohne Vergehen.
Das Wort „gehen" kommt her von einer indogermanischen Wurzel, die „klaffen, leer sein, verlassen, (fort)gehen" bedeutet (laut Duden-Herkunftswörterbuch). Wer geht, verlässt etwas. Wo etwas verlassen wird, entsteht eine Leere, klafft eine Lücke. Das Verlassene, das für uns nicht mehr da ist, schafft einen leeren Raum.
Dem versucht der moderne Mensch, so gut es geht, zu entgehen. Darum verstößt er das Vergehen aus seinem Bewusstsein. Das Leben wird mit immer neuen Inhalten gefüllt, um die Leere zu vertreiben.
Doch die Leere lässt sich nicht vertreiben. Sie bleibt, wird nur notdürftig überdeckt durch hektische, schreiende, glitzernde Aktivitäten.
Es ist besser für uns, die Leere positiv zu deuten. Wir gehen den Weg unseres Lebens von Station zu Station. Keine Station ist das Ziel, jede ist nur etwas vorübergehend Erreichtes. Ja, die Station selbst ist kein Haltepunkt, sondern das Weitergehen innerhalb eines begrenzten Gebietes. Denn es gibt auf dem Weg keine Haltepunkte. Es gibt nur das Weitergehen.
Wir gehen also von Station zu Station, gehen auch innerhalb der Stationen. Irgendwann müssen wir jede Station verlassen. Dabei entsteht Leere, die aber, recht verstanden, unser Weitergehen und damit unser Leben erst ermöglicht.
Ein Kind wird geboren. Es wächst heran, lernt dazu, gewinnt an Stärke und Fähigkeiten. Es verliert seine Hilflosigkeit und Angewiesenheit. So muss es sein, und so ist es gut.
Der erwachsene Mensch reift, baut ein Leben um sich herum auf, schafft Werte und pflanzt das Leben fort. Er verliert seine Kindlichkeit, Spontaneität und Unbedarftheit. So muss es sein, und so ist es gut.
Der alte Mensch erntet die Früchte seines Schaffens und profitiert von seiner Lebenserfahrung, vielleicht Weisheit. Zugleich verliert er an körperlicher Kraft, dann auch an geistiger Kraft und Eigenständigkeit, und er ist zunehmend angewiesen auf andere, die ihn stützen. Er wird mehr und mehr zum Empfangenden, auch wenn die Fähigkeit zum Geben nicht aufhört.
Spätestens dann wird das Vergehen überdeutlich und lässt sich nur noch mit viel Aufwand und Unehrlichkeit verdrängen. Demjenigen, für den es hinter dem Alter mit seinen Verlusten kein letztes Ziel gibt, geht die Zukunft verloren. Die Vergangenheit ist für immer verlorenes Leben, die Leere, die nicht mehr gefüllt werden kann, nimmt Überhand. Und die Gegenwart wird zum unüberwindlichen Übel.
Versteht man auch das Alter und seine Gebrechlichkeit als eine Station auf dem Weg zum Ziel, dann stellt es sich anders dar: Das Ziel liegt noch vor uns. Auch der alte Mensch hat Zukunft. Er kann sich nach ihr ausstrecken. Er muss die Leiden der Gegenwart ertragen, aber sie sind für ihn nicht das Letzte. Das Ziel des Lebens sind nicht die Verluste, die das Alter unweigerlich mit sich bringt. Auch die Gewinne des Altseins sind nicht das Ziel. Das Ziel des Lebens ist das Reich der Lebensfülle.
So versteht es die Christenheit seit jeher: „Ich denke nicht von mir selbst, es schon ergriffen zu haben (das letzte Ziel). Eins aber tue ich: Ich vergesse das, was hinter mir liegt, und strecke mich nach dem aus, was vor mir liegt. So eile ich dem Ziel entgegen, dem Siegespreis der Berufung nach oben, die durch Gott in Christus Jesus ergangen ist" (Phil 3,13f).
So gesehen ist das Alter die Chance, das Ziel entschieden in den Blick zu nehmen und ihm entgegenzueilen – nicht in einer Weltflucht, sondern in einem bewussten, aktiven, vielleicht sogar weisen Weitergehen auf das Ziel zu.
Das Alter ist eine Station auf dem Weg zu Ziel – sicher die letzte, wenngleich auch das Alter noch mehrere Zwischenstationen hat. Entscheidend ist das Weitergehen: das Verlassen des Alten und das Voranschreiten zum Neuen hin. So wie der ganze Weg nicht umsonst war, sondern der notwendige Weg zum Ziel hin, so ist auch die letzte Station nicht umsonst.
Was hinter denen liegt, die das Ziel erreichen, mag vergessen sein. Aber es ist nicht im Nichts versunken. Es ist ein Teil des Weges zum Ziel und darum ein Teil der Menschen, der mit ihnen das Ziel erreicht. Dann wird das Überflüssige und Schlechte endgültig vergehen, und das Gute wird bleiben in Ewigkeit.
Jeder Mensch ist gewürdigt, von Gott „nach oben" berufen zu sein, in das Reich vollkommener Lebensfülle. Welch eine Würde! Deshalb sollten auch wir es würdigen, dass das Gehen zum Ziel nicht ohne Vergehen möglich ist.
Vor diesem Hintergrund will ich versuchen, mir den Tod zum Freund zu machen. Ich weiß nicht, ob mir das gelingen wird. Immerhin nennt Paulus den Tod einen „Feind" – jedoch einen, der vernichtet werden wird (1Kor 15,26). Er bleibt also, wenn überhaupt, dann ein zwielichtiger Freund. Er nimmt uns alles, was wir haben – aber gerade so ermöglicht er es, dass wir den Weg zur Lebensfülle beschreiten.
Und sollte der Tod nicht mein Freund werden, dann kann er mir ja vielleicht so etwas wie „mein liebster Feind" werden – einer, mit dem es schwer auszuhalten ist, der es einem aber trotzdem ermöglicht, ein Ziel zu erreichen, das ohne ihn unerreichbar bliebe. Dass jedem Menschen der Weg zu diesem Ziel offen steht, sollten wir würdigen. Auch wenn das Beschreiten des Weges nur durch den Tod hindurch möglich ist.
In dieser Würdigung müssten wir auch unseres Vergehens froh werden, es als etwas Kostbares, einen Gewinn betrachten. Und den Gott preisen, der uns diesen Weg zum Ziel eröffnet.
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das ist ja ein schönes Bild mit der kalten Dusche. Die Dusche ist aber ziemlich kalt :-). Jedenfalls nicht angenehm. Man muss aber durch. Und man kommt sicher besser durch, wenn man weiß, dass es danach frische Kleidung gibt.
Ich sehe die neue Kleidung als ein Geschenk, dessen ich gar nicht würdig bin und mich auch nicht als würdig erweisen kann. Ich bin aber trotzdem gewürdigt, sie anzuziehen. Sie liegt sogar schon für mich bereit. Das einzige, was ich tun "muss", besteht darin, das zu ergreifen, dessen ich nicht würdig, aber von Gott gewürdigt bin. Und es wäre ja unbegreiflich, unvorstellbar dumm, geradezu krank, wenn jemand diese Würde, die ihm verliehen ist, in den Wind schlagen würde. Leider geschieht genau das.