Die Kriegslast in der Ukraine
Klaus Straßburg | 09/09/2022
Der Ukraine-Krieg steht inzwischen nicht mehr im Mittelpunkt der täglichen Nachrichten. Dennoch sterben dort weiterhin einige hundert Soldatinnen und Soldaten täglich – junge Männer und Frauen, die ihr Leben noch vor sich hatten. Eindrücklich ist die Dokumentation der Neuen Zürcher Zeitung über einige dieser jungen Menschen aus der Ukraine.
Der Westen unterstützt die Ukraine weiterhin mit Waffen. Auch viele Christinnen und Christen befürworten das.
Mir stellen sich dabei zwei Fragen:
- Müssten nicht alle, die solche Waffenlieferungen befürworten, dazu bereit sein, selbst an die Front zu gehen und russische, um die 20 Jahre alte Soldatinnen und Soldaten zu töten?
- Müssten sie nicht auch bereit sein, ihre Kinder und Enkelkinder im wehrfähigen Alter zum Töten an die Front zu schicken und sich dem Tod auszusetzen?
Krieg ist für uns etwas Abstraktes. Wir kennen ihn nur aus dem Fernsehen. Wer aber an der Front ist, für den ist der Krieg Realität. Dann sind es nicht Zahlen von Gefallenen, die bekanntgegeben werden, sondern Menschen, die getötet, verstümmelt, für ihr Leben gezeichnet werden: junge Menschen, die leben wollen, die diesen Krieg vielleicht auch nicht wollen, die man aber gezwungen hat, an der Front zu kämpfen.
Die Frage, ob wir dazu bereit sind, im Krieg zu kämpfen und zu sterben oder unsere Kinder kämpfen und sterben zu lassen, stellt sich für uns gegenwärtig nicht. Aber ich denke, wer die Ukraine bei ihrem Abwehrkampf unterstützen und ihr tödliche Waffen liefern will, müsste dazu bereit sein.
Wenn er dazu nicht bereit wäre, würde er die Grauen des Tötens und Getötet-Werdens den Ukrainern überlassen und ihnen nur die Mittel dazu bereitstellen. Er würde von anderen etwas verlangen, was zu tun er selber nicht bereit wäre.
Es ist immer leicht, vom sicheren Sessel aus ein Krieg führendes Land zu unterstützen. Vollkommen anders sieht es aber aus, wenn man selber in den Krieg ziehen oder seine Kinder in den Krieg entlassen muss. Dann fällt manche Entscheidung anders aus.
Jesus warf übrigens den Schriftgelehrten und Pharisäern seiner Zeit vor, es sich allzu bequem zu machen, wenn es darum ging, das zu tun, was sie für geboten hielten. Sie bürdeten zwar den anderen Menschen schwere Lasten auf, machten aber keinen Finger krumm, um diese Lasten selber zu tragen:
Sie binden schwere Lasten zusammen, die kaum zu tragen sind, und legen sie auf die Schultern der Menschen. Sie selbst aber wollen sie nicht mit ihrem Finger bewegen.
(Matthäus 23,4)
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Foto: smellypumpy auf Pixabay.
dem völkerrechtswidrigen Krieg Russlands gegen die Ukraine ging die völkerrechtswidrige Besetzung und Annexion der zur Ukraine gehörenden Krim durch Russland im Jahre 2014 voraus. Das wurde damals international kritisiert, aber Konsequenzen hatte es keine. Diese Appeasement-Politik ist gescheitert, wie schon früher in der Geschichte auch. Russland bzw. der russische Präsident Putin hat sich dadurch anscheinend ermutigt gefühlt, einen weiteren Schritt zu gehen und die Ukraine insgesamt anzugreifen.
Ganz am Anfang habe ich gedacht, es sei trotz allem besser, wenn sich die Ukraine nicht verteidigte. Egal wie dieser Krieg ausginge, das Resultat wären viele Tote und ein zerschossenes Land. Das nutzt weder Russland noch der Ukraine.
Da sich die ukrainische Regierung aber entschlossen hat, und das offenbar mit breitem Rückhalt in der Bevölkerung, für die Freiheit und Unabhängigkeit der Ukraine zu kämpfen, bin ich dafür, sie auch entsprechend auszustatten. Und zwar nicht mit fast oder ganz ausgemustertem Material, sondern mit solchem auf dem Stand der Technik. Bei allen Bedenken hinsichtlich einer Beteiligung Deutschlands auf diesem Territorium.
Eine Beteiligung mit deutschen Soldaten halte ich für nicht notwendig und auch nicht richtig. Die Ukraine ist nicht Mitglied der NATO. Anders sähe das aus, wenn Polen oder baltische Staaten angegriffen würden. Dann müssten auch Deutsche ran. Ich selbst würde gehen, wenn ich gezogen würde, mich evtl. sogar freiwillig melden, auch wenn ich vielleicht nicht der beste Soldat wäre (keine Ausbildung an der Waffe und längst jenseits des Zenits meiner körperlichen Leistungsfähigkeit). Ansonsten wären zunächst mal Berufssoldaten dran. Wenn wieder eine Wehrpflicht eingeführt würde, müssten auch meine Kinder mit ran, auch wenn ich es persönlich sehr bedauern würde und permanent Sorge um sie hätte.
Mit einer christlichen Sicht hat das alles nichts zu tun. Konsequent christlich wäre allein die komplette Verweigerung jeglicher Beteiligung an Kriegen. Dazu würde auch gehören, die Folgen zu akzeptieren, einschließlich des Rechts des Stärkeren und der Herrschaft totalitärer Systeme mit allen (!) Konsequenzen. Und dazu gehört auch der Verzicht auf den Anspruch auf Politikberatung, der meiner Kirche offenbar schwerer fällt als alles andere, trotz klarer Ansage Jesu: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt“.
In der Politik geht es nicht nur, aber auch und sehr wesentlich um weltliche Macht und den Gebrauch weltlicher Machtmittel. Leider ist, wie man sieht, bis heute Krieg ein Mittel der Politik geblieben.
Viele Grüße
Thomas
meine Einstellung zum Krieg in der Ukraine und zu den Waffenlieferungen kennst du ja, z.B. aus den Artikeln Der General und die Feindesliebe und Die EKD-Ratsvorsitzende zum Ukraine-Krieg. Das brauche ich deshalb nicht zu wiederholen.
Als Christ beurteile ich die Situation aus christlicher Sicht. Die konsequente Verweigerung jeglicher Beteiligung an Kriegen würde einem christlichen Pazifismus entsprechen, den ich nicht vertrete. Auch das habe ich in den genannten Artikeln dargelegt.
Ich sehe das Problem, dass die Ukraine ohne westliche Unterstützung möglicherweise schon von russischen Truppen überrannt wäre und ihre Souveränität verloren hätte. Dennoch halte ich es für christlich vertretbar und sogar naheliegend, den Weg der Gewaltlosigkeit in diesem konkreten Fall (nicht in allen denkbaren Fällen) zu wählen. Das würde einschließen, lieber selber zu leiden als selber zu töten. Solch einen Weg ist Jesus gegangen (wenn auch nicht in einer zwischenstaatlichen Auseinandersetzung), und die frühe Christenheit ist ihm darin gefolgt. Erst nachdem das Christentum unter Kaiser Konstantin Staatsreligion geworden war, hat auch die Kirche den Krieg als legitimes Mittel der Gewaltanwendung anerkannt. Der zeitliche Zusammenhang ist sicher kein Zufall.
Die Aufteilung der Welt in einen politischen Bereich und einen christlichen Bereich, wie es manche Vertreter der lutherischen Zwei-Reiche-Lehre nahelegen, halte ich für falsch. Meiner Meinung nach gibt es keinen Bereich des Lebens, der frei von christlicher Verantwortung wäre, zu dem christliche Ethik also nichts zu sagen hätte. Im christlichen Glauben geht es um den ganzen Menschen, in der christlichen Ethik daher um das Ganze des Lebens. Das hat nichts mit "Politikberatung" zu tun, sondern mit der Verkündigung des Evangeliums, das eben auch bestimmte Verhaltensweisen nahelegt und andere ausschließt. Insofern ist Jesu Reich in der Welt, wenngleich nicht von der Welt. Das, was nicht von der Welt ist, hat durchaus Relevanz in der Welt.
Mein obiger Artikel drückte ja nur aus, dass diejenigen, welche die Ukraine in ihrem Kampf unterstützen, auch bereit sein müssten, selbst für die Ukraine zu kämpfen und auch ihre Kinder im wehrfähigen Alter für sie kämpfen zu lassen. Das impliziert die Bereitschaft zum massenhaften Töten und auch zum Getötet-Werden. Es handelt sich hierbei zwar um eine hypothetische Überlegung, die aber meiner Meinung nach hilfreich ist bei der Entscheidung, ob man einen Krieg mit Waffenlieferungen unterstützt oder nicht.
Viele Grüße
Klaus