Die Götter der Ideen
Klaus Straßburg | 21/05/2020
Es wird behauptet, wir gingen einer religionslosen Zeit entgegen. Richtig ist: Der christliche Glaube spielt für immer weniger Menschen eine Rolle, und seit Jahrzehnten schrumpft die Anzahl der Kirchenmitglieder. Militante Atheisten kämpfen gegen alle Religionen, weil sie sie für schädlich halten. Sie hoffen auf eine aufgeklärte, von jedem Gottesglauben gereinigte Zeit.
Und doch gibt es Vieles, was sich zwar nicht Religion nennt, aber religiösen Charakter hat. Dazu zähle ich alles, was für absolut richtig und daher unhinterfragbar gehalten wird. Es gilt als unanfechtbar und braucht sich darum auch nicht mehr mit anderen Positionen auseinanderzusetzen.
Wir erleben es gerade, dass ganz unterschiedliche Menschen friedlich vereint gegen staatliche Maßnahmen in der Corona-Krise demonstrieren. Unter ihnen sind Links- und Rechtsradikale, verärgerte Normalbürger und Reichsbürger, Anhänger von Verschwörungstheorien und selbsternannte Gesundheitsexperten. Für sie alle ist klar, dass der Staat versagt und betrügt – sofern sie ihm überhaupt noch irgendeine Legitimation zusprechen. Die Auseinandersetzung mit Gegenpositionen lehnen die meisten ab. Für sie liegt ja auf der Hand, dass sie recht haben.
Ich meine damit nicht die von den Corona-Einschränkungen hart betroffenen und an ihre Grenzen kommenden Menschen, die ihrer Verzweiflung Ausdruck verleihen wollen.
Die meisten, die jetzt demonstrieren, haben aber wohl einen anderen Hintergrund. Ich habe schon vor Corona in Gesprächen erlebt, wie politische Konzepte absolut gesetzt werden und den Charakter unhinterfragbarer Wahrheit gewinnen. Dabei ist mir anschaulich bewusst geworden, was eine Ideologie ist: Das absolute Fürwahrhalten von Ideen, die nicht mehr hinterfragt werden.
Ich habe auch Menschen kennengelernt, für die Kunst einen quasi religiösen Charakter angenommen hat. Für solche Menschen gibt es nichts Wichtigeres, Sinnvolleres und Zukunftsweisenderes als Kunst.
Natürlich ist auch der christliche Glaube oder irgendeine andere spirituelle Haltung nicht vor ideologischer Verblendung gefeit. Die Kirchen- und Religionsgeschichte weiß davon viele Lieder zu singen.
Das führt mich zunächst zu der Feststellung: Unsere scheinbar religionsarme Zeit ist voll von Göttern; voll von Ideen, die für ihre Anhänger Absolutheitswert haben.
Daran hat sich offenbar seit Jahrtausenden nichts geändert. Paulus schrieb schon in seinem ersten Brief an die Gemeinde in Korinth, dass es viele Götter auf Erden gebe. Und er fährt fort: „Es gibt doch für uns nur einen Gott, den Vater, von dem alle Dinge sind und wir zu ihm" (1Kor 8,5f). Für Paulus also gibt es nur einen einzigen Grund und ein einziges Ziel unseres Lebens. Diesen Grund und dieses Ziel nennt er „Gott, den Vater". Wenn er Gott „Vater" nennt, meint er damit: Er ist ein fürsorglicher, liebevoller und vertrauenswürdiger Gott (er hätte ihn auch „Mutter" nennen können; Jes 66,13).
Menschen sehnen sich nach einem Grund und Ziel ihres Lebens. Nur wenn sie wissen, woher sie kommen und wohin sie gehen, können sie in ihrem Leben einen Sinn erkennen. Wer bin ich? Was soll ich hier auf der Erde? Wohin gehe ich, wenn dieses Leben endet? Diese Fragen suchen nach Antworten.
Darum fragten schon in biblischer Zeit die Israeliten nach Göttern, die ihnen diese Fragen beantworteten. Sie sagten nämlich nach Apg 7,40 zu ihrem Anführer Aaron: „Mache uns Götter, die vor uns herziehen sollen." Ergebnis war das Goldene Kalb (eigentlich ein Stier). Wenn Götter „vor uns herziehen sollen", besagt das: Sie sollen uns den Weg weisen und Orientierung bieten. Sie sollen uns sagen, woher wir kommen, wo wir stehen und wohin die Reise geht.
Solche Götter sind für die aufgeklärten Westler natürlich keine Standbilder mehr. An ihre Stelle sind feste, unhinterfragbare Ideen getreten, die von eigenen Wünschen und Gedanken genährt werden sowie von Internetblasen, in denen jeder sich selbst wiederfindet. Aufgeklärte Menschen machen sich keine möglichst unzerstörbaren Standbilder, sondern unzerstörbare Gedankenbilder, die sie verehren.
Nach Apg 19,26 hat Paulus in Ephesus verkündet, „was mit Händen gemacht werde, das seien keine Götter." Heute, wo die Götter nicht unserem Handwerk, sondern unserer Ideenwerkstatt entstammen, müsste er sagen: „Was mit euren Gedanken gemacht wird, das sind keine Götter."
Auf einem Hügel bei Athen, dem Areopag, hielt Paulus der Apostelgeschichte zufolge eine denkwürdige Rede (Apg 17,16-34). Er packt die Zuhörer bei ihrer Religiosität und versucht, sie zu dem einen Gott hin umzuleiten. Nach dem Motto: „Ihr seid doch sehr religiös, das Problem ist nur, dass ihr die falschen Götter anbetet" – nämlich die Standbilder in den Tempeln. Heute müsste er sagen: „Ihr betet die Gedankenbilder in euren Köpfen an."
Den Christ*innen in Galatien schrieb derselbe Paulus: „Damals, als ihr Gott nicht kanntet, dientet ihr als Sklaven den Göttern, die in Wirklichkeit keine sind." Und er ermahnt sie, nicht wieder in diese Götzenverehrung zurückzufallen (Gal 4,8-10). Es ging auch damals schon um die Gottesbilder in den Köpfen, die nicht frei machen, sondern in die Unfreiheit führen. Denn die Galater haben ihre christliche Freiheit aufgegeben und sich religiösen Vorschriften unterworfen (Gal 4,1-5). Mit anderen Worten: Religiöse Ideologie führt dazu, dass der ganze Mensch sich bedingungslos ihren Vorgaben unterwerfen muss. So verliert er das, was er sucht: seine Freiheit.
Was heute wichtig wäre, ist der Kampf gegen jede religiöse und säkulare Ideologie. Alles, auch das Natürlichste, kann zum Gott werden: Sport, Gesundheit, Sex, Ernährung, Konsum, Kreativität, Wissenschaft, Religion... All diese Dinge sind an sich nicht schlecht, sondern gut. Doch ein Mensch, der eins dieser Dinge als Gott verehrt, der ihm nachläuft und sich von ihm bestimmen lässt, ist nicht frei.
Dagegen ist der befreiende Glaube zu setzen. Der Glaube an den Gott, der nichts in Stein Gemeißeltes ist, auch nichts in die Gehirne Gemeißeltes, nichts Fixiertes, Unveränderliches und damit Unhinterfragbares. Er ist vielmehr der lebendige Gott, der „gestern und heute und in Ewigkeit derselbe ist" (Hebr 13,8) und uns dennoch in seiner immer gleichbleibenden Liebe jeden Tag anders begegnen und uns sogar fremd werden kann. Denn er ist kein Gedankenbild, sondern der in seiner Liebe Unergründliche, den wir immer neu kennenlernen müssen und der sich uns immer neu zu erkennen gibt.
Das (nach reformierter Zählung) zweite Gebot „Du sollst dir kein Gottesbild machen" (Ex/2Mo 20,4; Dtn/5Mo 5,8) bringt genau dies zum Ausdruck: Du sollst nach dem ersten Gebot den einen Gott anbeten, aber im zweiten Gebot wird sofort hinzugefügt: Die Gefahr dabei ist, dass du diesen Gott vereinnahmst und ihn nach deinem Bilde formst. Und schon hast du deine Freiheit verloren!
Denn nun hängt alles daran, dieses dein Gottesbild bis auf die Haut zu verteidigen. Das macht dich nicht nur unfrei, sondern zerstört auch die Beziehung zu deinen Mitmenschen.
Die Freiheit des christlichen Glaubens aber zeigt sich so:
- Du musst kein festes Bild von Gott im Kopf haben, sondern du vertraust darauf, dass Gott sich dir immer wieder neu zu erkennen geben wird.
- Du stehst zur Unvollkommenheit deiner eigenen Gotteserkenntnis und bist dir dennoch der Liebe dieses Gottes gewiss.
- Du weißt nicht, was kommt, aber du weißt dich in aller Unsicherheit und Unberechenbarkeit des Lebens in den guten Händen dieses Gottes.
Wenn es stimmt, dass religiös und ideologisch verblendete Menschen in unserer unübersichtlichen und unsicheren Welt einen Halt suchen, einen Grund und ein Ziel ihres Lebens: Müssten sich die Kirchen und ihre Mission nicht viel mehr diesen religiös-ideologisch verirrten Menschen zuwenden? Müssten sie nicht vermitteln, dass es eine Gewissheit gibt, die wir uns nicht selber verschaffen und sichern müssen, sondern die wir uns schenken lassen können? Und dass wir gerade in diesem unverfügbaren Geschenk Halt finden?
Es ist eine Gewissheit, die nichts Festes ist, sondern immer wieder auch in Frage gestellt wird. Eine Gewissheit, die der fragenden Vernunft nicht ausweicht, sondern sich ihr stellt und dennoch ihrer selbst gewiss bleibt. Und zwar deshalb, weil diese Gewissheit eben nicht in mir selbst gründet, sondern außerhalb von mir: in der Liebe dieses Gottes, der mich unabhängig von meiner eigenen Befindlichkeit und von der Qualität meiner Erkenntnis liebt und immer lieben wird.
Menschen suchen menschliche Sicherheit und absoluten Halt. Sie meinen, sie sich selber verschaffen zu müssen. Sie fixieren sich auf ihre Ideen und werden zu deren Gefangenen. Sie können es nicht aushalten, dass all unsere Sicherheiten brüchig sind. Dabei wäre es so einfach, die gesuchte Sicherheit und den gesuchten Halt in der unverbrüchlichen Liebe Gottes zu finden. Man müsste nur nicht mehr auf sich selber, sondern auf ihn vertrauen. Aber gerade das fällt uns so unglaublich schwer.
Paulus hatte auf dem Areopag in Athen wenig Erfolg (Apg 17,32-34). Aber er hat nicht aufgehört, für die „herrliche Freiheit der Kinder Gottes" zu werben (Röm 8,21). Darum sollten auch wir nicht aufhören, diese wunderbare Freiheit zu suchen und weiterzusagen.
* * * * *
es ist schon trauich, das die Religion benuzt wird von idiologen
der Fundamentalisten aller art. die nichts von nägstenliebe und Humanität
verstehen. die nur von strenge und Gehorsamkeit verlangen. die von einen disotischen Gott sprechen.
hir bei denke ich an das heitmische germanische Gedankengut der rechten idiologie, was leider
wieder ankommen ist.
wir christen und die in der liebe gottes sind so wie du klaus müssen wachsam bleiben.
die nägstenliebe und die Humanität darf niemals beseitigt werden.
"Weltweit den größten Wissensstand
gab es einstmals in Griechenland.
Gehören zwar die Philosophen
prinzipiell nicht zu den Doofen -
den Griechen muss man noch bekunden:
das Denken haben sie erfunden!
Denn weil im Denken Lücken klafften,
erfanden sie die Wissenschaften!
(… es folgt eine nett gereimte Aufzählung
diverser naturwissenschaftlicher und
philosophischer Fragestellungen ...)
Dies alles fragten die Hellenen.
Das war hier vorher zu erwähnen,
denn sonst kann man kaum verstehn,
dass die Weisen in Athen,
eben weil Verstand vorhanden,
das mit dem Christus nicht verstanden.
Die Lehre von dem Schöpfergott
brachte Erheiterung und Spott
und dass man Tote lebend macht -
da haben die sich totgelacht!
Paulus also in Athen!
Vorhang auf und bitteschön!"
Wenn selbst einer der größten Missionare aller Zeiten damals schon nicht durchdrang, brauchen sich die Kirchen heute nicht über ihre anhaltenden Schwierigkeiten zu wundern.
Thomas
das ist wirklich schwer zu sagen. Es gab zu allen Zeiten und auch heute viele Menschen, die geradezu Sehnsucht danach haben, sich jemandem zu unterwerfen, einem starken Mann vorzugsweise. Man sehe sich z. B. den Erfolg von Leuten wie Trump, Bolsonaro, Putin oder Erdogan an. Vermutlich identifiziert man sich gern mit deren Macht (sprich der Möglichkeit, andere gegen deren Willen zu etwas zu zwingen) und wünscht sich, dass etwas davon auf einen selbst übergeht, wenn man dazugehört.
Ein Evangelium der Liebe (sozusagen Anti-Macht) kommt bei diesem Typus aber wohl kaum an.
Auf der anderen Seite gibt es die Individualisten und Selbstverwirklicher. Mit einem ans Kreuz genagelten Messias und Ideen wie Nächstenliebe bis hin zur Selbstaufgabe kommst bei denen auch nicht weit.
Bei naturwissenschaftlich denkenden Menschen hast du, glaube ich, ein anderes Problem. Wer je mit Bewusstsein in einer klaren Nacht die Milchstraße gesehen hat, wissend, dass unsere Sonne nur ein Durchschnittsstern darin ist und es eine Vielzahl weiterer Galaxien gibt, bei dem hast du kein Problem mit Demut und dem Bewusstsein von etwas Größerem. Ebenso wenig dann, wenn er sich z. B. daran abarbeitet, die Entstehung von Leben zu begreifen. Du hast aber automatisch ein Problem, wenn du dem mit einem antiken Weltbild kommen willst, wo sich vermeintlich die Sonne um die Erde drehte, der Mensch die Krone der Schöpfung war, der Übergang von Königen zu Göttern fließend war und alles mögliche Menschliche hemmungslos auf Götter projiziert wurde.
Anders als Paulus auf dem Areopag bist du heute nur nicht der kuriose Außenseiter, über den man lacht. Aber wenn du mit offensichtlich unhaltbaren Wundergeschichten kommst, tippt man sich innerlich an die Stirn und geht.
Viele Grüße
Thomas
danke für deine Einschätzung. Die erste Gruppe, die du nennst, die sich gern mit einem Mächtigen identifiziert und an seiner Macht Anteil haben möchte, würde dann ja wieder auf eigenen Machtgewinn hinauslaufen, also das herbeisehnen, was ich "Herr im Hause sein" nannte. Die Unterwerfung dient dann nur der eigenen Machterweiterung. Die zweite Gruppe, Individualisten und Selbstverwirklicher, kann man auch so beschreiben, dass sie sich von niemandem reinreden lassen, sondern autonom entscheiden, also "Herr im Hause" sein wollen. Die dritte Gruppe der Naturwissenschaftler (wie du sie beschreibst) beharrt nur dann zu recht auf ihrem "Herr im Hause sein", wenn sie mit religiösen Thesen konfrontiert wird, die sie zur Aufgabe ihrer Vernunft zwingen würden. Solide Theologie wird das aber niemals tun, sondern die Vernunft (solange sie nicht fehlgeleitet ist) als eine gute Gabe Gottes schätzen.
So gesehen kann ich aufgrund deiner Analyse die Schwierigkeiten, dass das Evangelium sich durchsetzt, doch wieder auf das Wie-Gott-sein-Wollen zurückführen, nämlich darauf, letztlich nur sich selber zu vertrauen.
Viele Grüße
Klaus
was ich dir schreiben wollte, war, dass ich deiner These von der Selbstermächtigung des Menschen als Hauptgrund für die gegenwärtige Kirchen-, Verkündigungs- und Glaubenskrise insgesamt nicht zustimme, sie allenfalls für eine Teilerklärung halte.
Wenn du das so interpretieren willst, dass es doch wieder für dich passt, ist das deine Sache.
Viele Grüße
Thomas
P.S.: Und selbst Menschen, die ausdrücklich und ehrlich an Gott glauben, müssen deswegen noch lange nicht dem zustimmen, was ihnen in ihrer konkreten Kirche gepredigt oder sonstwie angeboten wird.