Die Gerichte der Liebe (Teil 1)
Klaus Straßburg | 11/08/2020
Das Thema der Gerichte Gottes ist wie eine Wanderung auf schmalem Grat: Die Gefahr des Absturzes zur einen oder zur anderen Seite ist groß. Entweder man malt bedrohliche Gerichte aus, hinter denen Gottes Liebe nicht mehr zu erkennen ist. Oder man verharmlost Gottes Gerichte in einer Weise, dass sie gar nicht mehr ernst genommen werden. Beides möchte ich vermeiden.
Was ich schreibe, ist ein Versuch, Gottes Gerichte zu verstehen. Ich habe die Wahrheit nicht gepachtet und gebe nur meine gegenwärtige persönliche Erkenntnis wieder. In einem Blogbeitrag kann ich auch nicht alle Fragen zu diesem Thema beantworten und alle Aspekte berücksichtigen. Ich möchte aber ein Gespräch eröffnen.
Darum bitte ich um Diskussionsbeiträge. Wenn du andere Aspekte einbringen möchtest, die dir in meinem Beitrag fehlen, dann bin ich dafür dankbar. Wenn du Widersprüche entdeckst oder anderer Meinung bist, schreib einen Kommentar, damit ich daraus lernen kann. Wenn du Fragen hast, teil sie mir mit, und ich werde versuchen, sie zu beantworten.
Nur gemeinsam werden wir uns der Wahrheit annähern. Darum ist dein Beitrag so wichtig.
Das Thema ist umfangreich und der Artikel deshalb so lang, dass ich ihn in zwei Teile aufgeteilt habe. Der erste Teil, den du gerade liest, befasst sich mit dem Ausgangspunkt meiner Gedanken und einigen Aspekten der Gerichte Gottes in der Weltgeschichte und in unserer persönlichen Lebensgeschichte. Der zweite Teil wird einen weiteren Aspekt dazu einbringen und sich dann dem sogenannten Jüngsten Gericht widmen. Beide Teile sind ungefähr gleich lang.
1. Einleitung
Der Gedanke an ein Gericht Gottes kann negative Gefühle und Ängste wecken. Vielleicht stecken dahinter auch Predigten oder Aussagen von Christ*innen, die das Gericht als massive Bedrohung für uns darstellten. Eine Bedrohung ist das Gericht aber nur für diejenigen, die sich der Liebe Gottes und einem entsprechenden Lebenswandel beständig widersetzen.Doch auch ihnen gilt Gottes Liebe, und sie haben immer die Möglichkeit, Gottes Einladung zum Glauben und Lieben anzunehmen. Auch der Gott, der Gericht über uns hält, ist kein anderer als der Gott, der uns liebt.
Es ist auch nicht so, dass jedes Unheil, jedes Leid, das uns trifft, ein Gericht Gottes über uns darstellt. Es gibt Unheil, es gibt Leid, für das wir keine Erklärung haben. Das hat Jesus eindeutig festgestellt (Lk 13,1-5). Hier geht es also nicht um jedes beliebige Leid, das uns widerfährt. Sondern es geht nur um das Leid, das die Folge eines verwerflichen menschlichen Handelns ist, auf das Gott reagiert.
2. Der Ausgangspunkt: Gott ist nichts anderes als Liebe
Nach dem Alten Testament hat sich Gott dem Volk Israel allein aus Liebe zugewandt und es aus der Sklaverei in Ägypten befreit (Dtn 7,7f). Und im Neuen Testament heißt es zweimal: „Gott ist Liebe" (1Joh 4,8.16). Dieser „Gott der Liebe" (2Kor 13,11) liebt die Welt so sehr, dass er sich in der Gestalt Jesu Christi selber in die Welt mit ihrem Leid begeben hat. Er hat das getan, um seinen Geschöpfen ein ewiges Leben ohne Leid zu schenken (Joh 3,16). In dem Menschen Jesus begegnet uns also die lebendige Wirklichkeit der Liebe Gottes – eine Liebe, die bereit ist, für die Geliebten zu leiden (Mk 14,24; Mt 26,28; Joh 13,1).
Jesus hat vor seinem Tod keine Scharen von Engeln herbeigerufen, um sich verteidigen und seine Verfolger töten zu lassen (Mt 26,51-53). Er hat es vorgezogen, seinen Verfolgern das Leben zu schenken und stattdessen sich selber ihnen auszuliefern. Er hat also die Fülle der Liebe gelebt, indem er sein Leben hingab, und zwar nicht nur für seine Freunde (Joh 15,13), sondern sogar für seine Feinde (Röm 5,10).
Wenn es stimmt, dass Gott nichts anderes als Liebe ist, dann muss man alles Handeln Gottes als Ausdruck seiner Liebe verstehen. All unser Reden von Gott muss dann bei seiner Liebe beginnen und mit seiner Liebe enden. Das gilt auch für das Reden vom Zorn und Gericht Gottes.
Es ist extrem wichtig, von dem Gott, der nichts anderes als Liebe ist, auszugehen. Man kommt zu falschen Gottesvorstellungen, wenn man Gott zwei unterschiedliche Gesichter gibt: ein Gesicht der Liebe und ein Gesicht des Zorns. Gott hat nur ein Gesicht: das Gesicht, das in all seiner Liebe auch zornig sein kann.
Aber wie kann man beides zusammendenken: Gottes Zorn und Gottes Liebe, Gottes verurteilendes Gericht über uns und seine rettende Liebe?
3. Gottes Gericht ist ein Ruf zur Umkehr
Im Alten Testament ist Gottes Gericht meist ein Ereignis innerhalb der Geschichte, also kein Gericht über den Menschen nach seinem Tod. Die Propheten kündigen immer wieder Gottes Gericht über Israel und seine Nachbarvölker an. Und zwar deshalb, weil sie sich von Gott abgewendet und ethisch versagt haben. Damit bringen sie Unheil über die Welt – und über sich selbst. Denn das Heillose, das Israel und die anderen Völker tun, hat Heilloses für sie selbst zur Folge. Gott wird das Unheil, das sie sich selbst bereiten, über sie kommen lassen.
Aber trotz des oft unausweichlich scheinenden Unheils, das die Propheten ankündigen, sprechen sie immer wieder auch von der Möglichkeit des Heils (vergleiche z.B. Jes 5,25-29 mit Jes 30,15 oder Jer 4,5-8 mit Jer 3,11-17).
Im Bild gesprochen: Wie der Bauer nicht nur drischt, sondern auch sät, so zerstört Gott nicht nur, sondern schafft auch neues Leben (Jes 28,23-29). Und Gott leidet selber darunter, wenn er Unheil über Israel oder ein anderes Volk kommen lässt, weil er es trotz seines Fehlverhaltens liebt (Jer 12,7-11; 48,30-36; Hos 11,8f).
Man kann fragen: Ist Gott in sich gespalten? Warum bringt er Unheil über Menschen, wenn er selber darunter leidet? Wie kann er diejenigen, die er liebt, dem Unheil preisgeben?
Für mich ist wichtig: Es geht im Gericht Gottes niemals darum zu zerstören. Sondern es geht immer darum, durch Beseitigung des Schlechten Gutes zu erreichen. Israel soll zur Besinnung kommen und von seinem heillosen Weg umkehren (z.B. Hos 2,14; 5,15). Gottes Gericht ist weder blinde Zerstörungswut noch sinnlose Strafe, sondern ein Ruf zur Umkehr. Ein Ruf zum Heil.
Wenn Gott den Menschen ruft, dann bedeutet das: Der Mensch kann diesen Ruf hören – oder auch nicht. Er ist keine von Gott gesteuerte Marionette. Er ist frei, von dem Weg abzuweichen, den Gott ihm weist und der gut für ihn ist. Gott wird den Menschen zwar immer wieder für den guten Weg zu gewinnen suchen. Aber wenn der Mensch partout den schlechten Weg gehen will, wird Gott ihn nicht davon abhalten. Gott betreibt keine Gehirnwäsche.
Also lässt Gott dem Menschen seinen Willen. Er lässt ihn ins Unheil laufen – auch wenn es Gott selbst wehtut, wenn er selbst darunter leidet, das Unheil mit anzusehen, das über den Menschen kommt. Und Gott ruft den Menschen zurück, damit er umkehre und es ihm wieder gut gehe.
Jede Mutter und jeder Vater müssen ihre erwachsenen Kinder laufen lassen. Sie können sie nicht zwingen, unheilvolle Wege zu meiden. Aber sie leiden darunter, wenn ihre Kinder diese Wege gehen. Und sie werden versuchen, sie dazu zu bewegen, eine besseren Weg zu gehen.
Doch nochmals gefragt: Ist es nicht lieblos, wenn Gott Menschen ihrem unheilvollen Weg überlässt?
Ich denke, dass Gott zuvor alles versucht, einen Menschen davor zu bewahren, den unheilvollen Weg einzuschlagen oder weiterzugehen (Jes 30,15-17; Jer 35,15). Doch was kann Gott tun, wenn der Mensch unbedingt diesen Weg gehen will? Wenn er sich gegenüber Gottes Überzeugungsarbeit verschließt? Zwang und Gehirnwäsche scheiden aus. Wer liebt, lässt dem Anderen seine Freiheit. Er zwingt ihn nicht und manipuliert ihn nicht.
So scheint mir nur eins zu bleiben: Er muss zusehen, wie der Andere sich sein eigenes Unheil bereitet. Wer liebt, wird aber an ihm festhalten und ihn immer wieder versuchen, vom guten Weg zu überzeugen.
So verstanden besteht Gottes Gericht darin, dass er die Menschen an ihr selbstgewähltes Geschick hingibt (Röm 1,24.26.28; Apg 7,42f). Es geht also nicht darum, dass Gott wie in einem Gerichtsurteil eine Strafe über Menschen verhängt. Sondern es geht darum, dass er die Menschen den Folgen ihres Handelns aussetzt. Die Menschen schaffen sich sozusagen selbst ihr Gericht (1Kor 11,29), das Gott dann auch ausführt. Wenn man so will, ist das die „Strafe" für das menschliche Fehlverhalten.
4. Gottes Gericht ist die Beseitigung des Bösen
Die Liebe kann es nicht akzeptieren, wenn geliebten Menschen Unrecht getan wird. Darum macht es uns zornig, wenn einem Menschen, der uns lieb ist, Unrecht widerfährt. Unser Zorn soll aber nicht selbst zum Unrecht werden (Ps 4,5a; 2Kor 12,20b.31; Eph 4,26; Jak 1,19). Das Zürnen soll kein unkontrollierter Gefühlsausbruch sein, sondern es soll aus der Liebe kommen und mit der Liebe enden.
In gleicher Weise gehört zu Gottes Liebe auch sein Zorn. Denn seine Liebe lehnt Unrecht und Unheil ab. Gottes Zorn ist aber missverstanden, wenn wir ihn mit dem gleichsetzen, was wir oft als Zorn erleben: eine emotionale Empörung, über die wir keine Kontrolle haben. Gottes Zorn ist anders: Er ist sein leidenschaftlicher Einsatz für seine geliebten Geschöpfe. Weil er seine Geschöpfe liebt, will er allem, womit sie Anderen und sich selber schaden, ein Ende bereiten.
Ich denke, ein solches Gericht könnte darin bestehen, dass Gott einem Menschen durch ein Ereignis vor Augen führt, dass er einem Anderen Unrecht tut. Es kann auch in einem Ereignis bestehen, das den Menschen daran hindert, weiterhin Unrecht zu tun. Und wenn ein Mensch sich absolut nicht zur Umkehr bewegen lässt, kann das Gericht auch bedeuten, dass Gott dem in sich verschlossenen und unverbesserlichen Menschen ein Ende bereitet.
Das ist vielleicht schwer zu akzeptieren. Aber ist es nicht so: In einer Welt, in der das Böse noch Macht hat, ist der Einsatz für die Geliebten immer auch ein Einsatz gegen die unverbesserlich Lieblosen.
Wir sollten deshalb Gottes Einsatz gegen Menschen nicht vorschnell verurteilen und fragen: „Wie kann ein liebender Gott seine geliebten Geschöpfe töten?" Denn wenn Gott die unverbesserlich Lieblosen gewähren lässt, sind wir schnell mit der Frage dabei: „Wie kann Gott das zulassen? Warum greift er nicht ein?" Denkt man so, dann kann Gott tun, was er will – es ist immer falsch.
Es bleibt die bedrängende Frage, warum Gott den unverbesserlich Lieblosen nicht jedes Mal ein Ende bereitet. Das aber ist ein anderes schwieriges Thema. An dieser Stelle kann ich nur feststellen, dass wir aus Gottes Liebe kein System machen können, nach dem Gott zu verfahren habe.
Wenn Gott die unverbesserlich Lieblosen vernichtet, stellt er Gerechtigkeit und Frieden her. Denjenigen, die verzweifelt ihr Recht einfordern, wird endlich Recht verschafft (Ps 7,9f; 26,1; 43,1f; 54,3-5; Lk 18,1-8). Insofern ist die Hoffnung auf Gottes Gericht ein Trost für alle, denen ihr Recht vorenthalten wird. In diesem Sinne kann Gottes Gericht in den Psalmen sogar bejubelt werden (Ps 96,10-13; 98,1-4.8f).
Versteht man das Gericht so, dann ist es kein Ereignis des Schreckens, sondern der Freude. Gott vernichtet nicht um des Vernichtens willen, sondern um des Friedens und der Gerechtigkeit willen – also um eines erfüllten Lebens willen.
Ich möchte noch drei Dinge betonen. Erstens: Ich erinnere daran, dass es in alldem um zeitliche Gerichte Gottes geht, nicht um das jenseitige „Jüngste Gericht". Es geht also hier noch nicht um das ewige Geschick des Menschen.
Und zweitens ist mir sehr wichtig: Wer sich nicht als unverbesserlich erweist, sondern offen ist für Gottes Rufe zur Umkehr, der muss Gottes zeitliche Gerichte nicht fürchten (auch wenn sie unangenehm sein mögen). Er kann sie sogar begrüßen, weil sie ihn zur Veränderung, zu einem Neuanfang bewegen. Und weil er der Liebe Gottes auch im Gericht gewiss sein kann.
Und drittens erinnere ich daran: Nicht jedes Leid, das dich trifft oder getroffen hat, ist ein Gericht Gottes. Grüble also nicht darüber, welches Gericht hinter deinem Leid stehen könnte. Es gibt für uns viel unerklärliches Leid, das kein Gericht Gottes ist.
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Ich glaube, dass die Ursache für eine unterschiedliche Sicht hier das jeweilige Bibelserständnis sein könnte. Ich habe das hier mal beschrieben: https://god.fish/2019/12/03/ist-die-bibel-gottes-wort-4/
Ich habe deinen interessanten Artikel gelesen. Im Bibelverständnis unterscheiden wir uns wirklich. Du vertrittst, wenn ich dich richtig verstehe, ein kanonisches Bibelverständnis. "Kanon" heißt ja "Richtschnur, Maßstab". Ich verstehe das so, dass die Bibel die Richtschnur unseres Denkens und der Maßstab für die Wahrheit ist - eingeschränkt nur durch Jesus Christus, der selber die Wahrheit in Person ist (Joh 14,6a). Insofern stimmt es, was Luther sagte, dass wahr ist, "was Christum (Akkusativ!) treibt".
Dass sich Schriftstellen widersprechen, sehe ich auch. Das kann aber meiner Meinung nach nicht heißen, dass wir uns von den einen oder anderen Schriftstellen einfach so verabschieden können. Gott wird, wie du in deinem Artikel schreibst, durch die Vielfalt der biblischen Perspektiven selber vielfältig. Aber Vielfalt heißt nicht, all das, was unser Verstand nicht einordnen kann, auszublenden. Ich würde es vielmehr an der Wahrheit, die Jesus Christus ist, messen. Auch das kann zu unterschiedlichen Ergebnissen führen, aber es ist etwas anderes als Ausblenden.
Dass die biblischen Autoren "frei ihre jeweilige Interpretation über Gott in ihren eigenen Gedanken aufschreiben durften", klingt für mich sehr nach Beliebigkeit. Darüber freut sich zwar der auf Selbstbestimmung bedachte neuzeitliche Mensch, aber es ist m.E. gerade kein Weg in die Freiheit, sondern in die Abhängigkeit von den eigenen Gedanken. Und die können, meine ich, kein Kriterium für die Wahrheit Gottes sein.