Die ersten Freigelassenen der Schöpfung
Klaus Straßburg | 23/09/2022
Bei uns in der Nähe gibt es ein Wespennest. Gestern fand ich auf dem Erdboden eine Wespe, die sich mit einem Gegenstand abmühte, der fast so groß war wie sie selbst. Ich vermute, dass es etwas aus dem Wespennest war.
Einige Minuten lang glaubte ich, die Wespe wolle ihre Last irgendwohin transportieren. Als sie aber keine eindeutige Richtung einschlug und sich immer noch zappelnd und hinkend mit ihrer Last abmühte, kam mir der Gedanke, dass sie vielleicht mit dem Gegenstand verklebt war.
Ich suchte mir ein Werkzeug und hielt damit den Gegenstand fest. Als das nichts nützte, schob ich mein Werkzeug vorsichtig in Richtung der Wespe, ohne sie zu verletzen, und so konnte ich sie tatsächlich von dem Gegenstand lösen.
Nun beobachtete ich neugierig, ob sie sich den Gegenstand zurückholen würde. Die Wespe aber wollte davon nichts wissen, putzte sich einige Sekunden und hob sich dann in die Lüfte, um davon zu fliegen. Ich konnte ihr noch einen Augenblick nachsehen und freute mich, sie von ihrer Last befreit zu haben.
Dieses Bild der Wespe, die sich eben noch zappelnd und hinkend am Boden abgemüht hatte und nun befreit in die Lüfte erhob, war für mich ein Sinnbild der Freiheit. Und ich musste an den christlichen Glauben denken, der uns nichts anderes als Freiheit sein will.
1. Freiheit von Glaubensleistungen
Wenn ich im Glauben lebe – und nur dann! –, dann fühle ich mich frei von jedem Müssen. Ich muss mich nicht im Glauben und in der Liebe bewähren, um von Gott anerkannt zu werden. Ich muss nicht dies und das glauben, damit Gott mich liebt, muss kein guter Mensch sein und meine Schuld verstecken, damit er mich annimmt. Das alles tut Gott, schon bevor ich irgendetwas gedacht oder getan habe.
Das einzige, was ich tun muss, um die schon vorhandene Anerkennung und Liebe Gottes auch zu spüren, ist: seine Anerkennung und Liebe für mich gelten lassen; im Bewusstsein leben (und es nicht nur theoretisch wissen), dass ich bei Gott unwiderruflich anerkannt und geliebt bin.
Wir müssen uns aber klarmachen, dass wir gerade an dieser Praxis des Glaubens immer wieder scheitern (siehe unten Punkt 4).
2. Freiheit von Angst und Sorge
In diesem Bewusstsein – und nur in Zeiten, in denen ich in ihm lebe! – bin ich frei von Angst und Sorge relativieren sich meine Ängste und Sorgen.
- Ich sorge mich nicht um den Sinn meines Tuns, denn ich vertraue darauf, dass Gott mich keine sinnlosen Weg führt, sondern meinem Tun einen Sinn geben wird.
- Ich habe kaum Angst vor dem Tod, weil ich weiß, dass seine Liebe mir auch im Tod noch gilt und er mir deshalb im Tod Leben schenken wird.
- Ich kann Krankheit und Leid gelassener entgegensehen, weil ich denke, dass Gott mir auch im Leid beistehen und mir Kraft geben wird, es zu ertragen. Natürlich möchte ich nicht leiden, natürlich weiß ich nicht, welche Leiden mir noch bevorstehen. Aber ich vertraue darauf, dass Gott mich nicht über die Maßen leiden lassen wird.
So kann ich der Zukunft freier entgegensehen, weil ich sie in Gottes Händen weiß.
3. Freiheit von weltlicher Anerkennung
Wenn ich in der Gewissheit lebe, dass ich von Gott unwiderruflich anerkannt bin – und nur in Augenblicken, in denen diese Gewissheit in mir ist! –, dann bin ich frei von der Beurteilung und Anerkennung meiner Mitmenschen. Ich bin frei von jedem Leistungs-, Erfolgs- und Zeitdruck, den man mir auferlegt oder ich selbst mir auferlege. Ich kann meinen Mitmenschen gelassen begegnen, weil ich weiß, dass mein Wert als Mensch, meine Menschenwürde, allein in Gott gründet und darum niemals verloren gehen kann – egal, was andere über mich denken und sagen.
Natürlich kann ich nicht gut leben ohne ein Minimum an Anerkennung durch meine Mitmenschen. Und ich werde den Druck, den sie mir machen, immer irgendwie spüren. Aber er relativiert sich oder kann sogar ganz verschwinden, wenn ich weiß, dass Gott mich nicht unter Druck setzt, sondern mich im Gegenteil ohne jede Leistung, ohne jeden Erfolg anerkennt.
4. Leben zwischen Glaube und Zweifel
Es gibt noch viele andere Freiheiten, die man im Glauben erlangen kann: Freiheit von Ideologien, Freiheit von Machtpositionen, Freiheit von Besitzstreben usw. So wie mir alles zur Fessel werden kann, so kann ich auch von allem befreit werden.
All diese Freiheiten habe ich aber nur in Zeiten, in denen ich tatsächlich im Glauben lebe, mich von Gott getragen weiß, mich in ihm geborgen fühle. Sobald der Glaube weicht, weicht auch die Freiheit, und ich bin wieder gebunden an die Lasten des Lebens.
Das Hauptproblem besteht darin, dass wir meist nicht im Glauben leben. Glaube ist Gottvertrauen und darum nicht eine Theorie, sondern eine Lebenspraxis. Ich lebe meist irgendwo zwischen einem überzeugten und einem zweifelnden Glauben. Theoretisch ist mir zwar klar, dass ich mich frei fühlen kann. Die Praxis des Glaubens aber sieht oft anders aus. Darum brauche ich Gott, der mir immer wieder neu erlaubt, der Erdenschwere des Zweifels zu entkommen und die Luft des Glaubens und der Freiheit zu atmen.
5. Die Wespe
Was für ein Bild: Die Wespe, die sich minutenlang mit einer Last quälte, die sie nicht loswerden konnte, die sie am Fliegen hinderte, die ihr Leben sinnlos machte und die wahrscheinlich ihren Tod bedeutet hätte – diese Wespe fliegt befreit in den blauen Himmel, kann das ihr bestimmte Leben leben, nutzt die ihr geschenkte Freiheit, um sich Nahrung zu suchen und ihre Aufgabe am Wespennest wahrzunehmen.
Mir wurde die Wespe ein Bild für die Freiheit des Glaubens: Im Glauben sind wir nicht hoffnungslos gebunden an die Lasten, die uns das Leben verleiden. Auch dann, wenn wir wild zappelnd und hinkend in den Tiefen des Lebens irgendwelche Lasten mit uns herumschleppen, wenn alles so sinnlos erscheint, wenn das Leben eine einzige Qual ist – auch dann müssen wir nicht verzweifeln. Denn im Glauben ist uns verheißen, dass am Ende eine Freiheit steht, die alle irdischen Lasten hinter sich gelassen hat.
Im Wissen um diese Verheißung relativieren sich die Lasten des Lebens schon jetzt. Denn die kommende Freiheit ragt bereits in die Gegenwart hinein, so dass wir, wenigstens ein Stück weit, zu freien Menschen werden können – "die ersten Freigelassenen der Schöpfung" (Johann Gottfried Herder).
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Foto: Sonja auf Pixabay (bearbeitet).
vielleicht ist die größte Freiheit die, sich in Gott geborgen zu wissen und sich fallen oder helfen lassen zu dürfen, wenn wir an und in der endlichen Existenz an die Grenzen stoßen. Für die Wespe warst du ein gott- oder engel-ähnliches Wesen das Rettung und Erlösung brachte.
was du beschreibst, ist sicher die größte Freiheit, nämlich die Freiheit zu glauben, die uns geschenkt wird und die die Grundlage ist für alle anderen Freiheiten.