Die Bibel ist kein Märchenbuch
Ein Gastartikel von Hans-Jürgen Caspar | 15/10/2021
Mir bekannte Atheisten bezeichneten die Bibel unter anderem als "Märchenbuch". Sie irren sich.
Märchen handeln von verzauberten Prinzen und Prinzessinnen, guten und bösen Feen, von dienstbereiten Flaschen- und Lampengeistern, sprechenden Tieren und vielem mehr, das es in Wirklichkeit nicht gibt. Die meisten Märchen gehen gut aus, bestimmt von der Hoffnung nach Rettung und ausgleichender Gerechtigkeit. In früheren Zeiten dienten sie zur Unterhaltung an langen dunklen Winterabenden und werden bis heute, vor allem von Kindern, immer noch gerne angehört und gelesen.
Biblische Geschichten sind anders. Sie gehen tiefer, enthalten Schweres, Trauriges, das nicht aufgelöst wird. Zwar gibt es auch bei ihnen Märchenhaftes, zum Beispiel Riesen (aber keine Zwerge), die wundersame Verwandlung von Wasser in Wein, die Verse 13-16 im 12. Kapitel der Johannes-Offenbarung und Teile des Buches Esther, doch bilden diese Stellen nicht den Hauptinhalt der Bibel wie bei einem Märchenbuch.
Die Heilige Schrift beschreibt den Glauben des Volkes Israel an Gott und sein Leben mit Ihm. Sie berichtet, zum Teil historisch belegbar, von häufig geführten Kriegen, von der Deportation und Vernichtung ganzer Völker, von Fehlhaltungen und Schicksalen einzelner, meist führender Persönlichkeiten. In hundertfünfzig, ein eigenes "Buch" in der Bibel bildenden Gebeten lobten und priesen Psalmisten Gott, dankten ihm, klagten oder baten um Hilfe. Propheten, nicht selten verfolgt und sogar umgebracht, tadelten die Herrschenden wie das einfache Volk, warnten und forderten zur Umkehr auf. Schon allein hierdurch enthält die Schrift eine Fülle an Lehrreichem und Nachdenkenswertem. Nebenbei wird dem Leser immer wieder bewusst, dass die Menschen in alter Zeit im Grunde genommen nicht viel anders waren und handelten als heute. Bei ihnen gab es, um nur einiges zu nennen, wie bei uns Leichtsinn, Egoismus, Hass, Verrat. Zusätzlich galten damals Sklaverei und Völkermord als etwas ganz Normales, die heutzutage international geächtet sind. Andererseits enthält die Bibel auch Beispiele von Großmut und uneigennütziger Hilfsbereitschaft, Güte und Barmherzigkeit.
Vor ungefähr zweitausend Jahren kam ein weiterer Glaube auf: an Jesus, einen besonderen Menschen als Mittler zwischen dem unsichtbaren Gott und uns auf Erden. Er lehrte, selbst beispielgebend, friedliches Zusammenleben, dazu Nächsten-, und sogar Feindesliebe*. Auf Betreiben einer in ihrer Macht bedrohten, eifersüchtigen Priesterschaft wurde er von den römischen Besatzern schuldlos zum Tode verurteilt und nach deren Brauch grausam umgebracht. Anschließend wurde er wieder lebendig und kehrte zu Gott zurück. Dies alles wird im neueren Teil der Bibel dargestellt und von vielen Millionen Menschen andachtsvoll geglaubt. Sie finden darin Halt und Trost.
Atheisten können sich das nicht vorstellen, sagen sie, und manche lehnen die Bibel radikal ab. Einer von ihnen schrieb mir sogar, sie müsse "verbrannt" werden. Das erinnerte mich an die Bücherverbrennungen unter den Nationalsozialisten vor gar nicht langer Zeit!
Der mir das schrieb, ist Mathematiker; deshalb ein paar Anmerkungen zu diesem Fach, das ich recht gut kenne. Wie die Glaubenslehre und speziell die Bibel enthält auch die Mathematik von Menschen Erdachtes, das es nicht wirklich gibt. Dazu gehören die Zahlen, quadratische Gleichungen, Differenziale, Vektorräume und vieles mehr. Sie existieren nur in den Köpfen, Gesprächen und Schriften derer, die damit zu tun haben. Auch enthält die Mathematik wie die Bibel unauflösbare Geheimnisse. Große Teile von ihr stützen sich auf die gut hundertfünfzig Jahre alte Riemann-Vermutung (RV), die bis heute nicht bewiesen werden konnte. – Dagegen wurde mit mathematischer Strenge (!) bewiesen, dass es in der Mathematik Aussagen geben muss, die weder wahr noch falsch sind und "unentscheidbar" genannt werden. Ob die RV zu ihnen gehört, ist nicht bekannt. (Wäre dies der Fall, könnte man die Suche nach einem Beweis abbrechen.) Die RV ist nicht die einzige unbewiesene Hypothese, und so steht manches in der Mathematik auf unsicheren Füßen. Dass sie als Ganzes trotzdem gut und sinnvoll ist, wird geglaubt.
Die Mathematik beruht auf Axiomen; das sind unbewiesene und unbeweisbare Annahmen, aus denen zusammen mit Definitionen, das heißt Begriffserklärungen, alles Weitere hergeleitet wird. Diesen Axiomen entsprechen Glaubenswahrheiten im religiösen Bereich. Deren höchstes ist, wenn man so will, und ohne dass es extra so genannt wird, der Glaube an die Existenz Gottes. – Und schließlich: das Vorhandensein unlösbarer Probleme in der Mathematik (als Folge der oben genannten Unentscheidbarkeit) hat seine Parallele bei den biblischen Wundern.
Aus alledem geht hervor, dass mehr Ähnlichkeiten und Zusammenhänge zwischen Mathematik und der Bibel bestehen, als mancher denkt. Daher ist es unvernünftig, die Heilige Schrift zu verdammen und sich ihr gegenüber erhaben vorzukommen. Gibt man bei einer Suchmaschine ein: "Mathematik und Bibel", werden viele Seiten zu diesem Thema angezeigt, die das unterstreichen.
Zum Abschluss noch eine Bemerkung: Aladdin und die Wunderlampe, Schneewittchen und die sieben Zwerge, Asterix, Pippi Langstrumpf haben nicht wirklich existiert; sie sind irreal, nur ausgedacht. Trotzdem hält man sie nicht für erlogen und ist böse auf sie, sondern freut sich an ihnen. Mit demselben Recht kann man der Bibel Achtung, ja Liebe entgegenbringen.
* Diese bedeutet nicht, dass man Feinden und denen, die einem schaden wollen, gleich um den Hals fällt und ihr Verhalten gut findet, sondern dass man sie zu verstehen sucht, ihnen verzeiht und "wohl will", für sie betet, dass sie sich ändern.
Von Hans-Jürgen Caspar.
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Erstens:
Die Behauptung, die Bibel wäre ein Märchenbuch, halte ich für polemisch und unzutreffend. Für mich ist die Bibel eine Sammlung von Glaubenszeugnissen. Als heilige Schrift (bewusst kleingeschrieben) mag ich sie allerdings auch nicht mehr bezeichnen; dafür steht mir zu viel Unheiliges darin.
Zweitens:
Deinen Vergleich zwischen Glauben und Mathematik finde ich nicht überzeugend. Mathematik ist eine Formalwissenschaft, Theologie eine Geisteswissenschaft und Glaube noch einmal ganz etwas Anderes.
Als Muster einer kritischen Sicht der Mathematik nehme ich mal die Gödelschen Unvollständigkeitssätze:
„Der erste Unvollständigkeitssatz besagt, dass es in allen hinreichend starken widerspruchsfreien Systemen unbeweisbare Aussagen gibt. Der zweite Unvollständigkeitssatz besagt, dass hinreichend starke widerspruchsfreie Systeme ihre eigene Widerspruchsfreiheit nicht beweisen können.
Durch diese Sätze ist der Mathematik eine prinzipielle Grenze gesetzt: Nicht jeder mathematische Satz kann aus den Axiomen eines mathematischen Teilgebietes (zum Beispiel Arithmetik, Geometrie und Algebra) formal abgeleitet oder widerlegt werden.“
(Zitat Wikipedia)
Ich bin kein Fachmathematiker, habe aber aber die Mathematikkenntnisse eines Ingenieurs. Auf dieser Ebene passt in der Mathematik alles gut zusammen, und Mathematik ist ein ausgesprochen brauchbares und zuverlässiges Werkzeug. Erst am Ende der Fahnenstange erklären einem Mathematiker, dass es da ein paar Ecken gibt, wo sie prinzipiell nicht beweisfähig sind.
Bei Glauben und Theologie sieht die Sache ganz anders aus. Zunächst glaubt man als Kind dem, was einem da in Kirche und Elternhaus vorgestellt und hoffentlich vorgelebt wird und als Konfirmand vielleicht auch noch dem System, das einem da präsentiert wird. Wenn man anfängt, unbegleitet und kritisch die Bibel von vorne bis hinten ohne Auslassungen zu lesen, stößt man zwangsläufig auf Widersprüche und Ungereimtheiten. Pfarrer und Theologen sind Meister darin, diese wegzuerklären oder verbal zu umschiffen, aber irgendwann platzen sie doch auf. Am Ende kommen Aussagen wie die folgenden von prominenten Theologen:
„Wir sollen als Theologen von Gott reden. Wir sind aber Menschen und können als solche nicht von Gott reden. Wir sollen Beides, unser Sollen und unser Nicht-Können wissen und eben damit Gott die Ehre geben“ Karl Barth, zitiert nach Evangelische Jugend Oldenburg.
„Einen Gott, den ‚es gibt‘, gibt es nicht.“ Dietrich Bonhoeffer, zitiert ex Gedächtnis.
Der Unterschied zwischen einem „nicht jeder mathematische Satz ist beweisbar“ und einem „wir können nichts über Gott aussagen“ ist für mich so groß wie der zwischen Tag und Nacht. Deswegen überzeugt mich dein Vergleich in keiner Weise.
Viele Grüße
Thomas
Mathematik und jüdisch-christlicher Glaube haben in meinen Augen manches gemeinsam. Darauf wollte ich hinweisen, weil es oft übersehen bzw. nicht gewusst wird.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
ein kleiner Nachtrag:
Besonders stark wird der Zusammenhang zwischen dem Glauben und der Mathematik bei Baruch de Spinoza (1632-77) sichtbar. Im Sinne von Euklid dachte er "more geometrico" über Gott nach. Und im 20. Jahrhundert versuchte der von Dir zitierte Kurt Gödel mit Hilfe der mathematischen Logik einen formalen Gottesbeweis, der ihm allerdings nicht recht gelang.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
hier ein m. E. interessantes Beispiel eigentlich zum Selberprobieren: 1752 schreibt der Mathematiker Goldbach an Euler, er hätte ein neues Theorem gefunden, wonach sich jede ungerade Zahl z=2n-1 (dabei ist n eine ganze Zahl) durch eine Primzahl p und das doppelte einer Quadratzahl a*a ausdrücken lässt: z=p+2*a*a, also z. B. 17=17+2*0*0, oder 21=19+2*1*1 oder 27=19+2*2*2 usw.
Euler schreibt zurück, er habe die Vermutung überprüft und findet sie bis 2500 bestätigt.
1856 haben der Göttinger Mathematiker Stern und dessen Studenten alle Zahlen bis 9000 untersucht und gefunden, dass es für a>0 Primzahlen gibt, die die Vermutung nicht erfüllen: 17,137,227,977,1187,1493. Ausserdem gibt es zwei weitere ungerade Zahlen, nämlich 5777 und 5993, die die Vermutung nicht erfüllen (Laurent Hodges, Iowa State Univ., Ames-Lab: "A lesser known Goldbach conjecture"). Man nennt diese Zahlen auch Stern-Primzahlen bzw. Stern-Zahlen.
Das Besondere daran ist nun folgendes: die Reihe der Stern-(Prim)zahlen bricht ab! Hodges schreibt, er habe für den Zahlenraum bis 1 Million untersucht und keine weiteren Beispiele gefunden. Ich selbst habe auf unserem Rechencluster bis 10 Milliarden gesucht und keine weiteren Beispiele gefunden. Der Grund dafür ist, dass die Zahl der Kombinationsmöglichkeiten für große Zahlen stark zunimmt, allerdings ist das eher eine statistische Beobachtung. Dadurch entsteht aus meiner Sicht folgende interessante Situation: Man kann die Goldbachvermutung (für a>1) nicht allgemein beweisen (denn es gibt ja Gegenbeispiele). Andererseits scheint die Vermutung für Zahlen größer als 5993 auf empirischer Basis und aus statistischen Erwägungen tatsächlich zu gelten.
Ich mache das natürlich nicht um zu zeigen, dass mit der Mathematik unbrauchbar oder unzuverlässig sein könnte (wie @Thomas erwägt) - ich gehe ja jeden Tag mit großer Freude damit um. Es ist, wie ich finde, ein einfaches und trotzdem lehrreiches Beispiel für die Gefahr einer vorschnellen Verallgemeinerung bei der Suche nach Gesetzmäßigkeiten.
In Bezug zu Gemeinsamkeiten zwischen Glauben und Mathematik sehe ich es so: Ich habe es schon als Physik-Student immer so empfunden, dass Joh. 1 (Im Anfang war das Wort..) auch eine naturwissenschaftliche Saite in mir anschlägt, ein Fundament für alles was ist. Ob man nur deswegen gläubig wird, würde ich bezweifeln, aber es ist ein möglicher Zugang. Ausserdem: Mathematiker gehen mit Objekten um, die nicht substanziell sind, und dennoch vernünftig sind und etwas mit dieser Welt zu tun haben. Eigentlich ein furchtbarer Gedanke für alle radikalen Materialisten.
zu deinen mathematischen Ausführungen kann ich leider gar nichts sagen. Ich betrachte die Mathematik - wie alle Naturwissenschaften - auch nicht als unbrauchbar oder unzuverlässig. Dennoch finde ich interessant, dass es auch bei dieser wohl Exaktesten aller exakten Wissenschaften logisch Unerklärliches gibt.
für mich stellt sich die Sache so dar: Goldbach hat eine Vermutung geäußert, die klar widerlegt wurde, weil man entsprechende Zahlen gefunden hat. Man kann jetzt natürlich noch weitersuchen, ob es bei höheren Zahlen ab einer bestimmten Grenze keine Ausnahmen mehr gibt, aber eigentlich hat die Goldbach-Vermutung für mich schon dadurch ihren Reiz verloren, dass sie nicht allgemeingültig ist. Allenfalls könnte ein Mathematiker seine Fähigkeiten im Beweisen zeigen, wenn es ihm gelänge, einen theoretischen Nachweis zu führen, dass es ab einer bestimmten Grenze keine Ausnahme mehr geben kann. Intuitiv halte ich das für sehr schwierig bis unmöglich.
Interessant finde ich, dass Euler die Zahlen bis 2500 offenbar doch nicht oder nicht fehlerfrei überprüft hat.
Außerdem ist 0 als Basis für die Quadratzahl offenbar nicht zulässig, sonst hätten Stern und seine Studenten die 17 wohl nicht benannt und ebensowenig die 137, die ebenfalls eine Primzahl ist.
Viele Grüße
Thomas
ich vermute es ist so, dass Stern erst richtig die Bedeutung des Problems erkannt hat, wenn man anders als Goldbach nur den Fall a>0 betrachtet. Dass die Reihe der Stern-(Prim)zahlen abreist halte ich (und viele andere Forscher) allerdings aus den genannten Gründen für sehr interessant. Es ist wirklich ein schönes Beispiel für induktive Fehlschlüsse. Technologisch kann man es darüberhinaus auch als Benchmark für alle Arten von Computer, sehr große bis ganz kleine, verwenden.
ein einfacheres Beispiel für fehlerhaftes induktives Vorgehen ergibt sich beim Klick auf meinen Namen oben links.
Viele Grüße
Hans-Jürgen
vielen Dank für den Link, ich würde sagen, das Problem ist gut verständlich, die Lösung dürfte es in sich haben :-)