Christsein Verstehen - Christsein verstehen

verstehen

Theologische Einsichten für ein gutes Leben

Christsein

Christsein
verstehen
Theologische Einsichten für ein gutes Leben
Direkt zum Seiteninhalt

Der Turmbau zu Babel heute

Christsein verstehen
Veröffentlicht von in Ethik · 21 August 2024
Tags: PolitikKulturEthikNachhaltigkeitWirtschaftsordnungMaßlosigkeitWirklichkeit

Der Turmbau zu Babel heute
Eine biblische Gesellschaftskritik
Klaus Straßburg | 21/07/2024

Im Alten Testament wird eine seltsame Geschichte erzählt: Die Menschheit – "alle Welt", so heißt es – sprach ein und dieselbe Sprache und wurde sesshaft im Land Sinear, im heutigen Irak. Dort bauten die Menschen mit gebrannten Ziegelsteinen unter Verwendung von Asphalt als Mörtel eine Stadt. Die Krönung der Stadt aber sollte ein Turm sein, der bis an den Himmel reichte. Mit diesem Bauwerk wollten die Menschen sich einen Namen machen, um durch diesen Ruhm ihre Einheit zu bewahren.

Doch Gott "stieg herab", wird erzählt, um Stadt und Turm zu betrachten. Man beachte die feine Ironie: Gott muss vom Himmel herabsteigen, um die Stadt und den Turm, der doch bis an den Himmel reichen sollte, überhaupt sehen zu können. Und Gott sprach, offenbar entsetzt über das menschliche Treiben: "Die Menschen sind ein einziges Volk mit einer einzigen Sprache – nun wird ihnen nichts mehr unmöglich sein."

Um dem alles ermöglichenden Handeln der Menschen einen Riegel vorzuschieben, verwirrte Gott die Sprache der Menschen, damit sie einander nicht mehr verstehen. Infolge dieser Sprachverwirrung verlor die Menschheit ihre Einheit und zerstreute sich über die ganze Erde, so dass sie die Stadt nicht weiterbauen konnte. Der Name der Stadt aber war Babel – ein Wort, das im biblischen Hebräisch ähnlich wie das Wort "verwirren" klingt.


Die Stadt Babylon könnte auch Peking, Moskau oder Washington heißen

Die Geschichte bildet den Abschluss der Erzählungen im ersten Buch der Bibel, 1. Mose bzw. Genesis Kapitel 1 bis 11. Die dort versammelten Geschichten sind nicht als historische Berichte zu verstehen. Es geht in ihnen um viel mehr: um Fundamentalaussagen über das Wesen der Menschen – aller Menschen. Was dort über das menschliche Wesen gesagt wird, gilt also auch von uns, die wir im 21. Jahrhundert leben.

Die Stadt Babylon, die dort genannt wird, könnte auch Peking, Moskau oder Washington heißen. Das babylonische Reich war zu biblischen Zeiten eine Weltmacht, deren Unterdrückung Israel grausam erfahren musste. Darum verlegt die Erzählung die Zerstreuung der Menschheit an diesen Ort. Denn auch das scheinbar unbezwingbare Imperium der Babylonier zerfiel, wie bislang alle Weltmächte auf Erden früher oder später untergegangen sind.

Die Erzählung bietet keinen optimistischen Ausblick auf die Weltgeschichte. Nachdem das erste Buch der Bibel zunächst die individuelle Dimension der Gottlosigkeit und Unmenschlichkeit ausführlich ins Auge gefasst hatte – Adam und Eva, Kain und Abel –, kommt mit der Sintflut und dem Turmbau zu Babel die weltgeschichtliche Dimension in den Blick. Danach erst wird die Geschichte Israels im Rahmen dieser Weltgeschichte und des Wirkens Gottes in ihr dargestellt.

Die Erzählung vom Turmbau zu Babel ist – neben dem Versuch, die Sprachenvielfalt zu erklären – eine Geschichte vom maßlosen menschlichen Streben nach Ruhm und Einheit. Der Ruhm soll durch den Einsatz technischer Fertigkeiten errungen werden: das Brennen von Ziegelsteinen und die Nutzung von Asphalt als Mörtel. Diese Fertigkeiten erlauben es dem Menschen, ein weithin sichtbares Zeichen seiner Macht zu errichten. Mit diesen Errungenschaften schickt sich die Menschheit an, den Himmel zu erklimmen oder, anders gesagt, den Himmel auf die Erde zu holen: "Seht, nichts ist uns versagt: Wir bauen ein Reich, in dem wir himmlisches Leben ermöglichen". Das ist das kulturelle Versprechen des technologiegeprägten Fortschrittsglaubens.


Der eigene Ruhm und Machtgewinn hat fast immer einen grausamen Preis

Was ist eigentlich dagegen einzuwenden? Warum unterbindet Gott diesen Fortschritt, der doch das Leben auf der Erde nur angenehmer machen will? Was hat Gott gegen die Einheit der Menschheit?

Er hat sicher nichts gegen Einheit, wenn damit Einigkeit gemeint ist. Was das babylonische Imperium betrifft, kann jedoch von Einigkeit keine Rede sein. Wie bei allen Weltreichen war die Einheit eine erzwungene, mit viel Blut erkämpfte. Ein Opfer des babylonischen Machtstrebens wurde Israel selbst. Das babylonische Exil hat sich tief ins israelische Bewusstsein eingebrannt. Es ist erstaunlich, dass es in der Geschichte vom Turmbau mit keinem Wort auch nur angedeutet wird. Aber es war jedem Lesenden in Israel präsent. Hier müssen wir zwischen den Zeilen lesen.

Die Weltmacht Babylon gründete ihre Macht und ihren Wohlstand auch darauf, dass sie Teile der Bevölkerung unterdrückter Staaten deportierte und für sich arbeiten ließ. Wer also hat den Turm gebaut? Wer hat die Steine geklopft und die Ziegel gebrannt? Wer hat sie zum Turm und auf ihn hinauf befördert? Wie viele haben dabei ihr Leben gelassen? Darüber gab und gibt es keine Aussagen.

Die Fragen kann man gleichermaßen an die Erbauer der großen christlichen Kathedralen stellen. Schon immer wurde versucht, den Lohn niedrig zu halten. Hilfskräfte wurden oft als Tagelöhner beschäftigt, Arbeitssicherheit im heutigen Sinne gab es nicht. Auch beim Bau christlicher Kathedralen sind Handwerker zu Tode gekommen. Der eigene Ruhm und Machtgewinn hat fast immer einen grausamen Preis.

Das ist heute nicht anders als zur Zeit Babylons, wenn auch in anderer Weise. Wir profitieren ein Stück weit von Arbeitsrecht, Mindestlohn und anderen sozialen Rechten. Sklavenhandel und Leibeigenschaft sind abgeschafft, und selbst der Umgang mit Kriegsgefangenen ist völkerrechtlich geregelt. Dennoch gibt es weiterhin zahlreiche Opfer maßlosen Machtstrebens und materiellen Überflusses.


Das menschliche Problem besteht darin, das rechte Maß zu finden

Im 20. Jahrhundert nahmen der technologische Fortschritt, die Produktion von Gütern und damit der Wohlstand in vielen Teilen der Welt einen nie gekannten Aufschwung. Die Wirtschaftsleistung stieg im 20. Jahrhundert um das Vierzehnfache, die industrielle Produktion um das Vierzigfache. Zugleich wurde allein im 20. Jahrhundert mehr Energie verbraucht als in der ganzen Menschheitsgeschichte zuvor1.

Die Verlierer dieses Prozesses treten erst einige Jahrzehnte später zutage. Durch die Folgen des immensen Energieverbrauchs steigen die Meeresspiegel. Menschen verlieren ihre Heimat, wie zum Beispiel die indigene Bevölkerung der Insel Gardi Sugdub in Panama, die auf das Festland übersiedeln muss. Das wird in Zukunft vielen Inselbewohnern so gehen. Der babylonische Größenwahn fordert schon heute seinen Preis.

Und das ist nur der Anfang. Erst die kommenden Generationen werden die Folgen des Klimawandels in seiner ganzen Härte zu spüren bekommen.

Wie in der Turmbaugeschichte ist Maßlosigkeit das Problem. Niemand hat etwas gegen lebensförderlichen Fortschritt, angemessenen Wohlstand und entsprechende kulturelle Errungenschaften. Das menschliche Problem besteht jedoch darin, das rechte Maß zu finden. Wenn wir einmal angefangen haben, können wir offenbar nicht mehr aufhören. Was wir zu tun in der Lage sind, müssen wir auch umsetzen. Es gibt im wahrsten Sinne des Wortes keinen Halt und kein Halten mehr. Darauf weist uns die Turmbaugeschichte hin.

Die deutsche Wirtschaftswundergeneration hat in ihrem Leben gelernt, dass der materielle "Wohlstand" nur eine Richtung kennt: nach oben. Das Bruttoinlandsprodukt hat sich seit 1950 in Deutschland verachtzigfacht2. Eine zuvor nie dagewesene Steigerung des Besitzes und Vermögens hat vielen das Bewusstsein eingeprägt, dass wir alles haben können, was wir haben wollen, und zwar sofort. Zwar gibt es soziale Bruchstellen, die sich seit einigen Jahrzehnten immer deutlicher zeigen; aber sie können noch einigermaßen unter dem Teppich gehalten werden.

Diese Verfügungsgewalt über alles, was das Herz begehrt, wird als die große Freiheit gepriesen3. Wer über ausreichende Liquidität verfügt, kann alles bekommen. Und wegen des offenbar vorhandenen Zwangs, alles, was zu haben möglich ist, auch tatsächlich zu haben, findet die Wunschliste niemals ein Ende.

Wir nennen die Maßlosigkeit dieser immer nach oben weisenden Konsum- und Wirtschaftskurve sehr geschickt "Wachstum" – obwohl hier nichts wächst, vielmehr die über Jahrtausende gewachsenen natürlichen Ressourcen geschrumpft werden. Ohne dieses "Wachstum" von Produktion, Wirtschaftsleistung, Konsum und Besitz funktioniert das marktwirtschaftliche System nicht. Und da es kein Wirtschaftswachstum ohne Ausbeutung der natürlichen Ressourcen gibt, ist auch diese Ausbeutung exponentiell angestiegen.

Weil die meisten Menschen von dieser Ausbeutung der Natur durch immer neuen Konsum offensichtlich nicht lassen können, ist das, was als Freiheit gepriesen wird, in Wahrheit eine Gefangenschaft, aus der es kein Entrinnen gibt. Ein anderes Wort für maßlosen Konsum ist Gier. Diese unterstellen wir gern irgendwelchen Finanzjongleuren, ohne zu merken, dass die Gier uns selbst fest im Griff hat.


Christliche Aspekte haben es schwer, sich durchsetzen,
weil der Wachstumsglaube selbst zur Religion geworden ist

Gier ist übrigens nicht deshalb schlecht, weil sie immer mehr will, sondern weil sie immer auf Kosten anderer geht. Das wusste schon die alttestamentliche Spruchweisheit (Spr 28,15):

Der Habgierige erregt Streit; wer aber auf den Herrn vertraut, wird reichlich gelabt.

Hier wird gesehen, dass Habgier Streit um die knappen Ressourcen erzeugt. Schon heute geht es in Kriegen nicht selten um Bodenschätze. Manche sprechen davon, dass die Kriege der Zukunft um knappe Ressourcen geführt werden. Die Bibel setzt der Gier nach Gütern eine Haltung entgegen, die von Gott alles Lebenswichtige erwartet – und auch reichlich erhält. Das befreit von der Angst, zu kurz zu kommen. Und es ermöglicht, der Gefangenschaft in Gier und Überkonsum zu entkommen und Kriege zu vermeiden.

Doch christliche Aspekte haben es schwer, sich durchsetzen, weil der Wachstumsglaube mit  seinen Heilsversprechen selbst zur Religion geworden ist: Das vom Menschen entwickelte System des Wirtschaftens, das vom Wachstum lebt, erschafft permanent Menschen, die unendliches Wachstum generieren wollen, als lebten sie in einer unendlichen Welt, also sozusagen im Himmel. Und wenn wir leben, als hätten wir den Himmel mit seinen unendlichen Ressourcen an Glücksverheißungen auf die Erde geholt, gebärden wir uns wie Götter. Womit wir wieder bei der Turmbaugeschichte wären und bei Adam und Eva, die auch wie Gott sein wollten (1Mo/Gen 3,5).

Das Schlimme daran ist gar nicht so sehr der Wille, wie Gott zu sein. Das Schlimme sind vielmehr die ganz irdischen Folgen, die auftreten, wenn diejenigen, die keine Götter sind und niemals Götter sein werden, sich gebärden, als wären sie welche. Denn die, die keine Götter sind, sich aber als solche aufspielen, können das nur auf Kosten der anderen Geschöpfe: Das meiste, was der Planet Erde bietet, wird von dem kleinen Teil seiner Bewohner verbraucht, die zufällig gerade im 20. und 21. Jahrhundert leben, während die später Geborenen leer ausgehen. Schlimmer noch: Sie werden die physikalischen Folgen des maßlosen Verbrauchs erleiden müssen.

Maßlosigkeit gab es schon immer, aber nicht mit den desaströsen Folgen für die Mitkreaturen, die sie heute zeitigt. Zunächst waren die Folgen auf das eigene Dasein beschränkt. Wer faul ist und maßlos schläft anstatt zu arbeiten, wird von Armut heimgesucht, wusste die alttestamentliche Spruchweisheit (Spr 6,9-11). Und wer zu viel Honig verschlingt, der wird sich übergeben müssen (Spr 25,16). Darum gilt es, sich selbst zu beherrschen und die Maßlosigkeit, in der man gefangen ist, in Zucht zu nehmen (Spr 5,22f; 25,28). Dabei kann die Einsicht helfen, dass aller Besitz und alle Freude unser Verlangen letztlich nicht stillen kann (Pred/Koh 2,10f):

Was immer meine Augen sich wünschten,
verwehrte ich ihnen nicht.
Ich versagte meinem Herzen keine Freude.
Denn mein Herz sollte Freude haben von all meinem Schaffen,
und das sollte mir der Lohn für all meine Mühe sein.
Doch als ich all meine Werke ansah,
die meine Hände vollbracht hatten,
und alles, was ich mit Mühe geschaffen hatte,
siehe, da war alles umsonst und ein Haschen nach Wind.
Es gibt keinen Gewinn unter der Sonne.

Hier wird nicht der Freudlosigkeit das Wort geredet, sondern der Einsicht, dass bleibende Freude nicht durch endloses Streben nach Besitz und kurzfristige Glückserlebnisse erreicht wird. Denn gerade die Endlosigkeit des Strebens raubt jeder Freude ihren zufriedenstellenden Charakter. Verzicht am rechten Ort kann deshalb durchaus sinnvoll sein und wird im Neuen Testament als eine Gabe des göttlichen Geistes genannt (Gal 5,22f).

Im Brauch des Fastens ist der Verzicht auch heute noch für manche Christinnen und Christen bedeutsam. Jesus selbst hat auch gefastet (Mt 4,2). Eine nachträgliche Hinzufügung zum ursprünglichen Bibeltext von Mt 17 sagt, dass der menschliche Kleinglaube nur durch Beten und Fasten zu besiegen ist (Mt 17,21). Wir sollen uns also nicht auf das konzentrieren, was wir selbst durch unseren Glauben meinen bewirken zu können. Sondern im Mittelpunkt stehen soll das, was Gott uns je und je gibt. Sich auf die eigenen Glaubenskräfte zu konzentrieren, ist maßlos. Erst der Verzicht darauf ermöglicht es uns, im Vertrauen zu Gott und in seiner Kraft Böses und Lebensbedrohliches zu besiegen.


Maßlosigkeit meint eine Sucht nach immer mehr Gütern
und immer beeindruckenderen Erlebnissen

Verzicht ist aber innerhalb einer Kultur der steten Steigerung von Produktion und Konsum gerade kein Verhaltensmuster, das sich uns nahelegt. Der Sozialpsychologe Harald Welzer hat beschrieben, dass Menschen von unbewussten kulturellen Mustern geleitet werden, in denen sie von klein auf gelernt haben, die Welt wahrzunehmen und zu deuten4. Diese Muster sind ihnen sozusagen in Fleisch und Blut übergegangen und werden deshalb gar nicht in Frage gestellt. Insofern beruht unser Handeln nur zum verschwindend geringen Teil auf bewussten rationalen Entscheidungen. Der größte Teil unseres Handelns ist von Verhaltensmustern geprägt, die auf erlernten und unbewussten Gefühls-, Erwartungs- und Verhaltensstandards beruhen. Und zu solchen Standards gehört offensichtlich ein nachhaltiges Leben nicht. Darum ist eine im gesellschaftlichen Bewusstsein breit verankerte Kultur der Verringerung von Produktion und Konsum so wichtig.

Die Nachkriegsgeneration ist in eine Wirklichkeit hineingewachsen, in der es ihr materiell immer besser ging. Das sogenannte Wirtschaftswunder führte zu unaufhaltsam steigendem materiellen Wohlstand. Ein Zurück in eine Wirklichkeit auch nur gleich bleibenden materiellen Wohlstands scheint undenkbar geworden. Darum erreichen Appelle an die Vernunft die meisten Menschen nicht, und darum ist eine Veränderung des Lebensstils für sie so schwer.

Hinzu kommt, dass der sogenannte Wohlstand nicht nur materielle Güter betrifft, sondern auch unsere Erlebnis- und Erfahrungswelt5. In den 60er Jahren wurde üblich, was es zuvor für die breiten Massen gar nicht gab: einmal im Jahr Urlaub machen. Die Ziele lagen zunächst in Deutschland und dann vor allem in Italien. Etwas später wurden auch andere europäische Länder in deutsche Urlaubspläne einbezogen. Fuhr man zunächst mit dem eigenen Auto, oft einem VW-Käfer, so wurden danach die Flugreisen in weiter entfernte Länder modern, schließlich die Fernreisen in andere Kontinente. Natürlich blieb es auch nicht beim VW-Käfer, sondern die Autos wurden immer größer, stärker und komfortabler.

Heute fliegt man schon mal für ein Wochenende nach Malle oder London. Und die neue "Freiheit" zeigt sich seit einigen Jahren im Wohnmobil, mit dem man zigtausende Kilometer durch Europa fahren kann, ohne auf vorgeplante Touren, vorherige Hotelbuchungen oder umständliche Unterkunftssuche angewiesen zu sein. Man lebt und fährt in den Tag hinein und übernachtet dort, wo es gerade schön ist. Dass diese Schönheit durch den hohen CO2-Ausstoß zerstört wird, scheint kein relevanter Gedanke zu sein.

Ähnliches ließe sich von vielen anderen Bereichen unseres Lebens sagen, zum Beispiel von unserer Wohnkultur: Ich lebte als Kind zuerst mit meinen Eltern in einer Zweizimmerwohnung, dann mit Eltern und Großmutter in einer Dreizimmerwohnung, bevor meine Eltern sich schließlich ein Einfamilienhaus bauen ließen. Ich will das gar nicht verurteilen. Die jährlichen Urlaubsreisen und die Freiheit im Eigenheim waren für mich Erlebnisse, für die ich dankbar bin.

Ich beschreibe hier nur die Entwicklung hin zu immer mehr materiellen und immateriellen Gütern, die sich uns offensichtlich so sehr eingeprägt hat, dass wir ihr kein Ende setzen, obwohl wir um ihre Problematik wissen. Genau das meint Maßlosigkeit: eine Sucht nach immer mehr Gütern und immer beeindruckenderen Erlebnissen – eine Sucht, die wir nicht zügeln können.


Es werden die alten und bewährten Handlungsmuster
auf eine vollkommen neue Situation angewandt,
die es so in der Menschheitsgeschichte noch nie gab

Kulturelle Muster gab es natürlich auch schon zur Zeit des Turmbaus zu Babel. Der Entschluss, diesen Turm zu bauen, fiel sicher nicht von heute auf morgen. Er war ein Ergebnis der babylonischen Eroberungsgeschichte und des daraus folgenden kulturellen Denkens und Fühlens: Wir sind mächtig genug, den Himmel auf die Erde zu holen. Wir können es, darum machen wir es.

Das Anliegen, den Himmel auf die Erde zu holen, wurde nicht etwa als Übertreibung empfunden, sondern als ganz normale, selbstverständliche Folge der eigenen Möglichkeiten. So ist es auch heute: Unser Konsumieren und Produzieren wird von den meisten Menschen als gut und erfolgreich erlebt, nicht als übertrieben. Denn wir kennen es ja nicht anders, und nur die stete Steigerung hält die Wirtschaft am Laufen. Steigerung gehört also zum normalen Ablauf6.

Von Problemen am Turmbau wird in der biblischen Geschichte nichts berichtet. Aber es ist wahrscheinlich, dass es welche gab – von denen man selbstverständlich annahm, dass sie mit Hilfe von Technologie gelöst werden können. Auch das gleicht unserer heutigen Situation: Vielfach wird vorausgesetzt, dass die mit unserem Wirtschaften geschaffenen Probleme technologisch gelöst werden. Man braucht also am Wirtschaften selbst und am eigenen Konsumverhalten nichts zu verändern. Neue Technologien werden's schon richten, so, wie es immer schon war.

Es werden also die alten und bewährten Handlungsmuster auf eine vollkommen neue Situation angewandt, die es so in der Menschheitsgeschichte noch nie gab. Auch das ist typisch für den Menschen: Er klammert sich an das, was in der Vergangenheit funktioniert hat. Kreative Phantasie für Neues und Ungewohntes gibt es dabei nicht.

Anders war es in der biblischen Geschichte von Joseph, der als Sklave nach Ägypten gelangte und durch seine Weisheit zur rechten Hand des Pharao aufstieg (1Mo/Gen 41,39-43). Seine Weisheit bestand darin, vorausschauend zu denken (1Mo/Gen 41,29-36): Aus Träumen des Pharao schloss er, dass es in Ägypten zuerst sieben Jahre lang Rekordernten geben wird und danach sieben Jahre lang Hungerernten. Josephs Vorschlag bestand nun nicht darin, den großen Ertrag der ersten sieben Jahre auszukosten und sich darüber hinaus auf neue technologische Entwicklungen zu verlassen, die es schon möglich machen würden, auch in den mageren Erntejahren den Ertrag zu steigern. Sondern seine Idee war, große Lagerhallen zu bauen, den Überschuss aus den ertragreichen Jahren einzuziehen und in den staatlichen Scheunen aufzubewahren. So wurde ein Vorrat für die sieben Hungerjahre angelegt.

Heute haben wir es mit Jahrzehnten zu tun, die wir vorausdenken müssen. Denn die Folgen unseres Handelns werden sich erst nach Jahrzehnten auswirken. Es täte den kommenden Generationen gut, wenn wir unsere fetten Jahre nicht vorbehaltlos auskosten, sondern vorausschauend wie Joseph denken würden.


Gottes Wort an uns ist nicht nur das biblische oder das gepredigte Wort,
sondern auch die zu uns sprechende Wirklichkeit der Welt

Der evangelische Theologe Gerhard von Rad hat in seinem Buch über die "Weisheit in Israel" Bedenkenswertes über das Tun des Guten, Lebensförderlichen geschrieben, und zwar vor dem Hintergrund des altisraelitischen Wirklichkeitsverständnisses:

Gut ist das, was gut tut; böse ist das, was Schaden verursacht. Gutes wie Böses schaffen soziale Zustände; in einem ganz "äußerlichen" Sinne bauen sie auf oder zerstören sie die Gemeinschaft, den Besitz, das Glück, den Namen, das Wohlergehen der Kinder und vieles andere mehr. [...] Es handelt sich [...] um eine Wirklichkeitsvorstellung, die den Einzelnen in seinem Ergehen viel intensiver, viel "organischer" mit den Bewegungen seiner Umwelt verbunden wusste, um eine Wirklichkeitsvorstellung, die das Andringen der Umwelt auf den Menschen als einen Anruf, aber auch als eine Antwort auf sein Verhalten zu verstehen vermochte, und die einfach wusste, dass von dieser Seite aus dauernd etwas sehr Wichtiges an dem Menschen geschah, Böses und Gutes, das zu ihm sprach und das sich seinem Verständnis keineswegs gänzlich entzog. [...] Der Gute ist der, der um das Aufbauende des Guten, um das Zerstörerische des Bösen weiß und der sich diesen Ordnungen, die sich in seiner Welt abzeichnen, unterstellt. Es ist der Rechtliche, der Fleißige, der Maßvolle, der Hilfsbereite, dem dieses sein Gutsein auch selbst zum Guten ausschlägt. [...] Gutheit war also immer etwas Öffentliches, nie etwas bloß Innerliches; es war ein soziales Phänomen. "Über das Wohlergehen des Rechtlichen freut sich die Stadt." "Durch den Segen der Redlichen kommt eine Stadt empor" [Spr 11,10f]. Immer wird das Verhalten und das Tun des Einzelnen ebenso auf seine Folgen wie auf das soziale Zusammenspiel hin angesehen.7

Wieder haben wir uns der eigentümlichen Vorstellung von der sich unablässig auf den Menschen zu bewegenden Wirklichkeit zu erinnern. Diese Vorstellung wäre jetzt nur dahin zu ergänzen, dass diese Bewegungen auch Ordnungen erkennen lassen, aus denen der Mensch Normen für sein Verhalten ablesen kann. In diesen Bewegungen der Wirklichkeit war Jahwe ordnend und richtend am Werk. Man konnte diese Wirklichkeit einigermaßen neutral als ein gewisses Regelgeschehen fixieren, das einen Anruf an den Menschen enthielt. Man konnte aber auch unmittelbar von dem reden, der hinter all diesen Bewegungen und ihrem Anruf stand. [...] Das Ethos der Spruchweisheit geht von einem dem Menschen durchaus zugänglichen Wissen aus. Nach den Lehren der Weisen ist das rechte Verhalten eine Sache der rechten Einsicht, aber es ist auch eine Frage des Vertrauens. Dieses Vertrauen – sollen wir nun sagen: in die Ordnungen oder auf Jahwe? – ist in den Sentenzen [den Weisheitssprüchen, z.B. in Sprüche/Sprichwörter oder Prediger/Kohelet] ganz unerschüttert.8

Das Wirklichkeitsverständnis, das in den weisheitlichen Texten der Bibel zum Ausdruck kommt, sieht so aus: Wir Menschen sind mit der Wirklichkeit, die uns begegnet, untrennbar verbunden. Die Schöpfung und alles, was in ihr geschieht, steht uns nicht wie etwas von uns Getrenntes, rein Äußerliches gegenüber, sondern das Weltgeschehen spricht zu uns bzw. Gott selbst spricht in ihm zu uns: Er ruft uns durch das Weltgeschehen zum rechten Handeln in der Welt auf und antwortet durch das Weltgeschehen auf unser Handeln in der Welt. So begegnen uns in der Weltwirklichkeit Ordnungen, die ethische Normen beinhalten. Wenn der Glaubende sich diesen Ordnungen unterstellt, ist er gerecht, fleißig, maßvoll und hilfsbereit und in alldem ein Segen für die Welt.

Man kann dieses Wirklichkeitsverständnis, das uns so fremd ist, auch so beschreiben: Das Weltgeschehen interagiert mit uns. Oder anders gesagt: Gott interagiert durch die der Schöpfung eingeprägten Abläufe mit uns. Die physikalischen Abläufe in der Schöpfung sind nicht einfach Physik, sondern zugleich eine sichtbare Anrede des Schöpfers an uns.

Gottes Wort an uns ist also nicht nur das biblische Wort oder das gepredigte Wort, sondern auch die zu uns sprechende Wirklichkeit der Welt. Und es geht bei unserer Antwort auf Gottes Anrede nicht nur um etwas Innerliches, um ein spirituelles Verhältnis zu Gott, sondern immer auch um etwas Soziales, um eine öffentliche Wirksamkeit.

Wenn es aber so ist, dass das Weltgeschehen bzw. Gott durch das Weltgeschehen zu uns spricht, also auch durch die zunehmenden Klimakatastrophen, dann müssen wir uns heute die Frage stellen: Ist unsere Gesellschaft noch bei Sinnen? Eine Gesellschaft, in der Fliegen zur Tagesordnung gehört und selbst die EU-Abgeordneten mindestens einmal im Monat zwischen Straßburg und Brüssel pendeln und dabei ca. 20.000 Tonnen CO2-Emissionen pro Jahr verantworten? Eine Gesellschaft, deren Regierung sich CO2-Neutralität auf ihre Fahnen geschrieben hat, aber zugleich Leopard-II-Kampfpanzer produzieren und in alle Welt liefern lässt, die – wie das gesamte Militär – in keiner Emissionsstatistik auftauchen und von denen ein einziger Panzer ca. 500 Liter Diesel auf 100 Kilometer verbraucht9? Ist eine Gesellschaft noch bei Sinnen, die ihren übermäßigen Konsum-Plastikmüll aus dem gelben Sack um die halbe Welt nach Malaysia verschifft, wo er auf riesigen Müllhalden verbrannt wird und die Bevölkerung vergiftet?

Es tut mir leid, so fragen zu müssen. Und ich selbst kann meine Hände nicht in Unschuld waschen: Auch ich bin vor 20 Jahren noch mehrmals zu Fernreisen aufgebrochen und bin in meiner Jugend bedenkenlos Auto gefahren. Meine Eltern haben einen Wohnwagen hinter sich hergezogen, und ich habe von den schönen Urlauben am Meer profitiert.

Aber wir können uns ändern. Heute wissen wir mehr, und die Fragen müssen erlaubt sein: Sind wir noch bei Sinnen, wenn SUV's bei uns massenhaft anbeboten und gekauft werden, also äußerlich einem Geländewagen ähnliche Autos, die übermäßig schwer und breit sind und viel Sprit verbrauchen, aber nie ein Gelände sehen werden? Oder wenn sich spritschluckende Wohnmobile, mit denen Menschen zigtausende von Kilometern durch Europa fahren, ganz selbstverständlich großer Beliebtheit erfreuen? Wenn wir das alles für normal halten und für ganz in Ordnung: Sind wir dann noch bei Sinnen?

Jesus drückte es etwas anders aus: Wenn die Menschen vor dem Sichtbaren, und das heißt doch auch vor den beginnenden klimatischen Katastrophen die Augen verschließen, dann gilt von ihnen (Mt 13,14b.15):

Mit sehenden Augen werdet ihr sehen und doch nicht erkennen. Denn das Herz dieses Volkes ist hart geworden, [...] und ihre Augen haben sie geschlossen, damit sie nicht mit den Augen sehen [...] und nicht mit dem Herzen verstehen und sie nicht umkehren und ich sie nicht heile.


An uns liegt es, eine Verhaltensänderung ehrlich zu wollen,
Gott um sie zu bitten und die Kraft Gottes in uns wirken zu lassen

Der Turmbau zu Babel sollte Einheit und Ruhm bewirken. Aber von einer Einheit der Welt kann immer weniger die Rede sein. Und der Ruhm der technologisch am stärksten entwickelten Länder bröckelt. Die Maßlosigkeit der Macht und des Reichtums wird in Frage gestellt – vor allem von jenen, die am meisten darunter leiden.

Maßlos soll nach biblischer Vorstellung nur die Liebe sein. "Der Herr lasse euch wachsen und mache euch übermäßig reich in der Liebe untereinander und zu jedermann" (1Thess 3,12). "Säet Gerechtigkeit und erntet nach dem Maß der Liebe" (Hos 10,12).

Liebe und Gerechtigkeit üben, das rechte Maß finden – das alles wird heute in der Theorie niemand in Frage stellen. Das Problem aber besteht in der Praxis. Darum hat es seinen Sinn, dass das Neue Testament Liebe, Gerechtigkeit und Verzicht als Gaben des Geistes Gottes bezeichnet (Gal 5,22f; Phil 1,11). Das bedeutet nicht, dass wir die Hände in den Schoß legen sollen. An uns liegt es, eine Verhaltensänderung ehrlich zu wollen, Gott um sie zu bitten und die Kraft Gottes in uns wirken zu lassen. Dann werden Veränderungen sogar selbstverständlich.

Und sie geschehen bereits. Damit komme ich zu den guten Nachrichten. In der ZEIT vom 4. Juli 2024 wurde auf Seite 1 von Stefan Schmitt berichtet:

Sonne und Winde, Wasserkraft und Biogas haben in den ersten sechs Monaten des Jahres 2024 einen Versorgungsrekord in Deutschland aufgestellt. Rund 60 Prozent, nie wurde ein größerer Anteil des Stroms aus erneuerbaren Quellen erzeugt und verbraucht als von Januar bis Juni. [...] In Deutschland haben sich die Emissionen aus der Elektrizitätserzeugung binnen zehn Jahren halbiert. Und allein vom ersten Halbjahr 2023 bis zur ersten Hälfte dieses Jahres sank der Treibhausgas-Ausstoß beim Strom um ein Fünftel. [...] Der positive Trend gilt übrigens ganz ähnlich für die gesamte EU. Durch Rekorde beim sauberen Strom sinken die Emissionen. [...] Auch im weltweiten Durchschnitt markiert das Jahr einen Rekord bei erneuerbar erzeugter Elektrizität.

Das ist keine Entwarnung, aber ein Anfang der Veränderungen. Der Himmelsturm wackelt und bekommt Risse. Aber die Umkehr muss weitergehen und viel mehr als nur Elektrizität erfassen. Das heißt nicht, in die Steinzeit zurückzukehren, sondern in ein besseres Leben aufzubrechen. Denn der Himmel wird nicht durch Maßlosigkeit erreicht, sondern durch das rechte Maß. Und das bedeutet heute, dass weniger mehr ist:

  • weniger Befriedigung durch Konsum – mehr Glück dadurch, zum Glück aller beizutragen
  • weniger Zeit beanspruchender Besitz – mehr Zeit für Zusammensein und Austausch
  • weniger Schnelligkeit und Hektik – mehr spannendes, weil langsames Entdecken
  • weniger Schweifen in die Ferne – mehr Erlebnisse in der uns reich umgebenden Natur
  • weniger immer neue und stärkere Eindrücke – mehr beglückende Eindrücke durch tiefgehende menschliche Nähe

Die Zukunft wird zeigen, ob wir es schaffen, den Turm von uns aus zurückzubauen oder ob Gott unser globales Einverständnis am Turmbau verwirren muss, um unsere Arbeit am Turm zu stoppen. Letzteres wird weitaus schmerzhafter sein als die freiwillige Umkehr.

Wir werden den Himmel niemals auf die Erde holen. Der Himmel wird aber zu uns kommen, wenn wir damit aufhören, ihn herbeizwingen zu wollen.


* * * * *


Quellennachweise:
1 Welzer: Selbst denken, S. 24.
2 Welzer: Zeitenende, S. 135-138.
3 Welzer: Selbst denken, S. 22.
4 Welzer: Selbst denken, S. 54-57.
5 Welzer: Selbst denken, S. 58f.
6 Welzer: Selbst denken, S. 93.
7 von Rad: Weisheit, S. 106f.
8 von Rad: Weisheit, S. 129f.
9 Welzer: Zeitenende, S. 87.

Verwendete Literatur:
  • Gerhard von Rad: Weisheit in Israel. Gütersloher Verlagshaus. Gütersloh 1992.
  • Harald Welzer: Selbst denken. Eine Anleitung zum Widerstand.
  • Harald Welzer: Zeitenende. Politik ohne Leitbild, Gesellschaft in Gefahr. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2023.

Foto: focuszaa auf Pixabay.




6 Kommentare
Michael Kröger
2024-08-21 10:39:15
Hallo Klaus

Danke für deinen - sehr gut lesbaren - kritischen Text über unser heutiges
Babylon. Wir Menschen sitzen ja alle in einem Boot sind aber immer noch nicht kollektiv lernfähig genug. Dass wir erst spät zu dieser Einsicht kommen empfinde ich als grosse Tragik..... Hg v. Michael
2024-08-21 10:58:28
Hallo Michael,

danke für deine Rückmeldung. Ja, die Einsicht kommt spät, und bei manchen kommt sie noch immer nicht, wenn sie zum Beispiel eine autofreundlichere Politik betreiben wollen. Und die Bevölkerung als Ganze ist ebenso orientierungslos wie die Politik ...
Jochen
2024-08-22 19:20:57
Hallo Klaus,

ein Spruch über Neu-Ulm lautet: "Was ist das schönste an Neu-Ulm? - Der Blick auf Ulm!" Und was ist wohl das am meisten photographierte Gebäude in Ulm? Sicher das Ulmer Münster. Die Ulmer Bürger haben wie im Fall anderer Kathedralen das himmlische Jerusalem nachbauen wollen, und eher nicht den Turm von Babel. Es sind Kopf-hoch-Kirchen. Man kommt, wenn man es das erste mal sieht, nicht aus dem Staunen heraus. Das Münster hatte bisher den höchsten Kirchturm der Welt, wird aber bald von der Sagrada Familia in Barcelona abgelöst. Dass die Kathedralen mit Fronarbeit oder gar Sklavenarbeit gebaut wurden, halte ich eher für eine neuzeutliche Stereotype. Denn die großen Kathedralen stehen in Städten, und in den mittelalterlichen Städten waren die Menschen eher frei. Zünfte organisierten den hochspezialisierten Kirchenbau. Die Menschen hatten dadurch auch ein Auskommen. Für mich sind diese Kirchen wie "Vektoren", die die Richtung in den Himmel zeigen sollen, wobei ich persönlich die romanischen Kirchenbauten schöner finde und es bedaure, dass sie wie oft den gotischen Neubauten weichen mussten, die erst nach Jahrhunderten fertig wurden. Sicher ist es auch Stolz der Bürger mit im Spiel gewesen, aber nicht nur.

Der Sinn der Geschichte mit der Sprachverwirrung scheint mir zu sein, dass Gott die Welt so strukturiert erschaffen hat, dass die Menschen sich verlieren, dass Sprache sich ändert, dass Strukturen sich von selbst auflösen - letztlich die Aussage des zweiten Hauptsatzes der Thermodynamik und der Entropie. Für eine gute Ehe muss man was tun, für den Zusammenhalt einer Gesellschaft auch, sonst verwahrlost sie. Und selbst die größten Bauten - etwa der Burj Khalifa in Dubai werden irgendwann unweigerlich Geschichte sein. Wenn es also nur Stolz auf die Einheitsprojekte ist, dann ist es letztendlich vermessen. Aber den Zusammenhang der Turmbau-Geschichte mit Klima im Artikel habe ich letztlich nicht so richtig verstanden, obgleich die Geschichte des Zweistromlandes sicherlich auch von klimatischen Veränderungen beeinflusst worden ist.
2024-08-22 21:41:25
Hallo Jochen,

danke für deine wichtigen Ergänzungen. Dass die Bauherren der Kathedralen nicht den Turm von Babel nachbauen wollten, ist schon klar. Ich wollte auch nicht die Absichten und Baustile miteinander vergleichen, sondern Dimensionen der Maßlosigkeit aufzeigen. Wer die Kathedralen unter welchen Umständen baute, kann ich kurzfristig nicht recherchieren. Du hast wahrscheinlich recht damit, dass es in der Regel keine Fronarbeiter oder Sklaven waren. Es waren aber auch Tagelöhner dabei, und es gab Versuche, die Löhne möglichst niedrig zu halten. Da es keine Arbeitssicherheit gab, kann man davon ausgehen, dass nicht wenige Handwerker zu Tode gekommen sind, zumal manche Bauten ja Jahrhunderte andauerten. Wie frei die Menschen in den mittelalterlichen Städten wirklich waren, sei einmal dahingestellt. Dein Einwand ist aber berechtigt, und ich habe den Text an dieser Stelle etwas entschärft.

Deine Deutung der Sprachverwirrung finde ich interessant. Ich würde nur sagen, dass es nicht zwangsläufig so ist, dass Menschen sich verlieren, sondern dass dies mit der fehlenden Gemeinschaftsfähigkeit der Menschen zu tun hat. Sicher verändert sich Sprache im Laufe der Zeit, aber das heißt ja nicht, dass man sich nicht mehr verstehen kann. Dies tritt erst dann ein, wenn man sich voreinander abschottet und getrennt voneinander entwickelt. Auch gesellschaftliche Strukturen müssen sich nicht selbst auflösen, sondern können bewusst weiterentwickelt werden - sofern man dazu bereit ist und sich auf die Anliegen der Mitmenschen einzulassen bereit ist.

Der biblische Text gibt als Motiv für den Turmbau an, sich ein Denkmal zu schaffen (Ruhm) und sich nicht zu zerstreuen (Einheit). Das ist der Himmel, den man mit dem Bau erreichen will. Aber den Himmel eigenmächtig zu erreichen, ist eben vermessen. Ausprägungen der menschlichen Vermessenheit und Maßlosigkeit gibt es sicher sehr viele. Ich habe versucht, es an einer gesellschaftlichen Entwicklung aufzuweisen, die man wohl kaum bezweifeln kann: den Drang nach immer mehr, nach schrankenlosem Konsum (auch von Erlebnissen) und entsprechender grenzenloser Produktion, auch nach der Steigerung von Besitz und Vermögen. Und diese Maßlosigkeit führt bekanntlich zu einer Überforderung der Schöpfung, die wir als Klimawandel bezeichnen.
2024-08-24 12:31:54
Hallo Klaus,

der Turmbau zu Babel, eine alte und inspirierende Geschichte. Für unsere Zeit hätte ich dabei neben den Hochhäusern in neureichen Staaten eher an Raumfahrt gedacht, als technische Machtdemonstration. Eine Sprachverwirrung ist dabei als Gegenmittel überhaupt nicht nötig. Wer sich damit kritisch beschäftigt, wird sehen, dass Weltraumfahrt selbst schon ein Begriff ist, der falsche Erwartungen weckt. Über unsere unmittelbare kosmische Umgebung sind wir bisher nicht hinausgekommen, und bemannt haben wir bisher nur den Erdmond erreicht.

Deine Predigt passt ansonsten meiner Meinung nach besser zum "Goldenen Kalb". Solche Predigten einschließlich der sozialkritischen und ökologischen Aspekte habe ich in diesem Zusammenhang schon öfters gehört.

Interessant fände ich es, die Versuche der theologischen Dogmatik als Analogie zum Turmbau zu Babel zu begreifen. Hier würde dann auch die Sprachverwirrung als Gegenmittel passen.

Viele Grüße

Thomas
2024-08-24 16:09:44
Hallo Thomas,

danke für deinen interessanten Kommentar. Die Raumfahrt ist sicher auch ein Aspekt menschlicher Maßlosigkeit. Ihr Sinn erschließt sich mir nicht, weil wir, wie du schon sagst, über unsere unmittelbare kosmische Umgebung nicht hinauskommen. So werden Milliarden um der eigenen Machtdemonstration (des Ruhmes) willen verschlungen, während Milliarden von Menschen in Armut leben. Deutlicher kann die Dekadenz menschlicher Maßlosigkeit eigentlich kaum sein.

Das Motiv der Sprachverwirrung in der Turmbaugeschichte war sicher auch der Versuch einer Erklärung der Vielfalt menschlicher Sprachen. Darüber hinaus will es aber wohl sagen, dass menschliche Einheit und die daraus folgende Macht allzu leicht in Dekadenz ausschlägt. Heute sind die menschlichen Fähigkeiten so groß, dass ein gemeinsames Handeln "aller Welt" dazu gar nicht nötig ist. Jede Weltmacht für sich allein hat schon die Möglichkeit, die Welt zu zerstören. Dabei wollen sie alle angeblich nur den Himmel erreichen bzw. ihn auf die Erde holen.

Interessant finde ich deinen Gedanken, die theologische Dogmatik als Maßlosigkeit zu begreiten - die Maßlosigkeit der Gotteserkenntnis, wenn ich dich recht verstehe. Diese Gefahr ist tatsächlich immer gegeben. Man ist sich der Begrenztheit menschlicher Erkenntnis aber in guter Theologie bewusst. Mir begegnet eine Vermessenheit bezüglich der Erkenntnis Gottes und der Heilsgeschichte eher in manchen fundamentalistischen Kreisen, in denen die Wahrheit Gottes und der heilsgeschichtlichen Abläufe (Endzeit, tausendjähriges Reich, Entrückung, Ende der Welt, Jüngstes Gericht) allzu genau und fraglos in allen Einzelheiten bekannt zu sein scheinen.

Viele Grüße
Klaus
Theologische Einsichten für ein gutes Leben
Christsein
verstehen
Christsein
verstehen
Theologische Einsichten für ein gutes Leben
Zurück zum Seiteninhalt