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Der Streit um das Gute und sein Ende

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Veröffentlicht von in Ethische Fragen · 31 Mai 2022
Tags: EthikErkenntnisGut_seinGnade

Der Streit um das Gute und sein Ende
Klaus Straßburg | 31/05/2022

Dem aufgeklärten Menschen ist es ein selbstverständliches Recht, in Freiheit darüber entscheiden zu können, was gut und was böse ist. Und er legt Wert darauf, in derselben Freiheit zu entscheiden, ob er gut oder böse handelt. Dass schon die Entscheidung darüber, was eigentlich gut und böse ist, sich nicht so einfach darstellt, wie es sein Selbstverständnis dem aufgeklärten Menschen glauben macht, wird dabei zumeist nicht reflektiert.

Denn die Grenzen zwischen gut und böse sind nicht so eindeutig, wie wir meinen. Schon die Bibel weiß darum, dass manche Propheten Wölfe im Schafspelz sind (Hebräer 7,15). Das Böse verkleidet sich sogar ausgesprochen gern als Gutes. Jeder Krieg wird im Namen des Friedens geführt, also für eine gute Sache. Und das wirklich Gute kann ausgesprochen böse Folgen zeitigen: Der Ausstieg aus der Abhängigkeit von russischem Öl führt dazu, dass man sich von neuen Öllieferanten abhängig macht, die es mit den Menschenrechten nicht so genau nehmen und zudem den internationalen Terror mitfinanzieren. Umgekehrt kann das Böse sogar gute Folgen mit sich bringen: Der russische Angriffskrieg könnte die Energiewende beschleunigen. Damit ist keineswegs das Böse gerechtfertigt. Aber es zeigt sich, dass die Grenzen zwischen gut und böse nicht so eindeutig sind, wie wir es uns gerne vorstellen.


1. Der endlose Diskurs um das Gute

Wie kann man dem Dilemma begegnen? Der Philosoph Jürgen Habermas (geb. 1929) hat das Ideal eines "herrschaftsfreien Diskurses" entwickelt. Demnach soll, vereinfacht gesagt, die Wahrheit – auch die Wahrheit darüber, was gut oder böse ist – durch die Gleichheit und Freiheit aller Teilnehmenden am Diskurs gefunden werden. Im Diskurs zählt nur das beste Argument, und der Diskurs dauert so lange, bis ein Einvernehmen, ein Konsens aller Beteiligten erlangt ist.

Das Problem besteht jedoch darin, dass ein Einvernehmen nicht unbedingt garantiert, das Gute gefunden zu haben. Und die Gleichheit und Freiheit aller am Diskurs Teilnehmenden ist eine ideale Situation, die in der Realität kaum herzustellen sein dürfte. Zudem entscheiden Menschen oftmals nicht nach ihrer Vernunft, sondern nach ihrem Bauchgefühl und nach persönlichen und gesellschaftlichen Prägungen. Habermas wusste natürlich um diese Probleme seiner Konzeption und baute zusätzliche Sicherungen ein. Dennoch bleibt die Vorstellung von Diskutierenden, die durchweg autonom und aufgeklärt argumentieren, eine Fiktion. Und auch dass sich am Ende ein Konsens einstellt, dem alle zustimmen können, darf nicht erst seit den zunehmenden Spaltungen innerhalb verschiedener Gesellschaften bezweifelt werden.

Realistischer erscheint mir, dass das Ringen um Gut und Böse Grund für endlose Diskussionen, Streit und sogar Krieg ist. Das unnachgiebige Ringen um die Erkenntnis des Guten und Bösen muss geradezu gefürchtet werden. Statt einer fairen Argumentation bestimmen oft Manipulation, Fake News und Internetblasen den Diskurs. Und Hasskommentare sowie soziale oder religiöse Ausgrenzung tragen ein Übriges dazu bei, sich durch Lügen, Macht und Druck durchzusetzen. Menschen werden dadurch nicht geeint, sondern einander entfremdet und verfeindet.

Es ist daher völlig richtig, was Jens Jessen in der ZEIT vom 19.5.22 (S. 47) feststellte:

Moral trägt ja nicht unbedingt ein weißes Unschuldskleidchen – sie selbst ist "polemogen" [Streit erregend, vom griechischen Wort pólemos = Krieg], wie Niklas Luhmann einmal gesagt hat: nämlich eine Quelle von Streit und Kampf. Das heißt: Man kann die Welt auseinandertreiben – durch Moral.

Dabei geht es allen Beteiligten scheinbar um das Gute. Mit einem ursprünglich militärischen, geradezu menschenverachtenden Begriff gesagt: „Kollateralschäden" werden dabei in Kauf genommen – um des Guten willen.

Gibt es eine Möglichkeit, dem immerwährenden Streit um das Gute zu entgehen? Kann eine christliche Perspektive etwas dazu beitragen?


2. Der auf Gott bezogene Mensch

Die biblische Sicht weiß um die Schwierigkeit des Menschen, das Gute zu erkennen. Ja mehr noch, sie weiß um die Ambivalenz des Guten und um die Gefahr, die davon ausgeht, dass Menschen das Gute für sich beanspruchen.

Das Sein des Menschen in einer ideal gedachten Gottesbeziehung wird in der zweiten Schöpfungsgeschichte (1. Mose/Genesis 2) so beschrieben: Der Mensch lebt in der Einheit mit Gott, mit der Natur und mit seinesgleichen. Gott erschafft liebevoll den Garten Eden und setzt den Menschen hinein, damit er bebauend und bewahrend mit ihm umgehe.

In der antiken jüdischen Übersetzung des Alten Testaments ins Griechische steht für "Garten" das Wort parádeisos, von dem unser Wort "Paradies" herkommt. Der Garten Eden war also etwas absolut Gutes, etwas Paradiesisches. Nun spielten Gärten im Alten Orient eine besondere Rolle: Es gab keine Gärten für jedermann, sondern Gärten waren immer königliche Palastgärten. Der König aber verstand sich als von den Göttern dazu eingesetzt, eine gute Ordnung gegen die lebensfeindliche Welt zu schaffen. Er sah sich sozusagen in der Rolle des göttlichen Gärtners.

Wenn der Mensch in der Schöpfungsgeschichte von Gott die Aufgabe erhält, den Garten zu bebauen und zu bewahren, dann wird er beteiligt am Werk und an der Herrschaft Gottes, der als König der Welt verstanden wurde. Der Mensch erhält damit von Gott eine königliche Würde zugesprochen. Diese Würde zeigt sich in einer dreifachen Liebeseinheit: der Einheit des Menschen mit dem Schöpfer und Bewahrer der Schöpfung, der gleichwohl als Schöpfer von ihm unterschieden bleibt; der Einheit des Menschen mit den Tieren, denen nicht Gott, sondern der Mensch einen Namen geben darf, so dass er als von ihnen Unterschiedener von Beginn an mit ihnen verbunden ist; und der Einheit des Menschen mit seinesgleichen, denn die Frau ist aus der Rippe des Mannes erschaffen.

In biblischer Perspektive ist der Mensch in seinem Menschsein also nicht auf sich selbst, seine Vernunft und seine ihm eigene Welt bezogen, sondern auf seinen Schöpfer und von ihm her auf sich selbst und die ihn umgebende geschöpfliche Mitwelt. Dieses von Gott begründete Verhältnis ist aber nicht ohne Gefährdung, worauf schon die Schöpfungsgeschichte hinweist.


3. Der auf sich selbst zurückgeworfene Mensch

Zu den vielfältigen Gaben Gottes im Garten Eden gehört nämlich neben einem Reichtum an Flüssen und "allerlei Bäumen, lieblich anzusehen und gut zu essen" auch das Verbot, vom Baum der Erkenntnis des Guten und Bösen zu essen. Denn das Essen von diesem Baum bringt, so warnt Gott den Menschen, den Tod mit sich.

Warum ist das tödlich, was uns als Inbegriff des Guten erscheint, nämlich die Erkenntnis und Unterscheidung des Guten und Bösen? Weil der Mensch sich anmaßt, diese Unterscheidung eigenmächtig treffen zu können. Mit dieser Anmaßung verlässt der Mensch seine "kindliche Unschuld", indem er sich das aneignen will, was allein Gottes ist: über Gut und Böse zu entscheiden. Das Streben nach dieser Entscheidung führt, wie wir schon erkannten, unweigerlich zum tödlichen Kampf. Denn jeder will nun der Gute sein und muss dazu den anderen zum Bösen machen, als böse abstempeln. Auch die Kirchen führen und führten diesen Streit um das Gute, wenngleich er dort zur Zeit – es gab bekanntlich auch andere Zeiten – nicht mit tödlicher Gewalt geführt wird.

Aber was macht es so schwierig, zwischen Gut und Böse zu unterscheiden? Für den Apostel Paulus ist es eine Selbstverständlichkeit, dass sich der Satan, also der Inbegriff des Bösen, "in einen Engel des Lichts verwandelt" (2Kor 11,14). Diese Metamorphose überrascht uns Aufgeklärte, die wir davon ausgehen, dass das Gute sich natürlich als Gutes zeigt und das Böse als Böses, so dass wir fein säuberlich zwischen gut und böse unterscheiden können. Wir übersehen dabei, dass das Böse ein Meister darin ist, sich als Gutes zu tarnen: als das Vernünftige, Notwendige, Unumgängliche, einzig Sinnvolle. Die Methodik ist denkbar einfach: Man muss nur oft genug zum Wechsel der Perspektive aufrufen, unterschiedliche Interessen artikulieren und auf die Relativität des Guten verweisen – und schon ist ein unwiderruflicher Zweifel gesät, ob das Gute wirklich gut ist. Das alles natürlich im Namen der aufgeklärten Vernunft.

Wer die unentwirrbare Verstrickung des Guten mit dem Bösen wahrnimmt, dem bleibt nur die Einsicht: Das Gute ist für uns unverfügbar. Und mit ihm das Lebensförderliche, die Menschlichkeit, ja das Sein selbst.

In der Sprache der Bibel ist es die Schlange als Symbol des lautlosen, schwer erkennbaren, aber umso gefährlicher den Menschen umwindenden und unmerklich bedrohenden Wesens, die den Menschen dazu verführt, das Verbot zu übertreten (1. Mose/Genesis 3): Mit ihrem "Sollte Gott gesagt haben?" sät sie Misstrauen in das bis dahin ungetrübte Verhältnis zwischen Gott und Mensch. Und sie hat ein Versprechen parat, dem der Mensch nicht widerstehen kann: "Gott weiß, dass, sobald ihr davon esst, euch die Augen aufgehen werden, und ihr werdet wie Gott sein und  wissen, was gut und böse ist." Die Menschen lassen sich täuschen und greifen zu. Doch mitnichten sind sie nun wie Gott; vielmehr beginnt mit der Lossagung von Gott der endlose und nicht selten tödliche Streit um das Gute.

Denn den nach der Erkenntnis des Guten und Bösen strebenden Menschen gehen tatsächlich die Augen auf: "Sie wurden gewahr, dass sie nackt waren." Der Mensch unter dem Diktat der Erkenntnis von gut und böse erkennt seine Verletzlichkeit, die darin besteht, dass die Frage nach gut und böse nun für ihn unlösbar geworden ist. Das Verlassen der Einheit mit Gott führt nicht zur erhofften Erkenntnis, sondern im Gegenteil zum Verlust jeder Erkenntnis. Nun muss sich der Mensch vor den kritischen Blicken des Mitmenschen, der seine Unwissenheit aufdecken könnte, schützen und seine Blöße bedecken.

Dietrich Bonhoeffer hat in seinem im Jahr 1937 erstmals erschienenen Buch "Nachfolge", also in bedrohlicher geschichtlicher Situation, in welcher der Streit um das Gute auch innerhalb der evangelischen Kirche aufs Heftigste entbrannt war, formuliert:

Der ethische Konflikt als das ethische Urphänomen des Menschen nach dem Fall ist selbst der Widerspruch des Menschen gegen Gott. [...] „Sollte Gott gesagt haben?"

Damit ist festgestellt, dass der ethische Konflikt im Misstrauen des Menschen Gott gegenüber seinen Grund hat. Denn der Mensch wird nicht Gott, sondern bleibt auf Gott angewiesen. Das Wissen um diese Angewiesenheit hat er aber verloren. Er wähnt sich vielmehr als jemand, von dem seine Mitmenschen und die gesamte Mitkreatur abhängig sind. Und weil sie es nicht sind, muss der Mensch versuchen, sie in den Zustand der Abhängigkeit zu versetzen. Denn nur er allein, jeder einzelne – darin besteht sein Wahn – ist der Gute.

Der fatale Irrtum dieses Wahns wird von Jesus in einem einzigen Satz zum Ausdruck gebracht, als ihn einer fragt, was er Gutes tun müsse, um das ewige Leben zu erlangen (Matthäus 19,17):

Was befragst du mich über das Gute? Einer ist der Gute.

Dass nur einer der Gute ist, nämlich Gott, macht aller menschlichen Hybris ein Ende. Das Gute liegt nicht auf der Straße, wie wir uns einbilden. Es kann nicht mit ein bisschen Vernunft und einem gut gemeinten Diskurs gefunden werden. Es ist verborgen hinter dem Bösen, das sich als Gutes ausgibt. Und es gibt nur einen Weg, in dieser aussichtslosen Situation einen Sinn für das Gute zu gewinnen: die Bindung an den einen Guten.


4. Die Zeitlichkeit des Guten

Das Alte Testament erzählt, dass das Gute, zusammengefasst in den Zehn Geboten, von Gott selbst auf zwei steinerne Tafeln geschrieben und dem Mose übergeben wurde. Diese Erzählung führte und führt zu dem Missverständnis, als sei das Gute ein in Stein gemeißeltes überzeitliches Gesetz, das uns objektiv verfügbar ist und in jeder denkbaren Situation gilt. Das ist der fundamentale Irrtum des Fundamentalismus. Zwar sind die ersten, direkt auf die Gottesbeziehung bezogenen Gebote kaum situationsabhängig. Die folgenden, die zwischenmenschlichen Beziehungen regelnden Vorschriften sind dafür umso mehr in verschiedenen Situationen interpretationsbedürftig. Diese Gebote sind nicht mehr, aber auch nicht weniger als eine Richtschnur, die in jeder neuen Situation einer neuen Entscheidung bedarf, was den Geboten entspricht und was nicht. Das Gute ist kein alles regelndes Gesetz, und die Gebote sind kein immer und überall gültiges Wissen um das Gute. Es gibt nicht nur hell und dunkel, sondern es gibt die unendlich vielen Grautöne, die es uns so schwer machen, das Gute wahrzunehmen und zu realisieren.

Auch die Bindung an den Geber der Gebote entbindet uns also nicht davon, in jeder neuen Situation nach dem Guten zu fragen. Der Apostel Paulus wusste darum, als er kurz und knapp der christlichen Gemeinde in Thessaloniki mitgab (1. Thessalonicher 5,21):

Prüft alles, das Gute behaltet!

Und in ganz anderer Situation, nämlich im ethischen Konflikt der jungen Christenheit um den Verzehr von Fleisch, das den heidnischen Göttern geopfert worden war, schrieb Paulus der Gemeinde von Korinth ins Stammbuch (1. Korinther 10,23):

Alles ist erlaubt, aber nicht alles nützt. Alles ist erlaubt, aber nicht alles baut auf.

Der Apostel wollte der Gemeinde mitteilen, dass gegen den Verzehr von Götzenopferfleisch grundsätzlich nichts einzuwenden ist, dass aber das an sich Gute zum Bösen werden kann, wenn man durch den Verzehr einen Mitchristen in Gewissensnöte stürzt. Wann man also das Götzenopferfleisch genießt und wann nicht, muss in jedem Einzelfall entschieden werden – mit Rücksicht auf den Mitmenschen.

Maßgebend ist demnach auch in der Bindung an Gott die aktuelle Situation, die uns eine immer neue Entscheidung abverlangt. Kriterium für die Entscheidung ist das, was dem anderen nützt und ihn aufbaut. "Niemand suche das Seine, sondern das des anderen!" fügt Paulus deshalb schnell hinzu, um Missverständnisse zu vermeiden. Es geht nicht um Eigennutz, sondern um Gutes für den anderen. Das Aufbauende ist nichts anderes als die Liebe, wie der Apostel schon zuvor festgestellt hat (1. Korinther 8,1). Jedes feste Gesetz aber, jede fixierte Moral wäre das Gegenteil von Liebe, nämlich eine Ideologie. Jedes immer und überall gültige Ja oder Nein wäre ein Leugnung der lebendigen Liebe, die sich niemals in ein zeitloses Gesetz kleiden lässt.

Unsere Zweifel, im ethischen Konflikt die falsche Entscheidung zu treffen, die damit verbundene Unsicherheit und das Gefühl mangelnder Erkenntnis des Guten und Bösen sind also vollkommen berechtigt. Sie dürfen aber nicht zu einer resignierten Entscheidungslosigkeit führen. Denn auch wer sich nicht entscheidet, trifft eine Entscheidung.


5. Das Ende des Diskurses

Die Bindung an den einen Guten führt also nicht automatisch dazu, das Gute als Gutes zu erkennen. Im Alten Testament stellt Gott mit Blick auf die Menschen, auch die in einem Gottesverhältnis stehenden, lapidar fest, dass „alles Dichten und Trachten ihres Herzens die ganze Zeit nur böse war" (1. Mose/Genesis 6,5). Und der Apostel Paulus bekennt sogar von sich selbst in einem heute fast undenkbaren Akt der Selbstkritik, dass das Gute nicht in ihm ist (Römer 7,18f):

Ich weiß, dass Gutes nicht in mir [...] wohnt. Denn das Wollen ist bei mir vorhanden, aber das Gute Vollbringen nicht. Denn nicht Gutes, das ich will, tue ich, sondern Böses, das ich nicht will, tue ich.

Nach diesen Worten des Apostels sollte die Christenheit um ihre Unfähigkeit zum Guten wissen. Schließlich bittet sie ja auch, wiederum in prägnanter Kürze, im von Jesus selbst formulierten Vaterunser (Matthäus 6,13):

Erlöse uns von dem Bösen!

Im griechischen Original lautet die Bitte sogar: "Rette uns vor dem Bösen!" Um Rettung bittet nur der, der sich selbst nicht retten kann.

Diese Einsicht hat bereits entscheidende ethische Konsequenzen. Denn wer um seine Unfähigkeit zum Guten weiß, führt keine Kriege mit dem Ziel, das Gute gewaltsam durchzusetzen. Er streitet um das Gute, aber in positiver Weise, also mit dem Ziel, voneinander zu lernen, nicht aber, den anderen zu besiegen. Er überhebt sich nicht über ihn, auch wenn er versucht, das als gut Erkannte zu verwirklichen. Das gilt, wie alle Einsichten christlicher Ethik, zuerst für die Christenheit selbst.

Wo aber ist das Gute, wenn es nicht in uns ist? Es ist in dem einen Guten, von dem Jesus sprach. Darum bedeutet das Bitten um die Erlösung vom Bösen zugleich das Bitten um die Gabe des Guten durch den einen Guten. Wer betet, verschafft sich keine Erkenntnis des Guten, sondern empfängt sie. Darum fügte Paulus hinzu, nachdem er die Christinnen und Christen in Thessaloniki aufgerufen hatte, sie mögen alles prüfen und das Gute behalten (1Thess 5,23):

Der Gott des Friedens selbst aber heilige euch durch und durch.

Die "Heiligkeit", die Anteilhabe am Sein und Tun Gottes, des einzigen Guten, kann sich kein Mensch selbst verschaffen; sie ist für ihn unverfügbar wie das Gute selbst. Das Unverfügbare kann der Mensch nur empfangen von dem, dem es verfügbar ist – als Gabe eben des einzig Guten und Heiligen. Diese Gabe ist aber nicht einfach freischwebende Inspiration. Es gibt vielmehr einen Maßstab: die biblischen Schriften mit ihren ethischen Weisungen und Erzählungen von Jesus, der das Gute gelebt hat. So hat der ethische Konflikt Haltepunkte in den biblischen Schriften und in der Gnade der geschenkten Erkenntnis. Um diese muss gerungen werden, weil niemand die Erkenntnis allein hat. Aber auch das Ringen muss ein Ende haben, um zur Tat zu gelangen. Das hat auch Bonhoeffer 1937 in der Erfahrung des Kirchenkampfes, in dem es ebenfalls um das Gute ging, festgestellt:

Die einzige Antwort auf die Not des ethischen Konflikts ist das Gebot Gottes selbst und damit die Forderung, jetzt nicht mehr zu diskutieren, sondern endlich zu gehorchen.

Der notwendige Diskurs um das Gute beginnt christlicherseits mit dem Gebet um die Erkenntnis des Guten. Er führt weiter im Prüfen aller biblischen Weisungen und Deutungen derselben in der jeweiligen gegebenen Situation. Irgendwann aber muss der Diskurs ein Ende haben, auch wenn kein Konsens erreicht ist. Dieser Punkt ist dann erreicht, wenn der biblische Maßstab ausreichend befragt, alle Argumente abgewogen und eine eigene Erkenntnis gewonnen wurde – auch, wenn noch Unsicherheiten bleiben mögen.

Die vollkommene Sicherheit wird es wohl kaum einmal geben. Der Irrtum ist immer eine menschliche Möglichkeit. Aber das kann nicht hindern, einen Standpunkt einzunehmen und zu vertreten. Und schon gar nicht, das als gut Erkannte endlich zu tun. Bonhoeffer nannte diese Tat Gehorsam. Aber es ist kein Kadavergehorsam, der sich blind einem fremden Willen unterwirft. Es ist vielmehr der Gehorsam gegenüber der eigenen Einsicht, dem eigenen Ich, das sich in den biblischen Weisungen und in den Geschichten von Jesus gründet und das vom Gebet und von der Hoffnung lebt, die Gnade der Erkenntnis des Guten empfangen zu haben – ein Ich, das auch dann, wenn das erkannte Gute sich als böser Irrtum erweisen sollte, gewiss ist, der Gnade nicht verlustig zu gehen.


Quellennachweis für die Bonhoeffer-Zitate:
Dietrich Bonhoeffer: Nachfolge. Herausgegeben von Peter Zimmerling. Brunnen Verlag Gießen 2016. Erstes Zitat: S. 71. Zweites Zitat: S. 72.


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