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Der christliche Zionismus

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Veröffentlicht von in Geschichtliches · 25 September 2024

Der christliche Zionismus
Herkunft – Geschichte – Einordnung
Klaus Straßburg | 25/09/2024

Sie glauben, die Rätsel der Geschichte ließen sich mit der Bibel lösen. Denn alles, was gegenwärtig geschehe, sei die Erfüllung biblischer Prophetien. Die Weltgeschichte zeige deutlich, dass die Endzeit angebrochen sei, in welcher der Antichrist herrsche. Es sei unvermeidlich, dass es zum großen Krieg zwischen Christus und dem Antichristen kommen werde, zur Entscheidungsschlacht von Harmageddon. Denn die Bibel sage diesen Krieg voraus. Alle Friedensbestrebungen widersprächen deshalb Gottes Willen und seien sinnlos.

In diesem Krieg gehe es um Gottes auserwähltes Volk, das Volk Israel. Darum müssten Christen in Israels Kampf gegen die Araber an der Seite Israels stehen. Und nach Israels Sieg in diesem Krieg werde Christus sein tausendjähriges Friedensreich aufrichten. Darum ist die unvermeidliche Entscheidungsschlacht nicht zu fürchten, sondern geradezu herbeizusehnen.

So oder so ähnlich denken viele christliche Zionisten1. Als Zionismus bezeichnet man eine Bewegung, die einen eigenen jüdischen Staat in bestimmten geographischen Grenzen bewahren und rechtfertigen will. Dass Juden einen eigenen Staat angestrebt und gegründet haben und diesen Staat bewahren und verteidigen wollen, ist ihr gutes Recht. Aber wie kommen eigentlich Christen dazu, sich diesem Anliegen vehement anzuschließen?

Um das zu verstehen, müssen wir einen Blick in das 19. Jahrhundert werfen.


1. John Nelson Darby und der Darbysmus

Der britische Geistliche John Nelson Darby (1800-1882) bekam als junger Mann Kontakt zu freikirchlichen christlichen Kreisen, den Keimzellen der sogenannten Brüderbewegung. Daraufhin gab er seinen Dienst in der Anglikanischen Kirche auf und übernahm eine führende Rolle in der Brüderbewegung. Dabei wirkte er nicht nur in England, sondern auch weit darüber hinaus: in Deutschland, Frankreich und der Schweiz, ja, er war sogar in Neuseeland und mehrmals in Nordamerika. Sein Ziel war, die Christen zu missionieren und zum Austritt aus den offiziellen Kirchen zu bewegen.

Darby entnahm der Bibel eine Einteilung der Weltgeschichte in heilsgeschichtliche Epochen, in denen Gott unterschiedlich an Juden und Heiden handelt. Diese Epochenlehre bildet auch die Grundlage der später entstandenen Scofield-Bibel.

Darby ging von folgenden Epochen aus: Auf das gegenwärtige Zeitalter der Kirche folge die Entrückung, bei der alle Gläubigen plötzlich von der Erde verschwinden und bei Christus versammelt würden. Danach komme eine siebenjährige schwere Leidenszeit, in welcher der Antichrist auf Erden herrsche, dann der Sieg Christi über den Antichristen in der Schlacht von Harmageddon, dann das tausendjährige Friedensreich Christi und schließlich das Jüngste Gericht. Die Endzeit sei aber bereits angebrochen, was daran festzumachen sei, dass die Zustände in den Kirchen und in der Kultur immer schlechter würden.

Diese Diagnose fiel in der Zeit des amerikanischen Bürgerkriegs mit 500.000 Toten, der Ermordung Abraham Lincolns und des weiterhin bestehenden Rassismus in den USA auf fruchtbaren Boden. Sie findet bis heute aufgrund der beiden Weltkriege und anderer negativer Entwicklungen in Nordamerika große Verbreitung.

Der Prediger Hal Lindsey, dessen Bücher in den 1970er Jahren in den USA und weltweit Millionenauflagen erreichten, betrachtete den Kalten Krieg, die Atomkriegsgefahr und die Neugründung Israels im Jahr 1948 als deutliche Zeichen der Endzeit. Später wurden auch die zunehmenden Umweltkatastrophen und der islamische Fundamentalismus als Endzeiterscheinungen gedeutet, während die Vereinten Nationen, die Europäische Union, die Globalisierung und moderne Kommunikationssysteme als Wegbereiter des Antichristen verstanden wurden.

Unter den Nachfolgern Darbys setzte sich die Ansicht durch, Israels irdische Zukunft bestehe im Heiligen Land, das ihm nach dem Alten Testament für alle Zeiten von Gott zugesprochen wurde. In den 1890er-Jahren verbreitete sich in Nordamerika die Meinung, die USA sollten alles dafür tun, dass die Juden in Israel einen eigenen Staat errichten können. An diesem jüdischen Staat hänge das Heil für die Welt, denn ohne Israels tausendjähriges Friedensreich, ohne das strahlende irdische Jerusalem könne es kein himmlisches Jerusalem für die Gläubigen geben.

Das alles wurde in einem komplizierten System der Bibelauslegung, in dem verschiedene Bibelworte miteinander kombiniert wurden, nachzuweisen versucht. Die Scofield-Bibel mit ihrem biblischen Verweissystem ist bis heute ein anschaulicher Beleg dafür.


2. Der Kampf gegen den Antichristen

Der "Antichrist", genauer "Antichristus", ist eine biblische Figur, die viermal im Neuen Testament genannt wird, und zwar nur in den Johannesbriefen (1Joh 2,18.22; 4,3; 2Joh 7). Aus diesen Bibelstellen geht hervor, dass mit dem "Antichristen" nicht eine einzelne Person gemeint ist, sondern alle Gegner Christi und derer, die sich zu ihm bekennen. "Antichrist" ist also die Bezeichnung einer Gruppe von Menschen. Und diese antichristliche Gruppe tritt in der Endzeit auf, und ihr Auftreten ist daher immer in eine Lehre von der zeitlichen Abfolge der Endereignisse eingebettet.

Die Endereignisse werden je nach theologischer Sichtweise zeitlich unterschiedlich geordnet. Nach einer Sichtweise werden die Gläubigen alle vor der Endzeit entrückt, so dass sie den Leiden der Endzeit entgehen und sie vom Himmel aus verfolgen werden. Eine andere Sichtweise herrscht in der deutschen pietistisch-evangelikalen Richtung vor: Die Gläubigen werden die schwere Zeit des Antichristen mit Christenverfolgungen erleiden müssen. Aber im größten Leid komme Christus wieder, um den Antichristen zu töten und mit Israel das tausendjährige Friedensreich aufzurichten.

Israel werde dann für tausend Jahre die Weltherrschaft innehaben. Dann werden sich alle alttestamentlichen Verheißungen erfüllen und die Schwerter zu Pflugscharen umgeschmiedet werden. Alle Völker der Erde werden nach Jerusalem zum Tempelberg pilgern und dort Gott die Ehre geben.

Vorher jedoch kommt nach dieser Lehre der große Abfall von Gott unter dem Antichristen. An diese Lehre schließen sich unmittelbar gegenwartspolitische Deutungen an: Der Antichrist werde einen Welteinheitsstaat und eine Welteinheitsherrschaft errichten, die sich gegen Israel wenden. Denn der Welteinheitsstaat wolle die Nahostkrise beenden und Frieden zwischen Juden und Palästinensern schaffen, indem den Palästinensern ein eigener Staat auf einem Teil des Landes Israels zugestanden wird. Ein solcher Friede sei aber nicht möglich. Denn das Land sei von Gott allein Israel zugesprochen. Darum hielten die Juden zu recht an den alttestamentlichen Landverheißungen fest. Weil sie das tun, werde der Welteinheitsstaat eine Judenverfolgung betreiben, so dass auf diesem Weg gerade kein Friede eintrete.


3. Die politisch-religiöse Endzeitideologie Hal Lindseys

Weil das ganze Land Israel allein gehöre, begrüßen viele christliche Zionisten die Siedlungspolitik Israels im Westjordanland, manche auch eine Umsiedlung der arabischen Bevölkerung, um sie aus dem Israel zugesprochenen Land zu entfernen. Sie stehen damit dem rechtsnationalen politischen Spektrum in Israel nahe. Die Einwanderung von Jüdinnen und Juden nach Israel und der Siedlungsbau in den besetzten Gebieten werden mit politischer Lobbyarbeit und erheblichen finanziellen Mitteln gefördert. Angestrebt wird die Rückkehr aller Jüdinnen und Juden nach Israel, womit nach der dahinter stehenden heilsgeschichtlichen Deutung der Weltgeschichte das gegenwärtige Zeitalter seinen Höhepunkt erreiche.

Die Gründung des Staates Israel im Jahr 1948 wird von den christlichen Zionisten als ein göttlicher Triumph gefeiert, den sie in der Eroberung ganz Jerusalems 1967 bestätigt sehen. Beide Geschehnisse seien apokalyptische Zeichen für die Endzeit und die bevorstehende Wiederkunft Christi. Es wird behauptet, Gott habe Israel den Sieg im Krieg geschenkt.

Diese "Erfolge" führten zu einem Aufschwung der Endzeittheologie in den USA. Der schon genannte Prediger Hal Lindsey erreichte mit seinem Bestseller "The Late Great Planet Earth" (deutsch: "Alter Planet Erde, wohin? Im Vorfeld des Dritten Weltkriegs") in den frühen 70er Jahren Millionen von Menschen. Das Buch war das meistverkaufte Sachbuch seiner Zeit. Es wurde in 54 Sprachen übersetzt und auf Englisch über 35 Millionen Mal verkauft. Die Übersetzungen erreichten noch einmal 18 bis 20 Millionen Menschen.

Lindsey entwarf seine Glaubensanschauungen in den Spuren von Darbys heilsgeschichtlichen Epochen und deutete die biblischen Prophetien so, als sprächen sie von Ereignissen der Gegenwart. Der Kalte Krieg, der drohende Atomkrieg, der Kommunismus – das alles sei schon in der Bibel prophezeit, meinte Lindsey. Für ihn war klar: Das antichristliche Reich ist der Kommunismus. Dieser wird über Israel herfallen, und Europa wird kommunistisch werden. Die USA werden der letzte Hort der Freiheit sein. Sie haben einen Sonderstatus unter den Völkern, denn sie spielen eine entscheidende Rolle im Kampf gegen den Antichristen. Das Böse zeigt sich im säkularen, liberal-humanistischen Westen, der den Islam in seine Länder hineinlässt, so dass es zu einer Machtübernahme des Islam in Europa kommen wird. Der liberale westliche Säkularismus und der Islamismus sind die Feinde Israels und des gläubigen Amerika.

Um einmal einen Eindruck von Lindseys Denkweise zu vermitteln, zitiere ich hier aus dem 1991 in Deutsch erschienenen Buch "Der göttliche Supermarkt. Auf der Suche nach der Seele Amerikas" von Malise Ruthven2:

Lindseys Buch ist eine Mischung aus biblischem Epos, Science-fiction und Katastrophenfilm. Die erste Voraussetzung für die Erfüllung der Prophezeiungen ist demnach bereits dabei, sich zu erfüllen: "Das Volk der Juden wird seinen Staat wieder auf der alten Heimaterde in Palästina errichten", ein von "ungläubigen Juden durch irdische Anstrengung" vollbrachtes Werk. Nach der Wiederherstellung des Tempels beginnt der siebenjährige "Countdown" bis zum Entscheidungskampf in Harmagedon. Diese Schlacht wird von der "größten Vernichtung gekennzeichnet sein, die der Mensch je über sich gebracht hat. Die Menschheit wird am Rande der Selbstzerstörung stehen, wenn auf einmal Christus wiederkehrt, um dem Krieg aller Kriege, der Harmagedon heißt, ein Ende zu setzen." Danach folgt die Herrschaft des Antichristen, eines europäischen Diktators, der "die Regime von Hitler, Mao und Stalin im Vergleich dazu wie Pfadfinderinnen mit einem Kranz aus Gänseblümchen im Haar aussehen lassen wird". Dem Antichristen wird "absolute Macht und die Kraft des Satans verliehen sein". Der Antichrist wird den 144000 Juden den Krieg erklären, die sich zum Glauben bekehren lassen, Jesus sei der Messias. "144000 jüdische Billy Grahams werden auf der Erde losgelassen sein", schreibt Lindsey. "Nie zuvor wird die Erde eine Zeit der Evangelisierung wie diese erlebt haben." Die wiedergeborenen Christen werden dann bereits verschwunden sein, da sie "entrückt" sind, also körperlich durch die Luft davongetragen wurden. "Ohne Zutun der Wissenschaft, ohne Raumanzüge oder interplanetare Raketen werden manche zu einem herrlichen Ort befördert werden, schöner und gewaltiger, als wir es je begreifen können." Eine Beschreibung dieser erstaunlichen Begebenheit legt Lindsey einem Augenzeugen in den Mund: "Als ich gerade auf der Schnellstraße fuhr, geriet ich auf einmal in einen wahren Hexenkessel. Plötzlich begannen viele Autos ziellos durcheinander zu fahren, und in keinem einzigen saß ein Fahrer. Ich meine, es war einfach verrückt. Ich dachte, da wäre eine Invasion der Außerirdischen im Gange." Aufkleber auf Autos in Dallas und anderen Städten des Südens verkünden oft Botschaften wie ACHTUNG: FAHRER LÖST SICH BEI ENTRÜCKUNG IN LUFT AUF.

Man fragt sich nicht nur, woher Lindsey das alles weiß, sondern auch, wie er die angebliche Alternativlosigkeit dieser apokalyptischen Katastrophen und ihres millionenfachen Leids mit der Barmherzigkeit Gottes und dem heilenden, Frieden schaffenden Handeln Jesu zusammenbringt. Sein Denken zeigt deutlich, wo es enden kann, wenn man biblische Prophetien unhistorisch einfach auf gegenwärtige Ereignisse bezieht: Die politische Ideologie hat dann bereits die Oberhand über die biblischen Prophetien gewonnen.


4. Der Nahostkonflikt als Spielball religiöser und politischer Interessen

Von einer in der Tradition Hal Lindseys stehenden Endzeittheologie und einem christlichen Zionismus wurde zunächst in den USA, dann aber auch weltweit in Teilen der Christenheit der Nahostkonflikt befeuert. Für weite Teile der evangelikalen Christenheit in den USA wurde die Gegenwart als Endzeit und das Schicksal Israels als Heilsgeschichte verstanden. Der große Krieg Harmageddon werde als Kampf um Israel stattfinden, und darum müsse er auch mehr oder weniger geschürt werden, wobei die Christen an der Seite Israels stehen müssten. Gottes Plan sei die Scheidung zwischen Juden und Muslimen. Deshalb widerspreche es Gottes Plan, eine Versöhnung zwischen Juden und Muslimen anzustreben und etwa einen Friedensplan für den Nahostkonflikt zu entwickeln. Eine Zwei-Staaten-Lösung sei aussichtslos und gegen Gottes Willen, denn Gott habe Israel das ganze Land gegeben.

Der amerikanische Präsident George Bush senior hat noch versucht, zwischen Israel und den Palästinensern zu vermitteln, sein Sohn George W. Bush junior nicht mehr. Es gibt in der evangelikalen Christenheit der USA die Einstellung, Gott habe Amerika gesegnet, weil Amerika die Juden gesegnet habe, und wenn Amerika nicht mehr an der Seite Israels stehe, werde Gott Amerika strafen. Viele christliche Lobbygruppen mit Millionen von Mitgliedern, die Namen tragen wie "Christians united for Israel", untersuchen angehende Politiker daraufhin, ob sie für Israel sind oder nicht.

Bei den US-Republikanern kann man heute offenbar nicht mehr politisch Karriere machen, wenn man nicht für Israel ist. Das heißt, dass es wohl keine rein säkulare konservative Rechte in den USA mehr gibt. Donald Trump verspricht, dass er die Ziele der Religiösen zu seinen eigenen machen werde. Dementsprechend hat er als Präsident die US-Botschaft nach Jerusalem verlegt. Mike Pompeo, Außenminister unter Trump, sagte, das Völkerrecht sei keine Grundlage für die Lösung des Nahostkonflikts. Dahinter steht die religiöse Auffassung, dass im Nahostkonflikt nicht das Völkerrecht gelte, sondern Gottes Wort.

Es lässt sich historisch nachweisen, dass die religiöse Rechte in den USA apokalyptisches und dualistisches, spaltendes Denken auf die politische Auseinandersetzung übertragen hat. Denn in den 70er Jahren wurden die genannten Einstellungen nur in der religiösen Rechten vertreten. Heute aber sind sie Allgemeingut der ganzen republikanischen Partei. Und aus den ehemals evangelikal-konservativen Subkulturen sind heute Mehrheitskulturen in den ländlichen Regionen der USA geworden. Die Städte sind in deren Sicht dem Unglauben preisgegeben. Zwei Kulturen, Schwarz und Weiß, Licht und Finsternis stehen einander feindselig und unversöhnlich gegenüber.

Auch in Israel selbst gibt es in der religiösen Rechten keinen Glauben an ein Einvernehmen zwischen Juden und Palästinensern mehr. Stattdessen wird die Ansicht vertreten, Groß-Israel sei Gottes Verheißung. Gott habe den israelischen Ministerpräsidenten Ariel Sharon (1928-2014), der Gebiete an die Palästinenser abgeben wollte, ins Koma fallen und Jitzchak Rabin (1922-1995), der den Friedensprozess mit den Palästinensern vorantrieb, ermorden lassen. Ebenso sei der Mord an dem ägyptischen Präsidenten Anwar el-Sadat (1918-1981), der den Friedensvertrag zwischen Israel und Ägypten aushandelte, Gottes Wille gewesen.

Politische Gewalt wird auch damit gerechtfertigt, dass es im politischen Bereich nicht um Friedenslösungen gehe, sondern um einen starken Staat und eine schlagkräftige Armee. Frieden sei etwas für den privaten Bereich, aber für die Weltgeschichte gelte nach Gottes Willen keine andere Sprache als die der Macht und Gewalt.

Viele dieser Ansichten werden auch von evangelikalen Christen in Deutschland vertreten.  Einseitig werden israelische Interessen verfolgt, ebenso einseitig wird nur die Gewalt der Hamas und anderer Gruppen angeprangert – die gängige politische Polarisierung, die nur Freund und Feind, Gute und Böse kennt. Gutes und Böses werden dabei nur auf jeweils einer Seite gesehen, anstatt die Gewalt und den Hass auf beiden Seiten zu verurteilen. Wenn Israel Gewalt anwende, so wird gesagt, dann sei das alternativlos.

Zuweilen wird das dadurch erzeugte Leid zwar bedauert, aber sogleich hinzugefügt, dass Israel keine andere Möglichkeit habe, als auch unschuldigen Menschen Leid zuzufügen. Hamasführer werden mit dem Teufel gleichgesetzt, ihnen wird also das Menschsein abgesprochen. Folglich braucht man sich über Gottes Barmherzigkeit mit von ihm abgefallenen Menschen keine Gedanken mehr zu machen. Im Zeichen angeblich bibeltreuer Frömmigkeit wird Gewalt verherrlicht und Hass verbreitet, ohne die gänzlich anders geartete Friedensbotschaft Jesu auch nur ansatzweise zu bedenken.


5. Theologische Einordnung des christlichen Zionismus

Ich finde es erschreckend, wie im christlichen Zionismus christlicher Glaube von politischer Ideologie überdeckt und vereinnahmt wird und welches Leid daraus entsteht. Ich möchte deshalb anhand der folgenden vier Kritikpunkte zeigen, dass der christliche Zionismus in der Form, wie ich ihn beschrieben habe, biblisch und theologisch äußerst fragwürdig ist.


a) Bibelverständnis

Der christliche Zionismus wirft einen unhistorischen Blick auf die Bibel und tut so, als wäre sie heute entstanden und würde uns die gegenwärtige Weltlage erklären und die unmittelbare Zukunft voraussagen. Die biblischen Schriften werden ihrem zeitgeschichtlichen Horizont entnommen und in unseren gegenwärtigen Horizont versetzt. Das hat beim Lesen der Bibel den Vorteil, dass die biblischen Aussagen unmittelbar einleuchtend erscheinen und vorgeblich ein Schlüssel gefunden ist, der uns die gegenwärtige Geschichte verstehen lässt.

So kann man zum Beispiel das Tier, von dem in Offenbarung 13,14 gesagt wird, dass es zu den Bewohnern der Erde spricht, auf das Radio, Fernsehen und Internet beziehen. Eine historische Auslegung hingegen stellt den biblischen Text in die geschichtlichen Entwicklungen hinein, in denen er entstanden ist. Das Tier symbolisiert dann die religiöse Propaganda im römischen Weltreich, die zur Verehrung des Kaisers als Gott aufrief. Und die Gegenwartsbedeutung einer solchen Aussage besteht darin, dass keiner politischen Institution göttliche Würde zukommt und keine wie immer geartete weltliche Herrschaft absolute Gefolgschaft beanspruchen darf. Eine Reduzierung der Textbedeutung auf Radio, Fernsehen und Internet ist nicht nur vollkommen unhistorisch, sondern wird auch dem Anliegen des Textes nicht gerecht.

Die biblischen Schriften haben zuerst in ihre jeweilige Zeit hinein gesprochen und sind nicht zuerst für uns im 21. Jahrhundert geschrieben. Der Verfasser der Johannnesoffenbarung hat von Radio, Fernsehen und Internet nichts gewusst. Die Propheten des Alten Testaments haben keinen Ton gesagt über weltgeschichtliche Ereignisse und Entwicklungen wie die Entstehung des Islam, die Reformation, die Aufklärung, die Industrialisierung, die beiden Weltkriege und den Nahostkonflikt. Sie haben von alldem offenbar nichts gewusst.

Im Neuen Testament wird festgehalten, dass in Jesus Christus alle Verheißungen des Alten Testaments erfüllt sind (2Kor 1,19f). Es ist daher unnötig, nach der Erfüllung alttestamentlicher apokalyptischer Verheißungen in der jeweiligen Gegenwart zu suchen.

Abzulehnen ist deshalb die Aussage, man lebe in der Endzeit, und das Ende sei nah. Diese Aussage ist in der Kirchengeschichte schon unzählige Male getroffen worden, ohne dass das angeblich nahe Ende eingetreten ist. Wir können davon ausgehen, dass mit dem Kommen Jesu Christi eine Zeitenwende eingetreten ist und die Endzeit begonnen hat. Doch wie lange sie dauert und wann das Ende tatsächlich kommt, ist uns nach Jesu Wort verborgen (Mk 13,31f).

Hinzu kommt, dass die christliche Apokalyptik eine Trostlehre in einer Zeit war, in der man unter der Weltmacht Rom litt und ein christliches Martyrium nicht ausgeschlossen war. Die Apokalyptik wollte also keine Endzeitereignisse voraussagen. Sie wollte nicht dazu führen, dass man sich resigniert oder scheinbar gottergeben mit den gottlosen Gegebenheiten der Welt abfindet, sondern dass man vom endgültigen Sieg Christi über die gottlosen Weltmächte her diesen Mächten Widerstand entgegenbringt. Sie wollte sagen, dass die in der Welt Gerichteten im Reich Christi richten, die hier Gestorbenen dort leben und die jetzt Unterlegenen einst herrschen werden. Das tausendjährige Reich Christi galt als göttliches Gegenbild zum gottlosen Rom. Es war eine Märtyrerhoffnung und nicht die Vision einer jüdischen oder christlichen Weltherrschaft.


b) Biblische Landverheißungen

Wie bereits deutlich geworden ist, beruft sich der christliche Zionismus auf die alttestamentlichen Verheißungen Gottes, die Israel ein eigenes Land zusagen. Im Neuen Testament spielen das Land und die Landverheißung an Israel keine hervorgehobene Rolle. Aus dem Alten Testament kann man zum Beispiel folgende Bibeltexte anführen:

All das Land, das du [Abram] siehst, will ich dir und deinen Nachkommen geben für alle Zeit und will deine Nachkommen machen wie den Staub auf Erden.
(1Mo/Gen 13,15f)

An dem Tage schloss der Herr einen Bund mit Abram und sprach: Deinen Nachkommen gebe ich dies Land von dem Strom Ägyptens an bis an den großen Strom, den Euphrat.
(1Mo/Gen 15,18)

Die erste Verheißung ist sehr allgemein gehalten, und die Grenzen des Landes werden nicht genannt. Die zweite Verheißung verortet das Land Israels vom Nil bis an den Euphrat. Eine solche Ausdehnung hat der Staat Israel nie gehabt. Andere Bibelstellen geben andere Grenzen des Landes an. Es lässt sich also festhalten, dass die Größe des Landes Israel in der Bibel unterschiedlich bestimmt wird und die Aussage, das ganze Land gehöre Israel, deshalb ungenau ist. Feste Grenzen des Israel zustehenden Landes lassen sich biblisch nicht begründen.


c) Gottesverständnis

Wie schon angedeutet, führt die Vorstellung von einem nach strengen Vorgaben ablaufenden Geschichtsplan dazu, Voraussetzungen zu schaffen, die erfüllt sein müssen, damit Jesus wiederkommen kann. Solange demnach bestimmte geschichtliche Ereignisse nicht eingetroffen sind, kann Gott sein Heilswerk nicht vollenden. Darum muss alles nach einem festgelegten Plan ablaufen, den man für göttlich hält. Gott wird dadurch in ein System gepresst und verliert seine Handlungsfreiheit. Es ist ihm auch nicht möglich, ein beschlossenes Unheil zu bereuen und stattdessen Heil zu gewähren, wie es mehrfach im Alten Testament berichtet wird (z.B. Jon 3,10; siehe hierzu den Artikel Ein Prophet zweifelt an Gottes Gerechtigkeit).


d) Ethik

Im christlichen Zionismus wird behauptet, im politischen Bereich müsse Gott irdische Macht erringen und Gewalt anwenden, um sich durchzusetzen. Ein friedliches Miteinander gebe es zwar im Privatbereich, nicht aber in der Politik. Das ist ein vereinfachtes Verständnis von Martin Luthers sogenannter Zwei-Reiche-Lehre (siehe dazu den Artikel Martin Luthers Zwei-Reiche-Lehre).

Diese Lehre Luthers ist in der evangelischen Theologie umstritten. Denn wenn sie verallgemeinert und absolut gesetzt wird, führt sie leicht zu politischer Lieblosigkeit. Diese kann sich in einer Gleichgültigkeit gegenüber dem durch Macht und Gewalt bewirkten Leid zeigen. Denn wenn man Macht und Gewalt in jeder Form als gottgegeben hinnimmt, lässt man sich nicht berühren von dem durch sie verursachten Leid und leistet auch keinen Widerstand gegen unnötig verursachtes Leid.

Gott will aber nicht nur unser Privatleben, sondern unser ganzes Leben bestimmen. In allen Lebensbereichen sollen wir Jesus nachfolgen. Darum sagte Jesus (Mt 22,37):

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben mit deinem ganzen Herzen und mit deiner ganzen Seele und mit deinem ganzen Denken.

Nicht nur ein Teil unseres Lebens soll unsere Liebe zu Gott zum Ausdruck bringen, sondern unser ganzes Leben in allen seinen Dimensionen: unser Fühlen und Wollen (Herz), unsere ganze kreatürliche Lebenskraft (Seele) und unsere Rationalität (Denken)3. Die politische Dimension ist davon nicht ausgenommen. Und darum gilt auch in der politischen Dimension das Gebot der Nächstenliebe, das Jesus dem der Gottesliebe gleichgestellt hat (Mt 22,39):

Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst.

Wenn von der Nächstenliebe – bewusst oder unbewusst – abgesehen wird, droht im politischen Denken und Handeln die Ideologie das Regiment zu übernehmen. Es herrscht dann ein Freund-Feind-Denken vor mit der daraus resultierenden verheerenden Polarisierung von guten und bösen Menschen. Darum wird der Böse gern mit dem Antichrist oder dem Teufel gleichgesetzt, der natürlich nichts Gutes an sich haben kann.

Eine solche Polarisierung erlaubt zum einen eine einfache Positionierung, weil ja immer klar ist, wer der Gute und wer der Böse ist. Sie erlaubt zum anderen, sich selbst zu den Guten zu zählen, weil man ja davon überzeugt ist, auf der Seite des eindeutig Guten zu stehen. Dass beide Seiten Böses tun, aber auch Potentiale des Guten in sich tragen, dass Gott auch dem Bösen gnädig sein und ihn zum Guten bewegen kann und dass der Böse bei aller Verwerflichkeit seines Handelns ein geliebtes Geschöpf Gottes bleibt und niemals zum Teufel wird, kommt nicht in den Blick.

Daraus entsteht eine unbarmherzige Alternativlosigkeit: Man wähnt sich auf der Seite des Guten, der, auch wenn er brutale Gewalt anwendet, der Gute bleibt und immer bleiben wird. Seine Gewalt wird gerechtfertigt, weil sie vielleicht zwar bedauerlich, aber angeblich alternativlos sei. Das ist keine christliche Nächstenliebe, sondern christlich verbrämte Ideologie. Denn Jesus wusste nichts von alternativloser Gewaltanwendung. Er predigte und lebte im Gegenteil konsequente Gewaltvermeidung – so konsequent, dass er selbst lieber Gewalt hinnahm als anderen Gewalt zuzufügen und gerade darin die alttestamentlichen Schriften erfüllt sah (Mt 26,51-54).

Die scharfe Trennung und Polarisierung zwischen Guten und Bösen widerspricht zudem Jesu Wort vom Splitter und Balken (Mt 7,3-5):

Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, des Balkens jedoch in deinem Auge wirst du nicht gewahr? Oder wie kannst du zu deinem Bruder sagen: Halt, ich will den Splitter aus deinem Auge ziehen; und siehe, in deinem Auge ist der Balken? Du Heuchler, ziehe zuerst den Balken aus deinem Auge, und dann magst du zusehen, dass du den Splitter aus deines Bruders Auge ziehst.

Dieses Wort macht zunächst deutlich, dass jeder Mensch Anteile des Bösen in sich trägt. Es weist sodann darauf hin, dass wir das Böse beim anderen immer stärker wahrnehmen als bei uns selbst. Schließlich ermahnt es uns, soweit wie möglich zuerst das Böse bei uns selbst zu beseitigen und erst dann zur Beseitigung des Bösen beim anderen beizutragen. Die Gut-Böse-Polarisierung zwischen Israel und den Palästinensern, bei der christliche Zionisten das Gute gern allein bei Israel und bei sich selbst verorten, wird all dem nicht gerecht.

So wird dem christlichen Zionismus auch vorgeworfen, dass er Juden und Araber nicht als gleichberechtigte Menschen betrachte. Es sei ungerecht, einer Menschengruppe alles Recht auf ein Land zuzusprechen und einer anderen dieses Recht vollends zu verweigern. Der christliche Zionismus sei deshalb friedensunfähig und vertrete eine extrem rassistisch einseitige Position.

Ein weiterer Kritikpunkt lautet, dass der christliche Zionismus auch dem Volk Israel nicht gerecht werde. Denn die Förderung Israels diene nur dem Ziel, die Endzeitereignisse herbeizuführen. Das Volk Israel und seine Geschichte hätten dabei keinen Eigenwert. Das irdische Jerusalem werde instrumentalisiert, weil es lediglich dazu diene, das himmlische Jerusalem zu ermöglichen.

So zieht eine Orientierungshilfe der Evangelischen Kirche in Deutschland folgendes Resümee4:

– Judentum und Staat Israel sind für den "christlichen Zionismus" nur Instrumente zur Herbeiführung eschatologischer Geschehnisse. Dem Judentum wird kein eigener Wert zugestanden. Das Recht einer jüdischen Existenz in der Diaspora wird bestritten. Dies ist im Kern judenfeindlich [...].
– Nach dem "christlichen Zionismus" haben Nichtjuden kein Lebensrecht im Land Israel oder dürfen nur als land- und rechtlose Beisassen dort wohnen. Das verletzt den biblischen Wert der Gerechtigkeit und grundlegende Menschenrechte.
– Damit negiert der "christliche Zionismus" auch das Existenzrecht der Kirchen in dieser Region und ist nicht ökumenisch und geschwisterlich.
– Die Lehren und die Praxis des "christlichen Zionismus" wirken konfliktverschärfend und widersprechen der biblischen Botschaft von Versöhnung und Feindesliebe.

Das mag nicht das Anliegen aller christlichen Zionisten sein. Es sollten sich aber alle christlichen Zionisten die Frage stellen, ob ihre Sicht wirklich der biblischen Botschaft entspricht, insbesondere den alttestamentlichen Landverheißungen und der Ethik Jesu. Und sie sollten sich fragen, ob ihre Sicht der Dinge, wenn man sie zu Ende denkt und danach handelt, nicht Konsequenzen mit sich bringt, die von ihnen nicht gewollt sind und in der Nachfolge Jesu auch nicht gewollt sein können.


* * * * *


Quellennachweise:
1 Als Grundlage dieses Artikels diente mir der Podcast "Der christliche Zionismus" aus der Reihe "Das Wort und das Fleisch" mit Thorsten Dietz und Martin Christian Hünerhoff: https://wort-und-fleisch.de/der-christliche-zionismus/. Zu diesem Podcast von mehr als zwei Stunden Länge habe ich noch die genannten weiteren Quellen hinzugezogen.
2 Siehe http://www.payer.de/fundamentalismus/fundamentalismus063.htm. Dort zitiert nach: Malise Ruthen: Der göttliche Supermarkt. Auf der Suche nach der Seele Amerikas. S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 1991. S. 327.
3 Siehe Walter Klaiber: Das Matthäusevangelium. Teilband 2: Mt 16,21-28,20. Neukirchener Verlagsgesellschaft. Neukirchen-Vluyn 2015. S. 131.
4 Siehe Kirchenamt der Evangelischen Kirche in Deutschland (Hg.): Gelobtes Land? Land und Staat Israel in der Diskussion. Eine Orientierungshilfe. Gütersloher Verlagshaus, Gütersloh 2012. S. 84f. Download als PDF unter https://www.ekd.de/Fussnoten-647.htm.

Weitere verwendete Quellen:
  • https://de.wikipedia.org/wiki/John_Nelson_Darby
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Brüderbewegung
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Scofield-Bibel
  • https://de.wikipedia.org/wiki/Dispensationalismus
  • Boyer, Paul S.: Chiliasmus. IV. Nordamerika. In: Religion in Geschichte und Gegenwart.  Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. von Hans Dieter Betz u.a. Bd. 2. Verlag Mohr Siebeck. 4. Aufl. Tübingen 1999. Sp. 140f.
  • Callahan, James P.: Darby, John Nelson. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2 (siehe oben). Sp. 579.
  • Callahan, James P.: Darbysten (Plymouthbrüder). In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Bd. 2 (siehe oben). Sp. 579-581.
  • Klauck, Hans-Josef: Antichrist. I. Neues Testament. In: Religion in Geschichte und Gegenwart. Handwörterbuch für Theologie und Religionswissenschaft. Hg. von Hans Dieter Betz u.a. Bd. 1. Verlag Mohr Siebeck. 4. Aufl. Tübingen 1998. Sp. 531f.
  • Roloff, Jürgen: Die Offenbarung des Johannes. Zürcher Bibelkommentare. Theologischer Verlag Zürich. 2. Aufl., Zürich 1987.

Foto: wal_172619 auf Pixabay.




4 Kommentare
Jochen
2024-09-27 11:14:27
Hallo Klaus,
geht denn nicht auch Paulus in 2. Thess. 2,4 auf den Antichristen (Widersacher) ein?

Eigentlich sollten sich doch alle Christen (inklusive die EKD) die Frage stellen, ob ihre Sicht wirklich der biblischen Botschaft entspricht, insbesondere der Ethik Jesu. Und eigentlich wird doch jeder Mensch guten Willens bestrebt sein die Konsequenzen seiner Handlung bedenken.

Indem Deine Darstellung auf die Einbettung in die politische Situation im 19. und 20. Jh. und 21. Jh. verzichtet, entsteht ein sehr irrationales Bild der US-Nahostpolitik auf die Zeit, die ich selbst überblicken kann.
Ein Motiv für christlichen Zionismus kann auch sein, dass die großen "Alija-Wellen", also die Rückkehr-Bewegung der Juden in ihr Land, eigentlich immer durch Progrome weltweit, aber hauptsächlich in Europa ausgelöst wurden (Eine Ausnahme wäre die Rückkehr vieler nach dem Zusammenbruch der Sowjet-Union). Da haben wir und unsere Vorfahren, die (Heiden-)Christen, viel Schuld auf uns geladen.
Ein anderes meiner Meinung völlig unterschätztes Motiv wäre die Tatsache dass Jesus selbst Davidide ist und nicht etwa, wie schon Arafat behauptete, Palästinenser. In praktisch allen Konfessionen wird das höchstens zu Weihnachten beiläufig erwähnt und sonst übergangen. Leider hat etwa der ev. Kirchentag ein klärungsbedürftiges Verhältnis zu messianischen Juden.
2024-09-27 16:40:10
Hallo Jochen,

danke für deine Ergänzungen und Anfragen. Ich bin wie du der Ansicht, dass alle Christinnen und Christen und vor allem die kirchlichen Amtsträger und Funktionäre ihre Sicht beständig an der biblischen Botschaft und Ethik Jesu überprüfen sollten und habe deshalb in diesem Blog auch immer wieder Kritik an gegenwärtigen Entwicklungen innerhalb der Christenheit und an Haltungen der offiziellen Kirche geübt. Dass "jeder Mensch guten Willens" die Konsequenzen seiner Handlungen bedenkt, sollte man zwar meinen, ist aber nicht wirklich die Regel. Sonst gäbe es nicht die Fülle an Leid, das von Menschen über Menschen gebracht wird, und dabei ist die Christenheit nicht ausgenommen. Leider ist mein Eindruck, dass der biblischen Botschaft oft nicht das Gewicht gegeben wird, das ihr zukommt. Das gilt auch, aber nicht nur für extreme Formen des christlichen Zionismus. Weil es in meinem Artikel um diesen geht, habe ich es an dieser Stelle ihm ans Herz gelegt, seine Anschauungen an der biblischen Botschaft und Ethik Jesu zu messen. Wie schwierig das zu sein scheint, sieht man schon daran, dass der christliche Zionismus sich ja ausdrücklich auf die Bibel beruft. Aber das gilt nicht nur für den christlichen Zionismus, sondern für sehr viele religiöse Anschauungen: Menschen berufen sich auf die Bibel, aber ist es wirklich die Bibel, die ihr Denken und Handeln bestimmt?

Dass die Christenheit gegenüber den Juden viel Schuld auf sich geladen hat, ist unbestreitbar. Dass Jesus Jude war auch. Letzteres ist auch in der evangelischen Kirche in den letzten Jahrzehnten sehr stark betont worden - bis hin zu der These, dass Jesus der Messias aus den Juden für die Heiden sei und Juden ihn nicht als Messias annehmen müssten. Vielleicht kennst du diese Diskussion mit vielen Stellungnahmen der Landeskirchen, was dann auch zu einem klärungsbedürftigen Verhältnis zu den messianischen Juden führte, wie du zu recht schreibst.

Ich weiß nicht so recht, was du mit der Einbettung in die Politik des 19., 20. und 21. Jahrhunderts meinst. Ich habe ja auf einige politische Hintergründe im Zusammenhang mit Darby und Lindsey hingewiesen. Natürlich könnte man dazu noch weit mehr sagen, aber das würde den Umfang des Artikels sprengen. Wenn du noch auf einige wichtige Ereignise hinweisen möchtest, wäre das sicher interessant.

Nun zu 2Thess 2: Ich habe mich im Artikel auf den Begriff "Antichrist" beschränkt. In 2Thess werden verschiedene andere Begriffe verwendet: "Mensch der Gesetzlosigkeit", "Sohn des Verderbens", "Widersacher", "der Gesetzlose". Zuweilen werden beide Figuren in 2Thess und 1/2Joh miteinander identifiziert. Sie werden aber in den Briefen unterschiedlich beschrieben. Ich denke, die Frage, ob sie identisch sind, muss letztlich offen bleiben. Wichtiger finde ich, dass es diese Figuren gibt, dass die Christinnen und Christen sich darauf einstellen und dass sie an Glaube, Hoffnung und Liebe festhalten, auch wenn sie dafür selbst ins Leid gehen müssen. Ich denke, das ist auch der Sinn der Ausführungen in 2Thess 2 (siehe Verse 1-3 sowie 13-17).

Vielleicht kann man auch sagen: Jede Zeit hat den ihr eigenen Antichristen bzw. Widersacher. Aus heutiger Sicht kann man den Antichristen/Widersacher oder vielleicht besser gesagt: das Antichristliche/das Gott Widerstrebende schon in manchen Gestalten und Bewegungen der Geschichte finden. Man muss allerdings vorsichtig sein, wenn man einzelne Menschen mit diesen Titeln belegt. Für Martin Luther war der Papst der Antichrist. Vielleicht war das zu seiner Zeit berechtigt, aber heute würden wir das ja nicht mehr so sagen. Und wenn heute vom christlichen Zionismus Hamas-Führer mit dem Teufel gleichgesetzt werden, finde ich das auch schwierig.
Jochen
2024-09-29 12:43:56
Hallo Klaus,
politisch zu bedenken wäre z. B. die Annäherung zwischen Israel und den Vereinigten Arabischen Emiraten (Abraham-Abkommen) unter der US-Nahostpolilik der Trump-Administration, und im Nachgang an Saudi-Arabien vor dem 7. Oktober.

Ich fragte mich wer denn gegenwärtig ein typischer Repräsentant für den von Dir beschriebenen christlichen Zionismus sein könnte. Trump halte ich eher für einen Geschäftsmann (positiv wie negativ) als für einen religiösen Führer. Meine Frau und ich, wir haben uns gerne schon die Vorträge von Roger Liebi angehört, der die Apokalypse ähnlich thematisiert wie in Deinem Text beschrieben. Allerdings kann man Liebi nicht vorwerfen, einen unhistorischen Blick auf die Bibel zu haben (als wäre sie heute geschrieben), da er auch archäologische Befunde verwendet und ein großes vor Ort erworbenes Fachwissen darin hat, fließend hebräisch spricht. Seine Gemeindetheologie umgeht geschickt die ganze Kirchengeschichte bis Luther, was uns als Katholiken jedoch nicht daran hindert ihm gerne zuzuhören, zumal er als Schweizer das sehr unterhaltsam macht. Also eher Ökumene statt "Brandmauer", wenn ich das so sagen darf.

Liebi verwendet wenn ich mich recht erinnere auch den Propheten Daniel und die darin enthaltene Apokalypse. In Dan 12 heißt es "In jener Zeit tritt Michael auf, der große Engelfürst, der für die Söhne deines Volkes eintritt. Dann kommt eine Zeit der Not, wie noch keine da war, seit es Völker gibt, bis zu jener Zeit." Ich finde es bemerkenswert dass der Erzengel Michael eigentlich der Beschützer Israels ist. Das zeigt doch eigentlich schon, dass man als Mensch die in der Bibel beschriebenen Dinge selbst nicht ganz herbeiführen kann. In der katholischen Kirche ist heute übrigens das Fest der Erzengel.
2024-09-29 21:16:32
Hallo Jochen,

mir ist deine letzte Bemerkung wichtig, dass man als Mensch die in der Bibel beschriebenen Dingen nicht ganz herbeiführen kann - eigentlich sogar ohne das "ganz". Wir können als Menschen doch nur an Gottes Werk mitarbeiten, sofern er uns die Gnade widerfahren lässt, uns in Dienst zu nehmen.

Wenn man sich von Gott in Dienst nehmen lässt, kann das doch aber nur heißen, an seinem Friedensreich mitzuwirken. Von vielen christlichen Zionisten wird das aber sehr eigenwillig interpretiert, nämlich so, wie ich es im Artikel beschrieben habe. Es wirkt nicht sehr friedlich, wenn man jedem Bombenangriff Israels mit zivilen Opfern mehr oder weniger applaudiert, während die Angriffe von schiitischer Seite auf Israel und deren relativ wenige zivile Opfer aufs Schärfste verurteilt werden. Um nicht missverstanden zu werden: Jedes zivile Opfer auf Israels Seite ist eins zu viel, und der Angriff vom 7. Oktober war verheerend und muss aufs Schärfste verurteilt werden. Mir tut es auch nicht um die jetzt getöteten Hamas- und Hisbollah-Führer leid, aber um die zivilen, unschuldigen Opfer - und zwar auf beiden Seiten.

Am christlichen Zionismus stört mich die Einseitigkeit des Mitleids. Um deine Frage zu beantworten, wen ich konkret mit dem christlichen Zionismus meinte: Er wird im Protestantismus von Teilen der Evangelikalen und Pietisten vertreten. Hier in meiner Gegend gibt es davon sehr viele; es war im 19. Jahrhundert Erweckungsgebiet. Damit will ich nicht die Erweckung schlechtreden und auch nicht alle Evangelikalen anprangern. Aber den beschriebenen extremen und einseitigen Zionismus kann ich weder für biblisch begründet noch für ethisch gerechtfertigt halten.

Trump ist bestimmt kein christlicher Zionist, sondern er versucht, unter den Evangelikalen der USA Stimmen zu gewinnen. Das Abraham-Abkommen wurde offenbar viele Jahre lang vorbereitet, so dass sein Abschluss nicht Trump zu verdanken ist, wenngleich sein Schwiegersohn und Außenminister Pompeo sich stark dafür einsetzten. Aber wohl nicht um des Friedens willen, sondern um vor den Präsidentschaftswahlen 2020 noch einen außenpolitischen Erfolg vorweisen zu können (siehe https://www.bundeswehr.de/de/organisation/weitere-bmvg-dienststellen/zentrum-innere-fuehrung/unsere-angebote/if-zeitschrift-fuer-innere-fuehrung/-fuer-die-abraham-abkommen-gab-es-amerikanische-gegenleistungen--5043646).

Die Vorträge Liebis kenne ich nicht und kann dazu auch nichts sagen. Ich möchte aber auch noch einen Artikel über die Apokalyptik schreiben und hoffe, bald dazu zu kommen.
Theologische Einsichten für ein gutes Leben
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