Das Wunder der Liebe
Wie zwei Unbekannte meinen Tag bereicherten
Klaus Straßburg | 01/02/2024
Ich hatte nur eine kurze Strecke mit der Deutschen Bahn zurückzulegen. Der Zug war wegen des Streiks der Lokführer überfüllt, aber ich fand noch einen freien Sitzplatz.
Mir gegenüber saß ein junges Paar, beide nach meinem Eindruck gut 20 Jahre alt: ein großer Mann mit blonden, etwas wilden Locken und einem Gesicht, das mit roten Pusteln und Narben überhäuft war. Neben ihm eine zierliche Frau mit rot gefärbten Haaren, die glatt über ihre Schultern fielen, sehr langen Fingernägeln in derselben Farbe und hübschem Gesicht.
Erst als sie ein Gespräch begannen, bemerkte ich ihre ausländische Herkunft. Sie unterhielten sich in einer Sprache, die nach russisch oder ukrainisch klang. Ich vermutete, dass sie aus der Ukraine kamen und vor dem Krieg geflüchtet waren.
In mir stieg Freude auf über diese Liebe,die so schön war und stärker als der Streit
Es blieben mir einige Minuten Zeit, ihre Unterhaltung zu verfolgen. Obwohl ich kein Wort verstand, nahm ich ihr Verhalten mit Interesse wahr. Weil der Inhalt des Gesprächs mir verschlossen blieb, achtete ich besonders auf den Tonfall, ihre Mimik und ihre Blicke. Dies alles brachte deutlich ihre Liebe zueinander zum Ausdruck. Ich freute mich darüber, wie das ganze Verhalten dieses jungen Paares von einer Sprache der Liebe geprägt war.
Doch dann änderte sich unerwartet der Tonfall. Die Stimmen wurden lauter und bestimmter, die Blicke distanzierter und die Mimik unfreundlicher. Die beiden hatten eindeutig eine Meinungsverschiedenheit. Der Blick der Frau verfinsterte sich zusehends, beide erregten sich immer mehr. Der Mann stellte den ruhigeren Part dar, die Frau redete mehr und eindringlicher, wandte sich schließlich von ihm ab und schaute aus dem Fenster.
Dennoch setzten sie das Gespräch fort, wenn auch in anderer Weise als zu Beginn. Die Frau stieß ihren Freund mit der Schulter an. Er sprach ein paar Worte und stieß zurück. Es war kein schmerzhaftes Stoßen, eher ein freundschaftliches, das aber ein ernstes Ungenügen ausdrückte.
Der Mann redete weiter, und ein leichtes Lächeln huschte über seine Lippen. Die Frau war noch verärgert und schaute ihren Freund mit einem langen, durchdringenden Blick an. Der Ton wurde langsam ruhiger, beide entspannten sich ein wenig. Der Mann lächelte sie an, wenige Sätze später musste auch die Frau lächeln. Es war ein verliebtes Lächeln.
In mir stieg Freude auf über diese Liebe, die so schön war und stärker als der Streit. Und darüber, dass ich diese Kraft der Liebe hatte miterleben dürfen. Und ganz einfach über das Wunder der Liebe, das zwei Menschen auf unerklärliche Weise miteinander verbindet. Und das für jeden, der Augen hat zu sehen, ein Zeugnis des unfassbar Schönen ist, das in uns Menschen hineingelegt ist.
Wie zutiefst menschlich ist es, diesen jungen Menschenihre Liebe zueinander und eine Zukunft zu ermöglichen
Ich malte mir aus: Vielleicht war der Mann vor dem Kampfeinsatz im Krieg aus der Ukraine geflohen; hatte seine Heimat verlassen, um nicht töten zu müssen oder sich töten zu lassen. Um nicht zum reißenden Tier zu werden. Und seine Freundin hat ihn aus Liebe begleitet. Hier waren beide sicher und konnten ihre Liebe leben.
Einmal mehr wurde mir klar: Ich würde nicht wollen, dass auch nur ein Liebespaar meinetwegen seiner Liebe beraubt wird, auch nur einer dieser jungen Männer für mich sterben muss – auch dann nicht, wenn mein eigenes geliebtes Land angegriffen würde.
Die beiden, die mir im Zug gegenüber saßen, waren gerettet. Aber wie viele werden nicht gerettet! Wie viele Familien und Paare werden auseinandergerissen, manche für immer!
Die Liebe der beiden weckt in mir den Gedanken: Wie gut, dass wir diesen Menschen Zuflucht gewähren. Welch ein Ausdruck von Nächstenliebe ist es, dass wir ihnen alles zur Verfügung stellen, was sie zum Leben brauchen, auch wenn es unseren eigenen Wohlstand ein wenig einschränken sollte. Wie zutiefst menschlich ist es, diesen jungen Menschen ihre Liebe zueinander und eine Zukunft zu ermöglichen, so wie es keinem jungen Menschen in der Welt jemals versagt sein sollte.
Diese beiden mir völlig unbekannten jungen Menschenhaben von der Liebe, die sie hier erfuhren, etwas zurückgegeben
Im 5. Buch Mose bzw. Deuteronomium 10,17-19 stehen folgende Worte:
Der HERR, euer Gott, ist der Gott der Götter, er ist der Herr der Herren. Er ist der große, mächtige Gott, vor dem man Ehrfurcht hat. Er kennt kein Ansehen der Person [...]. Er liebt die Fremden und versorgt sie mit Nahrung und Kleidung. Darum sollt auch ihr die Fremden lieben.
Wenn ich dieses Bibelwort lese, bin ich froh, in einem Land zu leben, das Fremde aufnimmt; Menschen, die in großer Not waren, von Tod und Zerstörung bedroht, und die nun von uns mit allem Lebensnotwendigen versorgt werden. Damit erweisen wir diesen Menschen einen Liebesdienst und gewähren ihnen die Chance, ihr Leben und ihre Liebe trotz allem zu leben.
Es ist unglaublich, was Liebe vermag: Diese beiden mir völlig unbekannten jungen Menschen, die bei uns mit Liebe aufgenommen wurden, haben mir allein dadurch, wie sie ihre Liebe zueinander zum Ausdruck brachten, die Schönheit und Kraft der Liebe vor Augen geführt. Sie haben von der Liebe, die sie hier erfuhren, etwas zurückgegeben – und meine nur wenige Minuten dauernde Zugfahrt reich gemacht.
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Foto: efes auf Pixabay.