Das Leben ist unberechenbar
Klaus Straßburg | 27/05/2021
Der Mai dieses Jahres ist wie das Leben: wechselhaft und unberechenbar.
Seit Wochen versuche ich, jeden Sonnenstrahl zu nutzen. Also habe ich es mir draußen bequem gemacht, sobald die Sonne schien. Doch oft kam es so: Kaum hatte ich mich eingerichtet, schoben sich schon wieder graue Wolken vor die Sonne, und es wurde ungemütlich und kalt. Also flüchtete ich nach drinnen.
War ich dann einige Minuten drinnen und blickte aus dem Fenster, schien schon wieder die Sonne. Ich also wieder raus. Kurz darauf aber wieder rein. Wie lange macht man das mit?
Nicht sehr lange. Also habe ich mir einen Trick ausgedacht: Bei Sonnenschein gehe ich raus. Verschwindet dann die Sonne, bleibe ich ruhig sitzen und halte die Kälte aus, bis die Sonne wieder scheint.
Okay, besonders originell ist der Trick nicht, aber er hilft trotzdem.
Manchmal funktioniert er sogar sehr gut: Ich halte die Kälte aus, und tatsächlich lugt die Sonne bald wieder zwischen den Wolken hervor. Dann gibt es sogar blaue Himmelslöcher zu bewundern. Wenn dann erneut Wolken den Himmel in Grau tauchen, muss ich wieder durchhalten bis zum nächsten Sonnenschein. So habe ich zwar keine durchgehende Sonne, aber zusammengerechnet doch ganz schön viel. Und ich sehe immer wieder in den blauen Himmel.
Manchmal allerdings funktioniert es nicht: Die Sonne verschwindet und taucht trotz allen Wartens nicht wieder auf. Der Himmel bleibt grau. Es wird richtig kalt. Dann bleibt mir nichts, als aufzugeben und mich enttäuscht nach drinnen zu verziehen.
Aber eigentlich wollte ich ja gar nicht über meine merkwürdigen Gewohnheiten schreiben, sondern über das Leben.
Im Leben ist nicht alles eitel Sonnenschein. Es kommen auch manch ungemütliche, graue und kalte Zeiten. Dann nützt es wenig, vor ihnen wegzulaufen. Denn wenn man dem Ungemütlichen unbedingt aus dem Wege gehen will, verpasst man oft auch das Schöne.
Dann hilft nur eins: Die ungemütlichen Zeiten durchstehen. Abwarten, bis es wieder besser wird. Denn es gibt das Schöne nicht ohne das Schwere.
Auch das ist keine besonders originelle Erkenntnis. Aber es hilft vielleicht, sich das immer mal wieder bewusst zu machen. Damit wir nicht vor lauter Angst vor dem Schweren das Schöne verlieren.
Beides gehört also zu unserem Leben. Schon der leidgeprüfte Hiob fragte: „Das Gute nehmen wir an von Gott, und das Böse sollten wir nicht annehmen?" (Hi 2,10)
Jetzt geh ich aber wieder rein. Ich habe diese Sätze draußen auf meinem Laptop geschrieben. Sonne gab es zwischendurch auch – aber ehrlich gesagt ziemlich wenig. 90 Prozent waren graue Wolken und kalter Wind.
Und doch hat es sich gelohnt, draußen zu bleiben. Denn die Luft war erfrischend, die Vögel zwitscherten in der Ferne und der Wind strich über mein Gesicht.
Und dieser Text wäre vielleicht nie entstanden, wenn ich nicht draußen ausgeharrt hätte.
* * * * *
die Frage aus meiner Sicht ist: wann entscheide ich mich zu gehen? Aufs Wetter bezogen ist das einigermaßen belanglos, wenn es zu sehr schüttet geht man halt wieder rein. Aber wie ist das in ernsten Situationen des Lebens?
Meine Beispiele:
1. Victor Klemperer (1881-1960, Romanist, 'Lingua tertii imperii' ( Genitiv :-) ) wog zusammen mit seiner Frau jahrelang ab, ob er - wie viele jüdische Bekannte und Verwandte - Deutschland verlassen sollte. Letztlich ist er trotzdem geblieben.
2. An den kältesten Stellen des Bayrischen Waldes gibt es manche sog. 'Wüstungen' - Orte, an denen früher Dörfer waren, die es heute nicht mehr gibt. Ich hab davon gelesen, dass es in dieser Gegend teilweise so kalt war, dass auf den Feldern das Getreide nicht ausgereift ist. Trotzdem sind viele Menschen lange geblieben, ehe die Ortschaft dann doch verschwand.
3. Horatio Spafford (1828-1888, 'It is well with my soul') und seine Frau hatten entsetzliche Schicksalsschläge zu verkraften, verloren bei einem Brand und einem Schiffsunglück alle ihre Kinder. Sie beschlossen die USA zu verlassen und in Jerusalem die 'American colony' zu gründen.
4. Jedes Jahr ziehen viele Menschen aus Deutschland weg, um in anderen Ländern ein neues Leben anzufangen, oft in der Hoffnung auf ein freieres Leben und bessere berufliche Verwirklichung.
Wenn also das Leben tatsächlich unvorhersehbar ist, so geht den Entscheidungen des Bleibens oder Gehens doch dennoch eine Phase oft intensiven Abwägens voraus.
du hast natürlich völlig Recht: Es gibt Situationen, in denen kann ein Neuanfang sehr hilfreich oder sogar geboten sein. Und dann ist die Entscheidung oft schwer, wann der Zeitpunkt dafür gekommen ist.
Sicher muss jeder Mensch hier seinen eigenen Weg finden, zu einer Entscheidung zu finden. Ich denke, da gibt es verschiedene Möglichkeiten: im Gebet um eine klare Entscheidungsfindung bitten; mit vertrauten Menschen sprechen; vielleicht (!) begegnet einem spontan ein Bibelwort, das weiterhilft; sich nicht allzu spontan entscheiden, sondern längere Zeit darüber nachdenken (wobei auch spontane Entscheidungen manchmal hilfreich sein können); die eigenen Gedanken dazu aufschreiben und von Zeit zu Zeit wieder nachlesen; ...
Ich persönlich verfahre immer so: Ich bete um Gottes Geleit, denke oft sehr lange über die anstehende Entscheidung nach und entscheide mich dann irgendwann im Vertrauen darauf, dass Gott mich durch meine Gedanken und Gefühle gelenkt hat. Oft war es auch so, dass die Unzufriedenheit mit einer bestimmten Situation und zugleich mein innerer Drang nach einer Veränderung extrem groß wurden. Das habe ich dann auch sozusagen als Fingerzeig Gottes interpretiert. Natürlich kann man sich nie sicher sein, ob Gott hier seine Finger im Spiel hat. Aber ich habe ihn dann weiterhin um Geleit gebeten, und bisher habe ich eigentlich keine wichtige Entscheidung in meinem Leben bereut.
Aber, wie gesagt, hier muss jeder Mensch seinen eigenen Weg finden.
Ich danke dir für deine wichtige Ergänzung und die Frage, die ich in meinem Artikel gar nicht angesprochen habe.